Leitsatz (amtlich)
Werden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für zurückliegende Zeiträume nachgezahlt, sind bei der Bemessung des pfändungsfreien Betrages gem. § 850k Abs. 4 ZPO die nachgezahlten Beträge den Leistungszeiträumen zuzurechnen, für die sie gezahlt werden (Fortführung von BGH, Beschl. v. 25.10.2012 - VII ZB 31/12, MDR 2013, 57; vgl. Beschluss vom 24.1.2018 - VII ZB 27/17).
Normenkette
ZPO § 850k Abs. 4
Verfahrensgang
LG Wiesbaden (Beschluss vom 16.01.2017; Aktenzeichen 4 T 484/16) |
AG Idstein (Entscheidung vom 06.12.2016; Aktenzeichen 41 M 917/16) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Gläubigers gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des LG Wiesbaden vom 16.1.2017 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Gläubiger betreibt gegen die Schuldnerin die Zwangsvollstreckung wegen einer durch Vollstreckungsbescheid titulierten Geldforderung i.H.v. insgesamt 1.564,23 EUR.
Rz. 2
Mit Pfändungs- und Überweisungsbeschluss des AG - Vollstreckungsgericht - vom 4.7.2014 wurde u.a. der Anspruch der Schuldnerin auf Auszahlung des Guthabens auf ihrem als Pfändungsschutzkonto geführten Konto gegenüber der Drittschuldnerin gepfändet und dem Gläubiger zur Einziehung überwiesen. Aufgrund des Bescheids des R. -T. -Kreises vom 17.10.2016 erhielt die Schuldnerin auf diesem Konto eine Nachzahlung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für die Monate März bis November 2015i.H.v. 5.584,16 EUR.
Rz. 3
Auf Antrag der Schuldnerin hat das AG - Vollstreckungsgericht - die Pfändung durch den Gläubiger gem. § 850k Abs. 4 ZPO teilweise aufgehoben und zugunsten der Schuldnerin einen einmaligen das unpfändbare Einkommen übersteigenden Betrag i.H.v. 5.584,16 EUR "freigegeben". Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Gläubigers hat das Beschwerdegericht zurückgewiesen.
Rz. 4
Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde will der Gläubiger weiterhin die Zurückweisung des von der Schuldnerin gestellten Antrags erreichen.
II.
Rz. 5
Die gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2, 575 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist in der Sache nicht begründet.
Rz. 6
1. Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, dass die auf dem Konto der Schuldnerin eingegangene Summe von insgesamt 5.584,16 EUR der Pfändungsfreiheit unterfalle, da die Nachzahlungen dem Monat zuzurechnen seien, für den sie erfolgt seien. Da die Schuldnerin mit ihren zwei minderjährigen Kindern einen Pfändungsfreibetrag von monatlich 1.709 EUR habe, sei die Pfändungsfreigrenze nach § 850c ZPO in der jeweils geltenden Fassung aufgrund der Nachzahlungen zwischen 560,94 EUR und 717,24 EUR in den Monaten März bis November 2015 nicht überschritten.
