Leitsatz (amtlich)
a) Wird ein Betroffener, der sich allein mit seinem Rollstuhl fortbewegen kann, in einer Wohneinrichtung untergebracht, deren Außentür verschlossen wird, damit der Betroffene den geschützten Bereich nicht eigenmächtig verlassen kann, ist diese Unterbringung mit einer Freiheitsentziehung verbunden.
b) Die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB setzt keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Betreuten voraus. Notwendig ist eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben des Betreuten. Dies setzt objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens voraus. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen (im Anschluss an BGH v. 5.3.2014 - XII ZB 58/12, FamRZ 2014, 831).
Normenkette
BGB § 1906 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
LG Kiel (Beschluss vom 23.11.2016; Aktenzeichen 3 T 12/16) |
AG Eckernförde (Entscheidung vom 20.11.2015; Aktenzeichen 3 XVII 167) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Kiel vom 23.11.2016 wird zurückgewiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Beschwerdewert: 5.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die im Jahr 1968 geborene Betroffene leidet an einem frühkindlichen Hirnschaden mit hochgradiger geistiger Behinderung bei vorhandenem Coffin-Lowry-Syndrom. Daneben besteht ein cerebrales Krampfleiden (Epilepsie). Sie ist auf einen Rollstuhl angewiesen, da sie nicht gehen kann. Komplexere Gespräche sind mit ihr nicht möglich, sie spricht nur einige Worte. Seit Juni 1999 lebt sie in einer Wohneinrichtung. Da sie nicht werkstattfähig ist, wird sie in der Fördergruppe der Einrichtung mit Bastelarbeiten beschäftigt. Seit ihrer Volljährigkeit war ihre Mutter als Pflegerin bzw. Betreuerin eingesetzt. Die geschlossene Unterbringung der Betroffenen wurde wiederholt gerichtlich genehmigt, zuletzt bis zum 18.6.2015. Nachdem die Mutter der Betroffenen schwer erkrankte, wurde im März 2015 die Beteiligte zu 1), die Schwester der Betroffenen, als Betreuerin bestellt. Der Aufgabenkreis der Betreuung umfasst auch die Gesundheitssorge für nervenärztliche Behandlungen und die Entscheidung über eine geschlossene Unterbringung.
Rz. 2
Im August 2015 hat die Betreuerin die Verlängerung der geschlossenen Unterbringung der Betroffenen in der Wohneinrichtung beantragt. Das AG hat den Beteiligten zu 2) als Verfahrenspfleger bestellt und das nervenärztliche Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie - Dr. med. P. eingeholt, das im Laufe des Verfahrens noch schriftlich ergänzt worden ist. Nach den Ausführungen des Sachverständigen gibt es zu der geschlossenen Unterbringung keine Alternative. Die Betroffene sei nicht angemessen in der Lage, sich im Straßenverkehr mit dem Rollstuhl zu bewegen. Außerhalb der Unterbringung bestehe für sie die hochgradige Gefahr eines erheblichen gesundheitlichen Schadens. Eine freie Willensbestimmung im Hinblick auf die Erforderlichkeit der Unterbringung sei der Betroffenen nicht möglich. Ebenso wenig könne sie den Willen bilden, das Haus zu verlassen. Es könne jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass sie analog zu einem Kind mit dem Rollstuhl eine offene Einrichtung verlassen und sich im Straßenverkehr gefährden würde.
Rz. 3
Im Anschluss hat das AG ein psychiatrisches Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. med. L. eingeholt. Aus Sicht der Gutachterin ist die Betroffene in der Lage, den natürlichen Willen zu einer Ortsveränderung zu bilden. Es müsse davon ausgegangen werden, dass sie aufgrund von Alltagserfahrungen zu der Entscheidung gelangen könne, einen Ortswechsel vorzunehmen. Wäre die Flurtür nach draußen nicht geschlossen, bestünde aus Sicht der sie seit vier Jahren begleitenden Heilerziehungspflegerin die Gefahr, dass die Betroffene durch diese nach draußen fahren würde. Von der Fähigkeit zu einer zielgerichteten Handlungsplanung unter Abwägung von Folgen und Gefahren könne bei der Betroffenen nicht ausgegangen werden. Sollte sie sich unter nicht geschützten Bedingungen dem Straßenverkehr aussetzen, wäre dies mit erheblichen Gefahren für sie verbunden.
