Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindungswirkung eines Vorlagebeschlusses. Durchführung des Musterverfahrens in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten
Leitsatz (amtlich)
a) Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das OLG entfällt, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann.
b) Die Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses für das OLG entfällt nicht, wenn der Vorlagebeschluss trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeignete Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens ist.
c) Fehler und Auslassungen des Vorlagebeschlusses bei der Bezeichnung der Beweismittel sowie der Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel können während des Musterverfahrens behoben werden und berechtigen das OLG daher nicht, den Vorlagebeschluss aufzuheben und an das Prozessgericht zurückzugeben.
Normenkette
KapMuG § 4 Abs. 1 S. 2 Hs. 2, Abs. 2 Nrn. 3-4
Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 11.03.2010; Aktenzeichen KAP 2/09) |
LG München I (Beschluss vom 12.11.2009; Aktenzeichen 27 O 13854/06) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerden der Kläger wird der Beschluss des Senats für Kapitalanleger-Musterverfahren des OLG München vom 11.3.2010 aufgehoben.
Die Sache wird an das OLG zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 52.631,58 EUR festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
I. Die Rechtsbeschwerdeführer machen - neben weiteren Klägern in gesonderten Verfahren - vor dem LG Schadensersatzansprüche wegen einer unzutreffenden Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1) geltend. Auf den Musterfeststellungsantrag der Kläger hat das LG am 12.11.2009 nach § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG beschlossen, eine Entscheidung des OLG "herbeizuführen zur beantragten Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 22.3.2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1) und 3) Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden".
Rz. 2
Die Gründe des Vorlagebeschlusses des LG geben von dem Klagevortrag Einzelheiten zum Einstieg der Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1) in die Formel-1-Rennserie des Automobilsports und zu den den Anlegern hierzu in der Ad-hoc-Mitteilung vom 22.3.2000 angeblich verschwiegenen Tatsachen wieder. Der im Vorlagebeschluss angegebene Zeitpunkt der Klageerhebung sowie das in Bezug genommene Klagevorbringen, wann und zu welchem Kurs Aktien der Beklagten zu 1) nach der Ad-hoc-Mitteilung erworben worden seien, betreffen dagegen offenkundig nicht die hiesigen Kläger, sondern die Klage eines Klägers aus einem Parallelverfahren vor dem LG.
Rz. 3
Mit Beschluss vom 11.3.2010 hat das OLG (OLG München ZIP 2011, 51) den Vorlagebeschluss in entsprechender Anwendung der für willkürlich ergangene Verweisungsbeschlüsse zu § 281 ZPO entwickelten Grundsätze aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Prüfung und Entscheidung an das LG zurückgegeben. Dagegen richtet sich die - vom OLG zugelassene - Rechtsbeschwerde der Kläger.
Rz. 4
II. Das OLG hat ausgeführt: Der Vorlagebeschluss leide an erheblichen Mängeln und sei daher keine taugliche Grundlage für das Musterverfahren. Die Bindungswirkung gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG bestehe nicht uneingeschränkt und entfalle, wenn der Vorlagebeschluss - wie hier - an schweren verfahrensrechtlichen Mängeln leide. Insoweit seien die von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Einschränkung der Bindung an einen Verweisungsbeschluss nach § 281 ZPO entsprechend heranzuziehen. Es könne offen bleiben, ob der Beschluss bereits deshalb aufzuheben sei, weil er unzureichende Feststellungen über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 KapMuG (Aufführung der weiteren Musterfeststellungsanträge sowie deren Inhalt und Eintragung) enthalte. Denn es fehlten jedenfalls entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 2 bis 4 KapMuG ausreichende Angaben zum Inhalt der geltend gemachten Ansprüche der Kläger, zu den vorgebrachten Streitpunkten und deren Entscheidungserheblichkeit sowie zu Angriffs- und Verteidigungsmitteln. Bereits der in den Gründen des Vorlagebeschlusses vorangestellte Klägervortrag betreffe offensichtlich nicht die hiesigen Kläger (andere Daten und Zahlen und einen anderen Klagezeitpunkt). Zum Vorbringen der Beklagten und zu den von diesen benannten Beweismitteln finde sich nichts.
Rz. 5
III. Die Rechtsbeschwerde der Kläger ist statthaft und zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Das OLG ist gem. § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 KapMuG an den Vorlagebeschluss des LG München I vom 12.11.2009 gebunden.
Rz. 6
1. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, weil das OLG im ersten Rechtszug sie in dem angefochtenen Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO). Der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde steht nicht entgegen, dass der Vorlagebeschluss nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 KapMuG unanfechtbar ist. Dieser Ausschluss der Anfechtbarkeit gilt nur für den Vorlagebeschluss selbst, nicht aber für eine Entscheidung des OLG, mit der der Vorlagebeschluss aufgehoben wird.