Rz. 7
Zwar sehe § 850k ZPO eine Verteilung von Nachzahlungen für mehrere Monate, für die die Nachzahlung gedacht sei, nicht ausdrücklich vor. Die Notwendigkeit der Verteilung ergebe sich jedenfalls in Bezug auf die Nachzahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch aus dem Sinn und Zweck des § 850k Abs. 4 ZPO. Sozialleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf Grundlage des Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, die steuerfinanzierte, bedarfsorientierte und bedürftigkeitsabhängige Fürsorgeleistungen des Staates darstellten, sollten nach der Rechtsprechung des BVerfG ein aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG folgendes Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sichern. Daraus sei zu folgern, dass entsprechende Nachzahlungen seitens der öffentlichen Hand dem Pfändungsschutz grundsätzlich unterfallen müssten. Es bestehe eine Vermutung dafür, dass es sich bei der Zahlung, auf den jeweiligen Monat betrachtet, um die Deckung des menschenwürdigen Bedarfs in Gestalt des Existenzminimums handele. Nach der Gesetzesbegründung solle sichergestellt werden, dass der mit der Zahlung der Leistung verfolgte Zweck auch tatsächlich erreicht werde. Von der Nichtverfügbarkeit der Nachzahlungsbeträge in den entsprechenden Leistungsabschnitten sei nicht darauf zu schließen, dass sie nunmehr zur Deckung des Lebensunterhalts nicht mehr notwendig seien. Eine Existenz sei zwar mit weniger Mitteln als den Leistungen zur Gewährleistung des Existenzminimums möglich, diese wäre allerdings menschenunwürdig. Aus den vorgelegten Bescheiden ergebe sich eindeutig, dass die Nachzahlung aufgrund einer Ermittlung des Bedarfs erfolgt und an die Schuldnerin lediglich der jeweils ungedeckte monatliche Regelbedarf nach § 20 und § 23 SGB II nebst Miet- und Nebenkostenanteil nachgezahlt worden sei.
Rz. 8
2. Dies hält der rechtlichen Nachprüfung stand.
Rz. 9
Das Beschwerdegericht geht zutreffend davon aus, dass sich die auf Antrag der Schuldnerin erfolgte Anordnung des AG - Vollstreckungsgericht - im Hinblick auf die auf dem Pfändungsschutzkonto der Schuldnerin eingegangene Nachzahlung i.H.v. 5.584,16 EUR einen erhöhten pfändungsfreien Betrag nach § 850k Abs. 4 Satz 1 ZPO festzusetzen, als rechts- und ermessensfehlerfrei darstellt. Die "Freigabe" dieses Betrags durch das AG - Vollstreckungsgericht - ist als Festsetzung eines (weiteren) pfändungsfreien Betrags gem. § 850k Abs. 4 Satz 1 ZPO auszulegen.
Rz. 10
a) Nach dieser Vorschrift kann das Vollstreckungsgericht auf Antrag einen von § 850k Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 ZPO abweichenden pfändungsfreien Betrag festsetzen. Gemäß § 850k Abs. 4 Satz 2 ZPO ist dabei § 54 Abs. 4 SGB I entsprechend anzuwenden, der bestimmt, dass Ansprüche auf laufende Geldleistungen wie Arbeitseinkommen gepfändet werden können. § 54 Abs. 4 SGB I ist anwendbar (vgl. BGH, Beschl. v. 25.10.2012 - VII ZB 31/12, MDR 2013, 57 Rz. 10), da die hier in Rede stehende Nachzahlung einen Zeitraum vor Inkrafttreten des § 42 Abs. 4 SGB II (in der ab 1.8.2016 geltenden Fassung) betrifft, der in seinem Anwendungsbereich § 54 Abs. 4 SGB I verdrängt (vgl. hierzu BGH, Beschl. v. 24.1.2018 - VII ZB 27/17).
Rz. 11
aa) Die Nachzahlung an die Schuldnerin für die Monate März bis November 2015 ist, wie das Beschwerdegericht zutreffend angenommen hat, für die Bemessung des pfandfreien Betrags für Arbeitseinkommen gem. § 850c ZPO jeweils dem monatlichen Leistungszeitraum zuzurechnen, für den sie gezahlt wurde (BGH, Beschl. v. 25.10.2012 - VII ZB 31/12, MDR 2013, 57 Rz. 20). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des entsprechend anwendbaren § 850c Abs. 1 Satz 1 ZPO, wonach die Pfändungsfreigrenzen jeweils für den Zeitraum gelten, für den Arbeitseinkommen gezahlt wird. Zu Recht nimmt das Beschwerdegericht an, dass durch diese Art der Berechnung des gem. § 850k Abs. 4 Satz 1 ZPO dem Schuldner pfandfrei zu belassenden Betrags auch dem aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG folgenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Rechnung getragen wird.
