Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwaltsverschulden bei Versäumung der Berufungsbegründungsfrist. Computerpanne kurz vor Fristablauf
Leitsatz (redaktionell)
Einem Rechtsanwalt, der kurz vor Ablauf der Brufungsbegründungsfrist feststellt, dass die vermeintliche Endfassung seines Berufungsbegründungsschriftsatzes infolge eines Fehlers beim Abspeichern des Textes Lücken aufweist, ist es zuzumuten, die lediglich marginalen Änderungen, die er im Anschluss an die Vorlage der vorletzten Fassung des Schriftsatzentwurfes noch diktiert hatte, handschriftlich in den Ausdruck einzufügen, um diesen sodann zu unterzeichnen und per Telefax fristwahrend zu versenden.
Normenkette
ZPO § 85 Abs. 2, §§ 233-234, 520
Verfahrensgang
OLG Stuttgart (Beschluss vom 04.02.2004; Aktenzeichen 19 U 157/03) |
LG Tübingen (Urteil vom 29.07.2003) |
Tenor
1. Unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen wird auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin der Beschluss des 19. Zivilsenats des OLG Stuttgart v. 4.2.2004 aufgehoben, soweit die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des LG Tübingen v. 29.7.2003 als unzulässig verworfen worden ist.
2. Die Sache wird zur Verhandlung und erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
3. Streitwert des Rechtsbeschwerdeverfahrens: 340.441,50 EUR
Gründe
I. Unter Abweisung der Widerklage im Übrigen hat das LG die Klägerin zur Zahlung von 340.441,50 EUR verurteilt. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte und Widerkläger fristgerecht Berufung eingelegt und diese - eingehend am 3.11.2003 - auch fristgerecht begründet. Die Klägerin hat gegen das ihr am 5.8.2003 zugestellte Urteil am 29.8.2003 "selbstständige Anschlussberufung" eingelegt, sodann Verlängerung der Frist zur Begründung der Berufung bis zum 6.11.2003 beantragt, die ihr gewährt worden ist.
Mit Schriftsatz v. 6.11.2003, der bei Gericht erst am 7.11.2003 eingegangen ist, hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin ihre Berufung begründet. Die Berufungsbegründung endet mit folgendem Zusatz:
"V. Da die Berufungsbegründung dem OLG nach Ablauf der verlängerten Frist zugegangen ist, stelle ich klar, dass die Berufung als unselbstständige Anschlussberufung aufrecht erhalten bleibt."
Mit am 20.11.2003 beim OLG eingegangenem Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin für diese Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Zur Begründung hat er vorgetragen, er habe am letzten Tag der Frist kurz nach 23.00 Uhr von seiner in der Rechtsanwaltskanzlei mitarbeitenden Ehefrau die vierte Fassung des Entwurfs der Berufungsbegründung als Computerausdruck vorgelegt bekommen. Er habe sodann bis 23.15 Uhr noch kleine Änderungen diktiert, u.a. eine geringfügig andere Anordnung eines Absatzes auf S. 20 des Schriftsatzes, die Aufhebung einer Absatztrennung auf S. 14 und eine Änderung der Position eines Geldbetrages von S. 20 auf S. 22. Gegen 23.35 Uhr habe er die vermeintliche Endfassung der Berufungsbegründung dem OLG per Telefax übermitteln wollen, dabei jedoch festgestellt, dass ganze Textteile gefehlt hätten. Beim Versuch, die Endfassung des Textes im Computer aufzurufen, habe sich gezeigt, dass wesentliche Teile des Textes verschwunden gewesen seien. Seine Ehefrau müsse vergessen haben, die Änderungen und Ergänzungen auf der Festplatte abzuspeichern. Deshalb habe die Endfassung der Berufungsbegründung erst nach Mitternacht erstellt werden können.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das OLG das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Auslegung der von der Klägerin im Zuge des Berufungsverfahrens abgegebenen Erklärungen ergebe, dass sie mit ihrer selbstständigen Anschlussberufung eine selbstständige Berufung habe einlegen wollen. Als solche sei das Rechtsmittel verspätet begründet und mithin unzulässig. Das Wiedereinsetzungsgesuch bleibe erfolglos, weil den Prozessbevollmächtigten der Klägerin ein Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist treffe. Da er die Frist voll ausgeschöpft habe, habe ihn eine erhöhte Sorgfaltspflicht getroffen. Es sei ihm insoweit möglich und zuzumuten gewesen, in der gegebenen Situation die wenigen Änderungen, soweit sie angesichts der ablaufenden Frist nicht ohnehin verzichtbar gewesen seien, auf der ihm als Ausdruck vorgelegten vierten Fassung des Entwurfs der Berufungsbegründung handschriftlich zu ergänzen und den so ergänzten Schriftsatz sodann per Fax an das OLG zu versenden.