Rz. 7
2. Der - nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 KapMuG unanfechtbare - Vorlagebeschluss des Prozessgerichts ist nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 KapMuG für das OLG grundsätzlich bindend. Die Bindung ist im vorliegenden Fall entgegen der Auffassung der Vorinstanz weder eingeschränkt noch ausnahmsweise entfallen.
Rz. 8
a) Der angefochtenen Entscheidung ist allerdings darin zuzustimmen, dass bei Vorliegen bestimmter Umstände eine Bindungswirkung des Vorlagebeschlusses nicht besteht. Dies ist etwa der Fall, wenn der geltend gemachte Anspruch schon nicht Gegenstand eines Musterverfahrens sein kann. § 4 Abs. 1 Satz 2 KapMuG findet dann keine Anwendung (vgl. Fullenkamp in Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 4 Rz. 31; Parigger in Vorwerk/Wolf, KapMuG, § 9 Rz. 7; KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rz. 90; ebenso im Ergebnis KG, Musterentscheid vom 3.3.2009 - 4 Sch 2/06, juris Rz. 248, 258; vgl. zur Unanfechtbarkeit nach § 7 Abs. 1 Satz 4 KapMuG BGH, Beschl. v. 16.6.2009 - XI ZB 33/08, ZIP 2009, 1393 Rz. 10; Beschl. v. 8.9.2009 - XI ZB 4/09, juris Rz. 5; Beschl. v. 30.11.2010 - XI ZB 23/10, ZIP 2011, 147 Rz. 10 f.). Ein solcher Fall liegt hier indes nicht vor. Der geltend gemachte Anspruch kann Gegenstand eines Musterfeststellungsantrags sein, § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KapMuG. Mit der Feststellung, dass die Ad-hoc-Mitteilung vom 22.3.2000 unrichtig war und hierdurch gegen die Beklagten zu 1) und 3) Schadensersatzansprüche aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung begründet werden, sollen anspruchsbegründende Voraussetzungen zu Schadensersatzansprüchen wegen falscher Kapitalmarktinformation geklärt werden.
Rz. 9
b) Es kann dahinstehen, ob die Bindungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 KapMuG entfiele, wenn das Feststellungsziel auf die - nach der Rechtsprechung des BGH (BGH, Beschl. v. 10.6.2008 - XI ZB 26/07, BGHZ 177, 88 Rz. 24) unzulässige - Feststellung des Anspruchs selbst gerichtet wäre. Das Feststellungsziel des Vorlagebeschlusses ist nicht auf die Feststellung eines Schadensersatzanspruches aus § 826 BGB dem Grunde nach gerichtet. Im Vordergrund steht vielmehr erkennbar die Frage nach der Unrichtigkeit der Ad-hoc-Mitteilung der Beklagten zu 1) vom 22.3.2000 und damit nach dem Vorliegen einer einzelnen anspruchsbegründenden Voraussetzung. Jedenfalls darin liegt ein nach § 1 Abs. 1 Satz 1 KapMuG zulässiges Feststellungsziel.
Rz. 10
c) Ob die Bindungswirkung in entsprechender Anwendung der zu § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO entwickelten Rechtsprechung in Ausnahmefällen bei Willkürentscheidungen entfallen kann, wie das OLG in Übereinstimmung mit einem Teil der Literatur (vgl. KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rz. 87; Hanisch, Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzt [KapMuG]: Anwendungsfragen und Rechtsdogmatik, 2011, S. 281) angenommen hat, kann ebenfalls dahinstehen. Denn der Vorlagebeschluss des LG vom 12.11.2009 ist nicht im Sinne dieser Rechtsprechung willkürlich; er weist vielmehr lediglich einfache Rechtsfehler auf, die eine Durchbrechung der Bindungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 KapMuG nicht rechtfertigen (vgl. Hanisch, a.a.O., S. 285 f.).
Rz. 11
aa) Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses kann nach der zu § 281 ZPO ergangenen Rechtsprechung des BGH im Einzelfall dann entfallen, wenn er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs oder auf Willkür beruht. Willkür liegt erst dann vor, wenn dem Beschluss jede gesetzliche Grundlage fehlt. Dies ist insb. dann der Fall, wenn der Verweisungsbeschluss bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Es genügt aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist (BGH, Beschl. v. 15.3.1978 - IV ARZ 17/78, BGHZ 71, 69, 72 f.; Beschl. v. 10.12.1987 - I ARZ 809/87, BGHZ 102, 338, 341; Beschl. v. 22.6.1993 - X ARZ 340/93, NJW 1993, 2810, 2811; Beschl. v. 10.6.2003 - X ARZ 92/03, NJW 2003, 3201, 3202; Beschl. v. 13.12.2005 - X ARZ 223/05, NJW 2006, 847 Rz. 12 f.; Beschl. v. 20.8.2007 - X ARZ 247/07, NJW-RR 2008, 370 Rz. 6).
