Leitsatz (amtlich)
Dem Europäischen Gerichtshof wird die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob die in Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO vorgesehene Wartefrist von einem Jahr (sechs Monaten) für den Antragsteller erst mit der Begründung seines gewöhnlichen Aufenthalts im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts zu laufen beginnt oder ob es genügt, wenn bei Beginn der maßgeblichen Wartefrist zunächst nur ein schlichter Aufenthalt des Antragstellers im Staat des angerufenen Gerichts besteht und sich sein Aufenthalt erst danach im Zeitraum bis zur Antragstellung zu einem gewöhnlichen Aufenthalt verfestigt.
Normenkette
EGV 2201/2003 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a
Verfahrensgang
OLG Hamm (Entscheidung vom 01.09.2020; Aktenzeichen I-11 UF 187/18) |
AG Hamm (Entscheidung vom 17.09.2018; Aktenzeichen 31 F 377/13) |
Tenor
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung von Art. 3 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (Brüssel IIa-VO) folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Beginnt die Wartefrist von einem Jahr bzw. sechs Monaten gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO für den Antragsteller erst mit der Begründung seines gewöhnlichen Aufenthalts im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts zu laufen oder genügt es, wenn bei Beginn der maßgeblichen Wartefrist zunächst nur ein schlichter Aufenthalt des Antragstellers im Staat des angerufenen Gerichts besteht und sich sein Aufenthalt erst danach im Zeitraum bis zur Antragstellung zu einem gewöhnlichen Aufenthalt verfestigt?
Gründe
Rz. 1
A. Sachverhalt
Rz. 2
Das Verfahren betrifft die Scheidung der Ehe zwischen dem 1959 geborenen Antragsteller (im Folgenden: Ehemann), der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, und der 1969 geborenen Ehefrau (im Folgenden: Ehefrau), die polnische Staatsangehörige ist. Die Beteiligten schlossen im Jahr 2000 in K. -J. (Polen) in der Nähe von Warschau die Ehe. Aus ihrer Ehe sind im Jahr 2003 geborene Zwillingssöhne hervorgegangen.
Rz. 3
Nachdem die Beteiligten zunächst einige Jahre in Deutschland gelebt hatten, zogen sie Mitte der 2000er Jahre nach Polen in ein von ihnen in K. -J. errichtetes Familienheim, in dem die Ehefrau bis heute lebt. Die Beteiligten sind daneben gemeinschaftliche Eigentümer einer Wohnung in Warschau, die bis zum September 2012 vermietet war und danach zur Verfügung der Beteiligten stand.
Rz. 4
Der Ehemann war als leitender Angestellter eines globalen Arzneimittelherstellers beschäftigt. Seit April 2010 wurde er aufgrund eines Entsendevertrages zwischen seinem Arbeitgeber und dessen niederländischem Schwesterunternehmen als Geschäftsführer der sog. Region Europa-Mitte eingesetzt, zu der unter anderen Polen und die Niederlande gehören, nicht aber Deutschland. Seine Tätigkeit ist in hohem Maße durch Dienstreisen und Heimarbeit geprägt. Sein Arbeitgeber stellte ihm in Aerdenhout (Niederlande) eine Dienstwohnung, die er - auch nach der Schließung der niederländischen Geschäftsräume seines Arbeitgebers im Sommer 2012 - bis zum Ablauf des Entsendevertrages Ende 2013 aufrechterhielt. In seinem Geburtsort H. (Deutschland) steht dem Ehemann eine eigene Wohnung in einem von seinen Eltern bewohnten Haus zur Verfügung, die während der Ehe von den Beteiligten und ihren Kindern auch zum Aufenthalt während ihrer Besuche in Deutschland genutzt wurde.