II. Die dagegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Klägerin hat teilweise Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, soweit die Berufung als unzulässig verworfen worden ist.
1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. §§ 522 Abs. 1 S. 4 und 238 Abs. 2 S. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).
2. Zu Recht hat das Berufungsgericht allerdings den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen. Denn der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, dessen Verhalten ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, war hier nicht ohne sein Verschulden daran gehindert, die Frist einzuhalten (§ 233 ZPO). Zwar darf eine Partei eine Frist grundsätzlich bis zum Ablauf (24.00 Uhr) des letzten Tages ausnutzen. Sie hat in diesem Falle jedoch erhöhte Sorgfalt aufzuwenden, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen (BGH, Beschl. v. 23.4.1998 - I ZB 2/98, MDR 1998, 1366 = NJW 1998, 2677 unter II m.w.N.; VGH München, Beschl. v. 9.11.2001 - 15 ZB 01.30255 - veröffentlicht in juris; BVerwG v. 29.5.1991 - 8 C 60/90, CR 1991, 753 = CR 1991, 292).
Diese besonderen Anforderungen hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nicht beachtet. Denn es wäre ihm möglich und zumutbar gewesen, die am letzten Tag der Frist um kurz nach 23.00 Uhr vorgelegte, ausgedruckte Fassung des vierten (und letzten) Entwurfs der Berufungsbegründung heranzuziehen, um rechtzeitig vor Fristablauf die Berufungsbegründung per Telefax an das Berufungsgericht zu übermitteln. Nach seinem Vorbringen hat er spätestens um 23.40 Uhr entdeckt, dass die vermeintliche Endfassung der Berufungsbegründung erhebliche Lücken enthielt, die vermutlich auf einem Fehler seiner Ehefrau beim Abspeichern des Textes beruhten. In dieser Situation war es ihm zuzumuten, die lediglich marginalen Änderungen, die er im Anschluss an die Vorlage der vierten Fassung des Entwurfs noch diktiert hatte, handschriftlich in den Ausdruck einzufügen, um diesen sodann zu unterzeichnen und per Telefax zu versenden (OLG München v. 13.7.1994 - 15 U 1677/94, OLGReport München 1994, 165 = CR 1995, 349). Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall wesentlich von solchen Fällen, in denen es infolge einer Computerpanne kurz vor Fristablauf gänzlich unmöglich wird, einen Text rechtzeitig zu erstellen (OLG Celle v. 30.6.2003 - 14 U 49/03, OLGReport Celle 2003, 353 = CR 2004, 18 = NJW-RR 2003, 1439 f.) oder in denen ein defektes Faxgerät die rechtzeitige Übermittlung unmöglich macht (BGH, Beschl. v. 20.2.2003 - V ZB 60/02, MDR 2003, 766 = CR 2003, 686 = BGHReport 2003, 632 = NJW-RR 2003, 861 f.).
Soweit die Rechtsbeschwerde einwendet, grundsätzlich bestimme allein der Rechtsanwalt, wann er eine Rechtsmittelbegründung als fertig gestellt ansehe, der Prozessbevollmächtigte der Klägerin müsse sich deshalb nicht auf handschriftliche Änderungen und Ergänzungen verweisen lassen, verkennt sie die Bedeutung der Berufungsbegründungsfrist. Es entspricht nicht den erhöhten Anforderungen an die bei der Fristwahrung aufzubringende Sorgfalt, wenn der Prozessbevollmächtigte wegen nur geringfügigen Textveränderungen die Berufungsbegründungsfrist verstreichen lässt, um stattdessen auf eine Wiedereinsetzung zu vertrauen.
3. Steht somit zwar fest, dass die Klägerin die Berufungsbegründungsfrist versäumt hat, kann dennoch die Verwerfung ihrer Berufung als unzulässig keinen Bestand haben.
a) Die Klägerin hatte ihr Rechtsmittel ursprünglich als selbstständige Anschlussberufung bezeichnet und dabei übersehen, dass diese früher in § 522 Abs. 2 ZPO a.F. geregelte Form der Anschlussberufung dem neuen Zivilprozessrecht fremd ist (BGH, Beschl. v. 30.4.2003 - V ZB 71/02, MDR 2003, 947 = BGHReport 2003, 900 = BB 2003, 1356 = NJW 2003, 2388 unter II 2a; BT-Drucks. 14/4722, 98). Der Berufungsbeklagte hat nach neuem Recht zwei Möglichkeiten. Er kann sich entweder der Berufung des Gegners anschließen (§ 524 ZPO) oder, falls die Voraussetzungen des § 511 ZPO gegeben sind, selbstständig Berufung einlegen. Nur im ersten Fall verliert die Berufung ihre Wirkung, wenn der Gegner sein Rechtsmittel zurücknimmt (§ 524 Abs. 4 ZPO). Wird hingegen eine selbstständige Berufung eingelegt, bleibt diese vom Schicksal der gegnerischen Berufung unabhängig. Für sie laufen eigenständige Fristen zur Einlegung (§ 517 ZPO) und Begründung (§ 520 Abs. 2 ZPO). Welche Möglichkeit der Berufungsbeklagte wählt, steht grundsätzlich in seinem Belieben. Erst wenn die Fristen zur Einlegung oder Begründung der selbstständigen Berufung verstrichen sind, ist er - im Rahmen der Frist des § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO - auf die Anschlussberufung beschränkt (BGH, Beschl. v. 30.4.2003 - V ZB 71/02, MDR 2003, 947 = BGHReport 2003, 900 = BB 2003, 1356 = NJW 2003, 2388). Dass er sich grundsätzlich zwischen den beiden genannten Möglichkeiten der Berufung entscheiden muss, schließt es nicht aus, die Anschlussberufung für den Fall zu erklären, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen der selbstständigen Berufung nicht erfüllt sind.