Rz. 12
bb) Der Vorlagebeschluss des LG München I vom 12.11.2009 ist zwar unvollständig und teilweise inhaltlich falsch. Willkürlich ist der Vorlagebeschluss aber nicht. Willkürlich ist ein Vorlagebeschlusses dann nicht, wenn er trotz einzelner Fehler und Auslassungen eine geeignete Grundlage für die Durchführung des Musterverfahrens darstellt. Der Vorlagebeschluss vom 12.11.2009 ist eine geeignete Grundlage, weil er den Anforderungen des § 4 Abs. 2 KapMuG im Wesentlichen entspricht. Insbesondere gibt der Vorlagebeschluss ein Feststellungsziel (§ 4 Abs. 2 Nr. 1 KapMuG) sowie Streitpunkte (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 KapMuG) an. Darüber hinaus bezeichnet er Beweismittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 KapMuG) und enthält eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts des erhobenen Anspruchs und der dazu vorgebrachten Angriffsmittel (§ 4 Abs. 2 Nr. 4 KapMuG). Es ist ohne Weiteres erkennbar, dass die Unrichtigkeit der Ad-hoc-Mitteilung vom 22.3.2000 sowie die darauf bezogene Kenntnis der Beklagten zu 2) und 3) im Rahmen der Anspruchsprüfung nach § 826 BGB festgestellt werden sollen.
Rz. 13
d) Das OLG war nicht berechtigt, aufgrund der zutreffend festgestellten Mängel den Vorlagebeschluss aufzuheben. Der Vorlagebeschluss ist mangelhaft, weil er sich entgegen § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 KapMuG nicht mit dem Vortrag der Beklagten und den dazu angetretenen Beweisen auseinandersetzt. Außerdem betrifft der den Gründen des Vorlagebeschlusses vorangestellte Klägervortrag offenkundig nicht die hiesigen Kläger und Rechtsbeschwerdeführer. Nach § 4 Abs. 2 Nr. 3 und 4 KapMuG hat der Vorlagebeschluss die bezeichneten Beweismittel und eine knappe Darstellung des wesentlichen Inhalts der erhobenen Ansprüche und der dazu vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel zu enthalten. Diese Punkte sollen es dem OLG ermöglichen, das Musterverfahren vorzubereiten. Der Vorlagebeschluss dient insoweit der ersten Strukturierung, Ordnung und Aufbereitung des Streitstoffes. Die im Vorlagebeschluss enthaltenen Tatsachenmitteilungen und Beweismittel bilden aber nicht bereits den abschließenden Verfahrensstoff des Musterverfahrens. Dieser ergibt sich vielmehr aus dem Vortrag der Beteiligten des Musterverfahrens (KK-KapMuG/Vollkommer, § 4 Rz. 62, Rz. 73 f. sowie § 9 Rz. 95 f.; vgl. auch § 10 KapMuG). Fehler des Vorlagebeschlusses in diesem Bereich können daher während des Musterverfahrens behoben werden.
Rz. 14
IV. Die Sache ist an das OLG zurückzuverweisen, das auf der Grundlage des Vorlagebeschlusses das Musterverfahren durchzuführen hat.
Rz. 15
Gemäß § 6 KapMuG ist das OLG zunächst verpflichtet, den Vorlagebeschluss nach dessen Eingang im Klageregister öffentlich bekannt zu machen. Eine Verzögerung dieser Eintragung aufgrund von Mängeln des Vorlagebeschlusses sieht § 6 KapMuG nicht vor.
Rz. 16
Das OLG kann allerdings in dem Umfang, in dem eine Bindung an den Vorlagebeschluss nach dem oben Gesagten nicht besteht, den Musterfeststellungsantrag im Musterentscheid ggf. (teilweise) als unzulässig zurückweisen. Bloße etwaige sprachliche Ungenauigkeiten kann es im Musterentscheid durch Auslegung korrigieren (vgl. Hanisch, a.a.O., S. 303 f.).
Fundstellen
BGHZ 2012, 383 |
BB 2011, 2306 |
BB 2011, 2640 |
DB 2011, 2254 |
NJW 2011, 8 |
EBE/BGH 2011 |
EWiR 2011, 683 |
JurBüro 2012, 53 |
NZG 2011, 1117 |
WM 2011, 1798 |
ZIP 2011, 1790 |
AG 2011, 748 |
MDR 2011, 1242 |
GWR 2011, 448 |