Rz. 12
bb) Der Auffassung der Rechtsbeschwerde, zur Beurteilung der Frage, ob die Sicherung des Existenzminimums des Schuldners gewährleistet sei, seien zurückliegende Zeiträume nicht in die Betrachtung einzubeziehen, ist nicht zu folgen. Der Senat hat mit Beschluss vom heutigen Tag entschieden, dass der sozialrechtliche Aktualitätsgrundsatz ("in praeteritum non vivitur") im Falle der Gewährung von Leistungen für zurückliegende Zeiträume nicht zu rechtfertigen vermag, den Leistungsempfänger als vermindert schutzwürdig anzusehen und ihm bezüglich der gewährten Leistungen Pfändungsschutz auf dem Pfändungsschutzkonto vorzuenthalten. Denn der fehlende Pfändungsschutz auf dem Pfändungsschutzkonto hätte zur Folge, dass die Leistungen im Ergebnis nicht dem Leistungsempfänger, sondern seinen Gläubigern zugutekämen. Das aber widerspräche dem Zweck der Leistungen. Lebensunterhaltsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, insb. Arbeitslosengeld II und Sozialgeld, dienen der Sicherung des Existenzminimums und sollen daher bei den leistungsberechtigten Personen verbleiben (BGH, Beschl. v. 24.1.2018 - VII ZB 27/17).
Rz. 13
b) Die Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 850k Abs. 4 ZPO liegen vor. Nach den von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffenen Feststellungen des Beschwerdegerichts handelt es sich bei der auf dem Pfändungsschutzkonto der Schuldnerin eingegangenen Zahlung i.H.v. 5.584,16 EUR um eine Nachzahlung für Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch für die Monate März bis November 2015. Da die Pfändungsfreigrenzen des § 850c ZPO für diese Monate infolge der Nachzahlung nicht überschritten werden, wie das Beschwerdegericht festgestellt hat, war zugunsten der Schuldnerin auf ihren Antrag der Nachzahlungsbetrag i.H.v. 5.584,16 EUR gem. § 850k Abs. 4 Satz 1 ZPO insgesamt als pfändungsfreier Betrag festzusetzen. Diese Feststellung wird von der Rechtsbeschwerde nicht mit einer Verfahrensrüge angegriffen.
Rz. 14
Der von der Rechtsbeschwerde vorgebrachte Umstand, der Gläubiger werde in der Wahrnehmung seiner gemeinnützigen Aufgaben beeinträchtigt, wenn ihm die Möglichkeit genommen werde, seine begründete Forderung gegen die Schuldnerin im Wege der Zwangsvollstreckung durchzusetzen, greift nicht durch. Denn das nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Recht des Gläubigers an der Durchsetzung einer titulierten Forderung im Wege der Zwangsvollstreckung (vgl. BVerfG NJW-RR 2010, 1063, 1064, juris Rz. 12; BVerfGE 116, 1, 13, juris Rz. 34) findet seine Grenze in dem durch Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG geschützten Anspruch des Schuldners auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG, der durch die Pfändungsschutzbestimmungen in § 850k Abs. 4 ZPO, § 54 Abs. 4 SGB I, § 850c ZPO verfassungskonform ausgestaltet worden ist.
III.
Rz. 15
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 11544732 |
NJW 2018, 9 |
FamRZ 2018, 768 |
FuR 2018, 440 |
NJW-RR 2018, 570 |
JurBüro 2018, 328 |
WM 2018, 432 |
DGVZ 2018, 117 |
JZ 2018, 280 |
MDR 2018, 361 |
Rpfleger 2018, 340 |
VuR 2019, 191 |
ZInsO 2018, 605 |
FoVo 2018, 90 |
InsbürO 2018, 160 |
InsbürO 2018, 196 |
InsbürO 2019, 20 |
ZVI 2018, 209 |