Rz. 4
Nach einem vergeblichen Versuch, ein persönliches Gespräch mit der Betroffenen zu führen, hat das AG, gestützt auf die Gutachten, die geschlossene Unterbringung für zwei Jahre genehmigt. Die dagegen gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das LG zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Betroffenen.
II.
Rz. 5
Die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg.
Rz. 6
1. Das LG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Voraussetzungen für die Genehmigung der Unterbringung gem. § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB seien gegeben. Bei der Betroffenen liege ein frühkindlicher Hirnschaden mit hochgradiger geistiger Behinderung vor. Aufgrund dieser Behinderung sei sie nicht in der Lage, sich außerhalb der geschützten Einrichtung, in der sie lebe, sicher zu bewegen, sondern wäre dort vollkommen desorientiert und insb. den Gefahren des Straßenverkehrs ausgesetzt. Diese Feststellungen beruhten auf den beiden vom AG eingeholten Gutachten. Die Genehmigung der Unterbringung sei auch erforderlich, da das Verschließen der Außentür der Wohneinrichtung zu einer Freiheitsentziehung i.S.d. § 1906 BGB führe. Auf der Grundlage des ergänzenden Gutachtens der Sachverständigen Dr. L. sei davon auszugehen, dass die Betroffene bei offener Tür den natürlichen Willen entwickeln könne, spontan mit ihrem Rollstuhl nach draußen zu fahren. Da sie sich mit anderen Mitbewohnern mit ihrem Rollstuhl in den geschützten Garten begeben könne und auch begebe, werde sie letztlich nur durch die verschlossene Außentür daran gehindert, in den allgemeinen Straßenverkehr zu gelangen. Die Unterbringung sei auch verhältnismäßig. Angesichts des seit der Kindheit der Betroffenen andauernden Zustands, der sich nicht verbessern könne, sei es angemessen, mit einer Unterbringungsdauer von zwei Jahren die Höchstfrist auszuschöpfen.
Rz. 7
2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand.
Rz. 8
a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde bewirkt das Verschließen der Außentür eine Freiheitsentziehung i.S.d. § 1906 BGB. Zwar fehlt es an einer solchen, wenn der Betroffene faktisch nicht in der Lage ist, sich räumlich zu entfernen (vgl. BVerfG FamRZ 2016, 1738 Rz. 98; BGH v. 1.7.2015 - XII ZB 89/15, FamRZ 2015, 1484 Rz. 25). Indessen hat das LG auf der Grundlage der vom AG eingeholten Sachverständigengutachten rechtsfehlerfrei festgestellt, dass die Betroffene sich eigenständig mit ihrem Rollstuhl fortbewegen und - angesichts einer offenen Tür - den natürlichen Willen entwickeln und umsetzen kann, die Wohneinrichtung durch die offene Tür zu verlassen. Dass die Betroffene angesichts der bislang verschlossenen Außentür nicht versucht hat, die Einrichtung zu verlassen, kann nicht die Annahme rechtfertigen, sie habe überhaupt nicht den natürlichen Willen dazu.
Rz. 9
b) Gemäß § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist eine Unterbringung des Betreuten durch den Betreuer, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur zulässig, solange sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung des Betreuten die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt.
Rz. 10
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Betreuten voraus. Notwendig ist allerdings eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben des Betreuten. Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen. Die Gefahr für Leib oder Leben erfordert kein zielgerichtetes Verhalten, aber objektivierbare und konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt eines erheblichen Gesundheitsschadens (BGH v. 5.3.2014 - XII ZB 58/12, FamRZ 2014, 831 Rz. 9 m.w.N.; v. 13.1.2010 - XII ZB 248/09, FamRZ 2010, 365 Rz. 14).
