Entscheidungsstichwort (Thema)
Unverhältnismäßigkeit der Anordnung von Freiheitsentziehung bei Schwangerschaft der Betroffenen. Sicherungshaft. Mitteilungspflicht der Behörde bei ärztlichen Untersuchungsergebnissen
Leitsatz (amtlich)
a) Die Anordnung von Freiheitsentziehung innerhalb der Frist des § 3 Abs. 2 MuSchG ist in der Regel unverhältnismäßig.
b) Hat die beteiligte Behörde eine schwangere Betroffene ärztlich untersuchen lassen, muss sie den Haftrichter über das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung in dem Haftantrag oder durch Vorlage ihrer Akten unterrichten.
Normenkette
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4
Verfahrensgang
LG Dresden (Beschluss vom 16.09.2010; Aktenzeichen 2 T 737/10) |
AG Dresden (Beschluss vom 05.09.2010; Aktenzeichen 271 XIV 116/10) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Dresden vom 5.9.2010 (271 XIV 116/10) und der Beschluss der 2. Zivilkammer des LG Dresden vom 16.9.2010 (2 T 737/10) die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen in sämtlichen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Die seinerzeit im siebenten Monat schwangere Betroffene, die russische Staatsangehörige ist und aus Tschetschenien stammt, reiste am 5.9.2010 über Tschechien gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Deutschland ein. Die Eheleute verfügten nicht über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet.
Rz. 2
Auf Antrag der Beteiligten zu 2) vom 5.9.2010 hat das AG nach persönlicher Anhörung der Betroffenen Sicherungshaft bis längstens 5.12.2010 verhängt und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Im Rahmen der Anhörung stellte die Betroffene einen Asylantrag, nach dessen Eingang beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 9.9.2010 ein Asylverfahren eröffnet worden ist.
Rz. 3
Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das LG die Haftdauer nach persönlicher Anhörung der Betroffenen bis längstens 4.11.2010 verkürzt und das Rechtsmittel im Übrigen zurückgewiesen. Am 5.10.2010 ist die Betroffene aus der Sicherungshaft entlassen worden.
Rz. 4
Mit der Rechtsbeschwerde möchte sie die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Feststellung der Rechtsverletzung erreichen.
II.
Rz. 5
Das Beschwerdegericht stützt die Sicherungshaft auf § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG. Die Betroffene werde sicher nicht untertauchen, solange über ihren Asylantrag noch nicht entschieden sei. Das ändere sich aber, wenn der Asylantrag zurückgewiesen werde. Dann sei die Versuchung groß unterzutauchen, um Zeit zu gewinnen. Denn die Zurückschiebung werde immer unwahrscheinlicher, je näher der Entbindungstermin der Betroffenen rücke. Die Behörde müsse die Abläufe auf das Äußerste beschleunigen, zumal eine Flugreise mit voranschreitender Schwangerschaft kritisch zu sehen sei.
III.
Rz. 6
1. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen ist trotz Erledigung ohne Zulassung statthaft (vgl. BGH, Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151 Rz. 10) und auch im Übrigen zulässig, § 71 FamFG. Allerdings ist die neben der Feststellung begehrte Aufhebung der Haftanordnung und der Beschwerdeentscheidung infolge der Erledigung nicht mehr möglich. Der Antrag ist dem Rechtsschutzziel entsprechend dahin auszulegen, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit sowohl der Entscheidung des AG als auch des Beschwerdegerichts begehrt wird.
Rz. 7
2. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, weil sowohl die Beschwerdeentscheidung als auch die Haftanordnung, die im Fall der Erledigung ebenfalls Gegenstand der Überprüfung ist (BGH, Beschluss vom 4.3.2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152, 154 Rz. 14; Beschl. v. 18.8.2010 - V ZB 119/10, juris Rz. 6), einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten.
Rz. 8
a) Die Haftanordnung ist schon deshalb zu beanstanden, weil sie, wie die Betroffene im Ergebnis zu Recht rügt, auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage erfolgte.
Rz. 9
aa) Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verlangt als eine unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660). Hierfür sind regelmäßig die Akten der Ausländerbehörde beizuziehen (BVerfG, NVwZ 2008, 304, 305). Etwas anderes gilt nur, wenn sich die entscheidungserheblichen Umstände aus dem Antrag der beteiligten Behörde und den ihm beigefügten Unterlagen ergeben (BGH, Beschlüsse v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, InfAuslR 2010, 246, 248 f.). Anders kann der Haftrichter den Sachverhalt nicht, wie nach § 26 FamFG schon einfachrechtlich geboten, von Amts wegen sachgerecht aufklären. Deshalb ist eine Haftanordnung rechtswidrig, wenn ihr die gebotene Tatsachengrundlage fehlt. Ob das dem Haftantrag anzusehen ist, ist unerheblich (vgl. Senat, Beschl. v. 12.5.2011 - V ZB 189/10, juris Rz. 5).