Rz. 5
Der Ehemann hat am 27. Oktober 2013 einen Scheidungsantrag bei dem Amtsgericht H. anhängig gemacht. Er hat die Auffassung vertreten, dass sich sein gewöhnlicher Aufenthalt spätestens seit Mitte 2012 in H. befunden habe. Er hat behauptet, die Ehewohnung in K. -J. im Juni 2012 verlassen zu haben. Seit Juni 2012 habe er in H. das Verhältnis zu seiner Lebensgefährtin vertieft und regelmäßig seine erkrankten Eltern betreut. Seine Aufenthalte in Polen hätten sich auf Umgangskontakte mit den beiden Söhnen beschränkt, die stets mit beruflichen Anlässen verbunden gewesen seien.
Rz. 6
Die Ehefrau hat die fehlende internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte gerügt und behauptet, dass der Ehemann das Familienheim in K. -J. erst nach den Osterfeiertagen Anfang April 2013 verlassen und danach in der gemeinsamen Eigentumswohnung in Warschau gewohnt habe. Die beiden Söhne seien im zweiten Schulhalbjahr 2012/2013 im täglichen Wechsel von beiden Beteiligten aus der Übermittagsbetreuung in der Schule in Warschau abgeholt worden. Zwischen April und November 2013 habe sich der Ehemann fast ausschließlich in den Niederlanden oder in Polen aufgehalten.
Rz. 7
Am 19. November 2013 hat die Ehefrau ihrerseits in Polen bei dem Bezirksgericht in Warschau (Sąd Okręgowy w Warszawie) einen Scheidungsantrag anhängig gemacht.
Rz. 8
Das Amtsgericht hat die deutschen Gerichte für international unzuständig gehalten und den Antrag als unzulässig zurückgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Beschwerde des Ehemanns zurückgewiesen. Gegen diese Entscheidung richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde des Ehemanns, der eine Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht und eine sachliche Behandlung seines Scheidungsantrags erstrebt.
Rz. 9
B. Zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof
Rz. 10
Der Erfolg der Rechtsbeschwerde des Ehemanns hängt von der Auslegung von Art. 3 Abs. 1 lit. a der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (im Folgenden: Brüssel IIa-VO) ab. Vor einer Entscheidung ist das Verfahren deshalb auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a und Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
I.
Rz. 11
Das Beschwerdegericht hat die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte verneint, weil am 27. April 2013 - mithin sechs Monate vor Einreichung seines Scheidungsantrags bei dem Amtsgericht H. - (noch) kein gewöhnlicher Aufenthalt des Ehemanns in Deutschland feststellbar sei und sich der Ehemann aus diesem Grund nicht auf den Klägergerichtsstand gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO berufen könne. Dazu hat das Beschwerdegericht das Folgende ausgeführt:
Rz. 12
Der Ehemann habe - unabhängig von der durch Heimarbeit und zahlreiche Dienstreisen geprägten Berufstätigkeit - seinen gewöhnlichen Aufenthalt ursprünglich in Polen gehabt, weil er sich dort mit der Ehefrau und den Kindern als seinen engsten Angehörigen dauerhaft niedergelassen habe. Die Trennung der Eheleute allein habe für den Ehemann noch keine Verlagerung seines gewöhnlichen Aufenthalts bedeutet, weil ein bloßer Wohnungswechsel innerhalb Polens an seinem tatsächlichen Lebensmittelpunkt in Polen nichts geändert hätte. Zu welchem konkreten Zeitpunkt sich die Beteiligten getrennt hätten, sei deshalb für die Frage nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Ehemanns allenfalls mittelbar von Bedeutung. Der Ehemann habe erstmals für die Zeit seit Mitte 2012 greifbare tatsächliche Umstände dargelegt, die eine Verlagerung seines Lebensmittelpunkts von Polen nach Deutschland in Betracht kommen ließen. Hierzu zählten neben dem besonderen Hilfebedürfnis seiner Eltern und der „Vertiefung“ des Verhältnisses zu seiner Lebensgefährtin auch die Aufgabe der Geschäftsräume seines Arbeitgebers in den Niederlanden. Allerdings spreche bereits das eigene Vorbringen des Ehemanns dagegen, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt bereits zwischen Juni 2012 und April 