b) Hat - wie hier - der Berufungsbeklagte innerhalb der Berufungsfrist ein als selbstständige Anschlussberufung bezeichnetes Rechtsmittel einlegt, so ist durch Auslegung seiner prozessualen Erklärungen zu ermitteln, für welche der genannten Möglichkeiten er sich entscheiden will (BGH, Beschl. v. 30.4.2003 - V ZB 71/02, MDR 2003, 947 = BGHReport 2003, 900 = BB 2003, 1356 = NJW 2003, 2388 unter II 2b). Das Berufungsgericht hat wegen der Anträge der Klägerin auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist des § 520 Abs. 2 ZPO und wegen des nachfolgenden Wiedereinsetzungsgesuchs angenommen, der Klägerin sei es darum gegangen, eine selbstständige Berufung durchzuführen.
Das ist zwar richtig. Das Berufungsgericht hat dabei aber erkennbar übersehen, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin im letzten Absatz des Berufungsbegründungsschriftsatzes selbst auf dessen verspäteten Eingang hingewiesen und aus diesem Grunde klargestellt hat, dass die Berufung nunmehr als unselbstständige Anschlussberufung aufrecht erhalten werden solle. Die Klägerin hat damit von der in § 524 ZPO geregelten Möglichkeit Gebrauch gemacht. Die Frist des § 524 Abs. 2 S. 2 ZPO für die Anschlusserklärung hatte hier erst am 5.11.2003 zu laufen begonnen.
c) Selbst wenn die Klägerin ungeachtet der Anschlusserklärung vorrangig weiterhin eine selbstständige Berufung angestrebt hat, worauf insbes. das nachträgliche Wiedereinsetzungsgesuch gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist hindeutet, ist die Anschließung jedenfalls dahin zu verstehen, dass sie für den Fall der Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs erklärt ist. Deshalb durfte die Berufung der Klägerin nicht verworfen werden.
Legt eine Partei gegen eine bestimmte Entscheidung mehrfach Berufung ein, handelt es sich um dasselbe Rechtsmittel; ihr Begehren richtet sich im Ergebnis nur auf eine sachliche Überprüfung des angefochtenen Urteils. Daher ist über das Rechtsmittel nach ständiger Rechtsprechung einheitlich zu entscheiden (BGH, Beschl. v. 2.7.1996 - IX ZB 53/96, NJW 1996, 2659 unter 2c). Das gilt auch dann, wenn der Berufungsbeklagte sowohl eine selbstständige Berufung einlegt als auch eine Anschlusserklärung nach § 524 ZPO abgibt. Entspricht die zunächst eingelegte Berufung den förmlichen Anforderungen des Gesetzes nicht, darf sie daher auch nicht gesondert als unzulässig verworfen werden (BGH, Beschl. v. 30.4.2003 - V ZB 71/02, MDR 2003, 947 = BGHReport 2003, 900 = BB 2003, 1356 = NJW 2003, 2388 m.w.N.).
Hier liegt zwar eine - aus den oben genannten Gründen - unzulässige selbstständige Berufung vor. Sie durfte aber nicht verworfen werden, solange es möglich blieb (und bleibt), sie als unselbstständige Anschlussberufung zu behandeln (BGH, Beschl. v. 30.4.2003 - V ZB 71/02, MDR 2003, 947 = BGHReport 2003, 900 = BB 2003, 1356 = NJW 2003, 2388 m.w.N.; Beschl. v. 26.10.1999 - X ZB 15/99, VersR 2001, 730 m.w.N.).
Die Sache war deshalb nach Aufhebung der Berufungsverwerfung zur Fortsetzung des Berufungsverfahrens an das Berufungsgericht zurück zu verweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 1176410 |
FamRZ 2004, 1481 |
NJW-RR 2004, 1502 |
BRAK-Mitt. 2004, 221 |