Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterliche Prognoseentscheidung des Abschiebehaft anordnenden Haftrichters. Zeitpunkt der Abschiebung
Leitsatz (amtlich)
Auch wenn der Haftrichter Abschiebungshaft für einen Zeitraum von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann.
Normenkette
AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4
Verfahrensgang
LG Dresden (Beschluss vom 16.09.2010; Aktenzeichen 2 T 738/10) |
AG Dresden (Beschluss vom 05.09.2010; Aktenzeichen 272 XIV 117/10) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des AG Dresden vom 5.9.2010 (XIV 117/10) und der Beschluss der 2. Zivilkammer des LG Dresden vom 16.9.2010 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in sämtlichen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3000 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Der Betroffene, der russischer Staatsangehöriger ist und aus Tschetschenien stammt, reiste am 5.9.2010 über Tschechien gemeinsam mit seiner schwangeren Ehefrau nach Deutschland ein. Die Eheleute verfügten nicht über einen Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet.
Rz. 2
Auf Antrag der Beteiligten zu 2) vom 5.9.2010 hat das AG nach persönlicher Anhörung des Betroffenen Sicherungshaft bis längstens 5.12.2010 verhängt und die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet. Im Rahmen der Anhörung stellte der Betroffene einen Asylantrag, nach dessen Eingang beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 9.9.2010 ein Asylverfahren eröffnet worden ist.
Rz. 3
Auf die gegen die Haftanordnung gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das LG die Haftdauer nach persönlicher Anhörung des Betroffenen bis längstens 4.11.2010 verkürzt und das Rechtsmittel im Übrigen zurückgewiesen. Am 5.10.2010 ist der Betroffene aus der Sicherungshaft entlassen worden.
Rz. 4
Mit der Rechtsbeschwerde möchte er die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen sowie die Feststellung der Rechtsverletzung erreichen.
II.
Rz. 5
Das Beschwerdegericht stützt die Sicherungshaft auf § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG. Der Betroffene werde sicher nicht untertauchen, solange über seinen Asylantrag noch nicht entschieden sei. Das ändere sich aber, wenn der Asylantrag zurückgewiesen werde. Dann sei die Versuchung groß unterzutauchen, um Zeit zu gewinnen. Denn die Zurückschiebung werde immer unwahrscheinlicher, je näher der Entbindungstermin der Ehefrau des Betroffenen rücke. Die Behörde müsse die Abläufe auf das Äußerste beschleunigen, zumal eine Flugreise mit voranschreitender Schwangerschaft kritisch zu sehen sei.
III.
Rz. 6
1. Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen ist trotz Erledigung ohne Zulassung statthaft (vgl. BGH, Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150 Rz. 10) und auch im Übrigen zulässig, § 71 FamFG. Allerdings ist die neben der Feststellung begehrte Aufhebung der Beschwerdeentscheidung infolge der Erledigung nicht mehr möglich. Der Antrag ist dem Rechtsschutzziel entsprechend dahingehend auszulegen, dass die Feststellung der Rechtswidrigkeit sowohl der Entscheidung des AG als auch des Beschwerdegerichts begehrt wird.
Rz. 7
2. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg, weil sowohl die Beschwerdeentscheidung als auch die Haftanordnung, die im Falle der Erledigung ebenfalls Gegenstand der Überprüfung ist (BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 184/09, FGPrax 2010, 152 Rz. 14; Beschl. v. 18.8.2010 - V ZB 119/10, Rz. 6, juris), einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten. Die Anordnung der Sicherungshaft war schon deshalb rechtswidrig, weil weder das AG noch das Beschwerdegericht die erforderliche Prognose gem. § 57 Abs. 3 i.V.m. § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG vorgenommen haben.
Rz. 8
a) Die Haftgerichte sind aufgrund von Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich und aufgrund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Insbesondere die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG notwendige Prognose hat der Haftrichter auf der Grundlage einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660; BGH, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 f. Rz. 14; Beschl. v. 20.1.2011 - V ZB 226/10, Rz. 15, juris).
