Verfahrensgang

LG Ingolstadt (Entscheidung vom 04.08.2020; Aktenzeichen 22 T 1834/20)

AG Ingolstadt (Entscheidung vom 13.07.2020; Aktenzeichen 1 XIV 192/20)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss der 2. Zivilkammer des Landgerichts Ingolstadt vom 4. August 2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Antrag des Betroffenen auf Feststellung, dass der Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt vom 13. Juli 2020 ihn in seinen Rechten verletzt hat, zurückgewiesen worden ist.

Es wird festgestellt, dass der Betroffene durch die in dem Beschluss des Amtsgerichts Ingolstadt vom 13. Juli 2020 angeordnete Haft in seinen Rechten verletzt worden ist.

Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik Deutschland auferlegt.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.

 

Gründe

Rz. 1

I. Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, hält sich seit 2015 in Deutschland auf. Er verfügte nach Ablehnung seines Asylantrags über eine bis 14. Juli 2020 befristete Duldung. Am 2. Juli 2020 wurde er aus Italien kommend an der Bundesgrenze aufgegriffen, wobei er sich nur mit einem deutschen Führerschein ausweisen konnte. Die Einreise wurde ihm verweigert. Auf Antrag der beteiligten Behörde vom 3. Juli 2020 wurde ohne Anhörung des Betroffenen vorläufig bis zum 17. Juli 2020 Zurückweisungshaft angeordnet.

Rz. 2

Mit am 9. Juli 2020 eingegangenem Schriftsatz zeigte ein Rechtsanwalt die Vertretung des Betroffenen an. Am Morgen des 13. Juli 2020 terminierte das Amtsgericht die Anhörung des Betroffenen auf den gleichen Tag um 14.30 Uhr. Die beteiligte Behörde stellte sodann einen Antrag auf Anordnung der Freiheitsentziehung zur Sicherung der Zurückweisungshaft bis zum 18. September 2020. Nachdem dem Richter die Vertretungsanzeige vom 9. Juli 2020 mittags vorgelegt worden war, wurde der Verfahrensbevollmächtigte per Telefax zu dem Termin um 14.30 Uhr geladen. Er beantragte Terminsverlegung, weil er angesichts der Entfernung in der Kürze der Zeit nicht teilnehmen könne.

Rz. 3

Das Amtsgericht hat den Betroffenen gleichwohl angehört und Haft bis zum 18. September 2020 angeordnet. Das Beschwerdegericht hat den Betroffenen im Beisein seines Verfahrensbevollmächtigten am 30. Juli 2020 angehört. Mit Beschluss vom 4. August 2020 hat es die Haft gegen eine Meldeauflage außer Vollzug gesetzt und die weitergehende - auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft gerichtete - Beschwerde zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.

Rz. 4

II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

Rz. 5

1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, fehlerhaft habe das Amtsgericht zwar dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen die Teilnahme an der Anhörung nicht ermöglicht. Der Betroffene habe sich aber vollständig und interessengerecht selbst vertreten können. Auch bei der Anhörung im Beschwerdeverfahren seien keine weiteren sachdienlichen Argumente vorgetragen worden. Der Verfahrensfehler sei daher für die Entscheidung nicht ursächlich geworden. Bei zusammenfassender Abwägung und Berücksichtigung der verfahrensbezogenen Umstände sei die Außervollzugsetzung des Haftbefehls gegen Anordnung von Meldeauflagen geeignet, der Besonderheit des Falls Rechnung zu tragen. Wie der Betroffene im Rahmen seiner Anhörung dargestellt habe, sei seine Ausreise und versuchte Wiedereinreise erfolgt, um von tragischem Schicksal getroffener Verwandtschaft Unterstützung zu leisten. Auch spreche für den Betroffenen, dass er sich bei seinem fünfjährigen illegalen Aufenthalt zumindest nicht nachweislich eines strafbaren Vergehens schuldig gemacht habe. Zuletzt verblieben hinsichtlich der tatsächlichen Durchführbarkeit der Abschiebung gerichtsbekannt Zweifel.

Rz. 6

2. Die Zurückweisung der Beschwerde hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Amtsgericht hat durch seine Verfahrensgestaltung bei Anordnung der Haft das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren verletzt. Auf seinen Antrag ist deshalb festzustellen, dass der Vollzug der Haftanordnung vom 13. Juli 2020 ihn in seinen Rechten verletzt hat.

Rz. 7

a) Der Grundsatz des fairen Verfahrens garantiert jedem Betroffenen das Recht, sich in einem Freiheitsentziehungsverfahren von einem Bevollmächtigten seiner Wahl vertreten zu lassen und diesen zu der Anhörung hinzuzuziehen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Juli 2014 - V ZB 32/14, InfAuslR 2014, 442 Rn. 8, vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7, und vom 22. Juni 2021 - XIII ZB 92/20, z. Veröff. best.). Erfährt oder weiß das Gericht, dass der Betroffene einen Rechtsanwalt hat, muss es dafür Sorge tragen, dass dieser von dem Termin in Kenntnis gesetzt und ihm die Teilnahme an der Anhörung ermöglicht wird; gegebenenfalls ist unter einstweiliger Anordnung einer nur kurzen Haft nach § 427 FamFG ein neuer Termin zu bestimmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Oktober 2018 - V ZB 69/18, InfAuslR 2019, 152 Rn. 5, und vom 7. April 2020 - XIII ZB 84/19, juris Rn. 9 f.). Vereitelt das Gericht durch seine Verfahrensgestaltung eine Teilnahme des Bevollmächtigten an der Anhörung, führt dies ohne Weiteres zur Rechtswidrigkeit der Haft; es kommt in diesem Fall nicht darauf an, ob die Anordnung der Haft auf dem Fehler beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. April 2017 - V ZB 59/16, InfAuslR 2017, 292 Rn. 7, und vom 12. November 2019 - XIII ZB 34/19, juris Rn. 7).

Rz. 8

b) Danach hat das Amtsgericht den Grundsatz des fairen Verfahrens bei der Anordnung der Haft verletzt, weil es dem Rechtsanwalt des Betroffenen eine Teilnahme an der Anhörung nicht ermöglicht hat. Es hat die Anhörung durchgeführt, obwohl schon bei der Ladung ersichtlich war, dass der Bevollmächtigte aufgrund der Entfernung nicht werde teilnehmen können, der Bevollmächtigte einen Verlegungsantrag gestellt hatte und der Betroffene in der Anhörung angegeben hat, ohne seinen Rechtsanwalt nichts (weiter) sagen zu wollen.

Rz. 9

c) Eine Heilung des Verfahrensfehlers durch eine Nachholung der Anhörung des Betroffenen ist zwar grundsätzlich mit Wirkung für die Zukunft möglich (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020 - XIII ZB 123/19, juris Rn. 14 mwN). Hier hat die Anhörung aber zu einer Außervollzugsetzung des Haftbefehls durch das Beschwerdegericht und zu der Entlassung des Betroffenen geführt. Damit hat die gesamte auf der Grundlage der amtsgerichtlichen Entscheidung vollzogene Haft den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

Rz. 10

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

Meier-Beck   

Richterin Prof. Dr. Schmidt-Räntsch

ist infolge Versetzung

an eine oberste Bundesbehörde

an der Unterschrift

gehindert.

Kirchhoff

Meier-Beck

Roloff   

   Tolkmitt   

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15319532

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