Rz. 11
Die Prognose einer nicht anders abwendbaren Suizidgefahr oder einer Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden ist Sache des Tatrichters. Sie baut im Wesentlichen auf der Anhörung des Betroffenen und der weiteren Beteiligten sowie auf dem nach § 321 FamFG einzuholenden Sachverständigengutachten auf (BGH v. 5.3.2014 - XII ZB 58/12, FamRZ 2014, 831 Rz. 10 m.w.N.; v. 13.1.2010 - XII ZB 248/09, FamRZ 2010, 365 Rz. 15).
Rz. 12
Die Genehmigung der Unterbringung muss zudem erforderlich sein. Wenn die Gefahr durch andere Mittel als die freiheitsentziehende Unterbringung abgewendet werden kann, kommt eine Unterbringung als unverhältnismäßig nicht in Betracht (BGH v. 14.12.2011 - XII ZB 171/11, FamRZ 2012, 441 Rz. 8; v. 21.9.2011 - XII ZB 263/11, FamRZ 2011, 1864, Rz. 11; v. 18.5.2011 - XII ZB 47/11, FamRZ 2011, 1141 Rz. 12).
Rz. 13
bb) Nach diesen Maßstäben ist die Genehmigung der geschlossenen Unterbringung auf der Grundlage der Feststellungen des LG rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstanden.
Rz. 14
(1) Die u.a. für den Aufgabenkreis der Entscheidung über eine geschlossene Unterbringung als Betreuerin bestellte Beteiligte zu 1) hat die Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen beantragt. Das LG hat auf der Grundlage der vom AG eingeholten Sachverständigengutachten sowie der persönlichen Anhörung der Betroffenen festgestellt, dass sie nach einem frühkindlichen Hirnschaden an hochgradiger geistiger Behinderung bei vorhandenem Coffin-Lowry-Syndrom sowie Epilepsie leidet. Aufgrund der genannten Gutachten ist das LG zudem zu der Überzeugung gelangt, dass die Betroffene aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht in der Lage ist, einen freien Willen zu bilden und danach zu handeln.
Rz. 15
(2) Das LG hat weiter berücksichtigt, dass die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib und Leben des Betreuten voraussetzt. Es ist aufgrund des Gutachtens der Sachverständigen Dr. L. zu der - rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstandenden - Überzeugung gelangt, dass die Betroffene im Falle einer offenen Außentür spontan einen entsprechenden natürlichen Willen entwickeln und sich aus eigenem Antrieb mit ihrem Rollstuhl nach draußen in den allgemeinen Straßenverkehr begeben kann, was mit erheblichen Gefahren für sie verbunden ist. Dass die Betroffene angesichts der verschlossenen Außentür bislang keinen Versuch unternommen hat, die Wohneinrichtung zu verlassen, rechtfertigt es entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht, die Gefahr erheblicher gesundheitlicher Schäden für die Betroffene im allgemeinen Straßenverkehr als rein theoretisch abzuqualifizieren. Eine weitergehende Ermittlungspflicht des LG nach § 26 FamFG bezüglich des bisherigen Verhaltens der Betroffenen angesichts der verschlossenen Außentür bestand entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht.
Rz. 16
(3) Das LG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Unterbringung auch verhältnismäßig ist. Mildere Maßnahmen als die geschlossene Unterbringung kommen vorliegend nicht in Betracht. Auch die Rechtsbeschwerde zeigt eine Alternative nicht auf.
Rz. 17
Ferner hat das LG nachvollziehbar und in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt, dass bei der vorliegenden Sachlage ein Unterbringungszeitraum von zwei Jahren nach § 329 Abs. 1 Satz 1 FamFG erforderlich ist (vgl. BGH v. 22.3.2017 - XII ZB 358/16 - juris Rz. 23 ff.).
Rz. 18
Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).
Fundstellen
Haufe-Index 10899319 |
NJW 2017, 8 |
FamRZ 2017, 1342 |
FuR 2017, 499 |
NJW-RR 2017, 897 |
FGPrax 2017, 221 |
BtPrax 2017, 201 |
JZ 2017, 512 |
MDR 2017, 1001 |
GesR 2017, 537 |
PflR 2017, 577 |
AiSR 2017, 140 |
FK 2017, 127 |
R&P 2017, 240 |