Rz. 10
bb) An der erforderlichen Tatsachengrundlage fehlte es hier. Die beteiligte Behörde hat ihre Akten dem Haftrichter nicht, jedenfalls nicht vollständig vorgelegt. Dies war auch nicht deshalb entbehrlich, weil ihr Haftantrag ausreichend gewesen wäre. Dieser enthielt keine Angaben zu der Schwangerschaft der Betroffenen, auf die es für die Entscheidung offensichtlich ankam. Erkenntnisse hierüber lagen der beteiligten Behörde aber vor. Nach ihrer Stellungnahme in dem Verfahren vor dem Senat hatte sie vor Stellung des Haftantrags die fortgeschrittene Schwangerschaft der Betroffenen erkannt und diese deshalb zunächst im Krankenhaus F. auf ihre Gewahrsamsfähigkeit hin ärztlich untersuchen lassen. Hierbei hatte sich ergeben, dass die Betroffene voraussichtlich am 14.12.2010 entbinden würde. Das war schon für die Antragstellung der beteiligten Behörde und erst recht für die Entscheidung über diesen Antrag von entscheidender Bedeutung. Nach Nr. 62.0.5 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung zum Aufenthaltsgesetz (vom 26.10.2009, GMBl. S. 878 - AVV-AufenthG) sollen Schwangere innerhalb der gesetzlichen Mutterschutzfrist, die sich hier aus § 3 Abs. 2 MuSchG ergibt und mit dem 1.11.2010 begann, grundsätzlich nicht in Haft genommen werden. Die von der beteiligten Behörde dessen ungeachtet beantragte Anordnung von Zurückschiebungshaft bis zum 5.12.2010 kam deshalb von vornherein nicht Betracht und leitete ohne nähere Angaben zur Schwangerschaft in die Irre.
Rz. 11
b) Auch die Beschwerdeentscheidung hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
Rz. 12
aa) Das ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass der Antrag der Beteiligten zu 2) mangels einer ausreichenden Begründung unzulässig war. Die Betroffene hat die erforderlichen Angaben zu ihrer Schwangerschaft in der Anhörung vor dem Beschwerdegericht selbst vorgetragen. Die Beteiligte zu 2) hat die dazugehörigen ärztlichen Unterlagen auf Anforderung des Beschwerdegerichts im Anschluss an die Anhörung nachgereicht. Damit lag im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung ein zulässiger Haftantrag vor (vgl. Senat, Beschl. v. 3.5.2011 - V ZA 10/11, juris Rz. 11).
Rz. 13
bb) Die Beschwerdeentscheidung hält einer rechtlichen Prüfung aber deswegen nicht stand, weil das Beschwerdegericht die erforderliche Prognose gem. § 57 Abs. 3 i.V.m. § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG nicht vorgenommen hat.
Rz. 14
(1) Die Haftgerichte sind aufgrund von Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich und aufgrund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Insbesondere die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG notwendige Prognose hat der Haftrichter auf der Grundlage einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660; BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 f. Rz. 14; Beschl. v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144, 145 Rz. 15).
Rz. 15
(2) Auch wenn der Haftrichter eine Haftdauer von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann. Das ergibt sich schon daraus, dass § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist (vgl. BVerfG NJW 2009, 2659). Die Prognose muss sich grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, juris Rz. 22; Beschl. v. 18.8.2010 - V ZB 119/10, juris Rz. 22). Zu der Feststellung, ob die Zurückschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer möglich ist, sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und eine Darstellung erforderlich, in welchem Zeitraum die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gem. § 26 FamFG dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschl. v. 6.5.2010 - V ZB 193/09, InfAuslR 2010, 361, 363; Beschl. v. 8.7.2010 - V ZB 89/10, juris Rz. 8; Beschl. v. 18.8.2010 - V ZB 119/10, a.a.O.).
Rz. 16
(3) Diesen Anforderungen genügt die Entscheidung des Beschwerdegerichts nicht. Das Beschwerdegericht hat allerdings, anders als das AG, den Sachverhalt weiter aufgeklärt und wegen des laufenden Asylverfahrens und der bevorstehenden Entbindung allenfalls ein kurzes Zeitfenster für die Durchführung der Zurückschiebung gesehen. Diesen Umstand hat das Beschwerdegericht zwar zum Anlass genommen, die Behörde auf das Erfordernis einer größtmöglichen Beschleunigung hinzuweisen und die Haft zu verkürzen. Die Durchführbarkeit der Zurückschiebung als solcher hat es aber nicht geprüft. Dazu bestand schon deshalb Anlass, weil sich die Betroffene den Feststellungen zufolge im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung bereits in der 28./29. Schwangerschaftswoche und damit am Beginn des achten Schwangerschaftsmonats befand. Dass eine Flugreise deshalb problematisch war, hat das Beschwerdegericht erörtert, ohne jedoch auf die nahe liegende Frage einzugehen, ob eine Zurückschiebung bei realistischer Betrachtung nicht schon aus diesem Grund scheitern musste. Im Hinblick darauf hätte es gem. § 26 FamFG Ermittlungen dazu durchführen müssen, ob der Gesundheitszustand der Betroffenen eine Flugreise noch erlaubte und ob sie von Seiten der Fluggesellschaften noch durchgeführt werden würde. Schließlich hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt, dass mit einer Entscheidung über die Asylanträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu einem Zeitpunkt gerechnet werden konnte, in dem die Zurückschiebung noch erfolgen konnte.
Rz. 17
(4) Dass die gebotene, aber unterlassene Prognose die Haft gerechtfertigt hätte, kommt hier nicht ernsthaft in Betracht. Die Betroffene ist bereits am 5.10.2010 und damit knapp drei Wochen nach der Beschwerdeentscheidung entlassen worden.
IV.
Rz. 18
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1, 430 FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, die Bundesrepublik Deutschland als derjenigen Körperschaft, der die Beteiligte zu 2) angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Betroffenen zu verpflichten (vgl. Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, juris Rz. 18). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Fundstellen