Rz. 9
b) Auch wenn der Haftrichter eine Haftdauer von weniger als drei Monaten anordnet, muss er eine Prognose darüber treffen, ob die Abschiebung bei realistischer Betrachtung innerhalb dieser Zeit erfolgen kann. Das ergibt sich schon daraus, dass § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG eine Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist (vgl. BVerfG NJW 2009, 2659). Die Prognose muss sich grundsätzlich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Gründe erstrecken, die der Zurückschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rz. 22; Beschl. v. 18.8.2010 - V ZB 119/10, Rz. 22, juris). Zu der Feststellung, ob die Zurückschiebung innerhalb der angeordneten Haftdauer möglich ist, sind konkrete Angaben zum Ablauf des Verfahrens und eine Darstellung erforderlich, in welchem Zeitraum die einzelnen Schritte unter normalen Bedingungen durchlaufen werden können. Soweit die Ausländerbehörde keine konkreten Tatsachen hierzu mitteilt, obliegt es gemäß dem Gericht nachzufragen (Senat, Beschl. v. 6.5.2010 - , InfAuslR 2010, 361, 363; Beschl. v. 8.7.2010 - , Rz. 8, juris; Beschl. v. 18.8.2010 - V ZB 119/10, Rz. 22, a.a.O.).
Rz. 10
c) Diesen Anforderungen genügen die angefochtenen Entscheidungen nicht.
Rz. 11
aa) Aus der Entscheidung des AG geht eine Prognose nicht hervor. Die Tatsachengrundlage ist zudem unzureichend, weil sich der Entscheidung nicht entnehmen lässt, dass das Gericht überhaupt Kenntnis von dem Umstand hatte, dass der Betroffene in Begleitung seiner hochschwangeren Ehefrau eingereist war.
Rz. 12
bb) Ebenso wenig lässt sich der Entscheidung des Beschwerdegerichts die erforderliche Prognose entnehmen. Es hat allerdings den Sachverhalt weiter aufgeklärt und ist davon ausgegangen, dass angesichts der Schwangerschaft eine Zurückschiebung des Betroffenen nur gemeinsam mit seiner Ehefrau in Betracht kommen werde. Wegen der laufenden Asylverfahren und der bevorstehenden Entbindung hat das Beschwerdegericht allenfalls ein kurzes Zeitfenster für die Durchführung der Zurückschiebung gesehen. Diesen Umstand hat es zwar zum Anlass genommen, die Behörde auf das Erfordernis einer größtmöglichen Beschleunigung hinzuweisen und die Haft zu verkürzen. Die Durchführbarkeit der Abschiebung als solche hat es aber nicht geprüft. Dazu bestand schon deshalb Anlass, weil sich die Ehefrau den Feststellungen zufolge im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung bereits in der 28./29. Schwangerschaftswoche und damit am Beginn des achten Schwangerschaftsmonats befand. Dass eine Flugreise deshalb problematisch war, hat das Beschwerdegericht erörtert, ohne jedoch auf die nahe liegende Frage einzugehen, ob eine Zurückschiebung bei realistischer Betrachtung nicht schon aus diesem Grund scheitern musste. Im Hinblick darauf hätte es gem. § 26 FamFG Ermittlungen dazu durchführen müssen, ob der Gesundheitszustand der Ehefrau eine Flugreise noch erlaubte und ob sie von Seiten der Fluggesellschaften noch durchgeführt werden würde. Schließlich hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt, dass mit einer Entscheidung über die Asylanträge durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu einem Zeitpunkt gerechnet werden konnte, in dem die Zurückschiebung noch erfolgen konnte.
Rz. 13
Dass die gebotene, aber unterlassene Prognose die Haft gerechtfertigt hätte, kommt hier nicht ernsthaft in Betracht. Der Betroffene ist bereits am 5.10.2010 und damit knapp drei Wochen nach der Beschwerdeentscheidung entlassen worden.
IV.
Rz. 14
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 83 Abs. 2, 81 Abs. 1, 430 FamFG; unter Berücksichtigung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 EMRK entspricht es billigem Ermessen, der Bundesrepublik Deutschland als derjenigen Körperschaft, der die Beteiligte zu 2) angehört, zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (vgl. BGH, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, FGPrax 2010, 316, 317). Die Festsetzung des Beschwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Fundstellen