2013 nach Deutschland verlagert habe. Gegenüber den Finanzbehörden habe er im Februar 2013 in einem von seinem Steuerberater übersandten Fragebogen angegeben, dass sich sein Lebensmittelpunkt (centre of vital interests) im gesamten Jahr 2012 in Polen befunden habe und auch nicht von dort wegverlegt worden sei. Es sei unglaubhaft, wenn der Ehemann diese Angaben nunmehr bezüglich der zweiten Jahreshälfte 2012 als Versehen betrachtet wissen wolle. Die Behauptung des Ehemanns, er sei seit Oktober 2012 nur noch zu Umgangskontakten mit seinen Kindern nach Polen gereist, lasse sich nicht mit seinem Reisekalender und den darin dokumentierten Aufenthaltszeiten in Polen in Einklang bringen. Die besonders enge Beziehung des Ehemanns zu seinen beiden Söhnen sei allerdings ohne weiteres glaubhaft und spreche gegen die frühzeitige Aufgabe seines Lebensmittelpunktes in Polen. Nach der Bescheinigung der Schule in Warschau seien die Kinder im zweiten Schulhalbjahr 2012/2013 bis zu den Sommerferien abwechselnd von den beiden Eltern abgeholt worden. Demgegenüber lasse sich aus den Aufstellungen des Ehemanns über die Aufenthaltszeiten in Deutschland zwischen Juni 2012 und April 2013 keine Verlagerung des Lebensmittelpunkts, insbesondere kein erhöhter Betreuungsbedarf seiner Eltern und auch keine Vertiefung der Beziehung zu seiner neuen Lebensgefährtin ablesen. Die Angaben der von dem Ehemann für seinen Aufenthalt in Deutschland benannten Zeugen seien teilweise unergiebig und im Übrigen unglaubhaft. Auch unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme könne deshalb zumindest für die Zeit bis zum 29. Juni 2013, als das Schuljahr für die beiden Söhne der Beteiligten endete und die Sommerferien in der Woiwodschaft Masowien (Województwo mazowiecki) begannen, allenfalls ein einfacher Aufenthalt des Ehemanns in Deutschland, nicht aber eine bereits abgeschlossene Verlegung seines Lebensmittelpunkts nach Deutschland festgestellt werden. Dies gelte erst recht, weil der Ehemann seit Oktober 2012 die Wohnung der Beteiligten in Warschau für eigene Zwecke habe nutzen können.
II.
Rz. 13
Die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde hängt von der Beantwortung der Vorlagefrage zur Auslegung von Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO ab.
Rz. 14
1. Zutreffend sind zunächst die rechtlichen Ausgangspunkte des Oberlandesgerichts.
Rz. 15
a) Das Oberlandesgericht hat zu Recht angenommen, dass sich eine internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte im Streitfall aus Art. 3 Abs. 1 lit. a sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO ergeben kann. Nach dieser Vorschrift sind für Entscheidungen über die Ehescheidung die Gerichte des Mitgliedsstaats zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit mindestens sechs Monaten unmittelbar vor der Antragstellung aufgehalten hat und Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats ist. Der Europäische Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die an die Staatsangehörigkeit anknüpfende Privilegierung, die einem Antragsteller die Anrufung der Gerichte seines Heimatmitgliedstaats bereits nach einer sechsmonatigen Aufenthaltsdauer ermöglichen, während ansonsten gemäß Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter Spiegelstrich Brüssel IIa-VO ein Scheidungsantrag erst nach einer Aufenthaltsdauer von einem Jahr eingereicht werden kann, nicht gegen das in Art. 18 AEUV verankerte Diskriminierungsverbot verstößt (vgl. EuGH Urteil vom 10. Februar 2022 - Rs. C-522/20 - FamRZ 2022, 509 Rn. 40 f.).
Rz. 16
b) Ebenfalls zutreffend ist das Oberlandesgericht davon ausgegangen, dass der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ verordnungsautonom und einheitlich auszulegen ist (vgl. EuGH Urteile vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 38 f. und vom 28. Juni 2018 - Rs. 512/17 - FamRZ 2018, 1426 Rn. 40).
Rz. 17
Dabei ist zwischenzeitlich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt, dass auch ein Ehegatte, der sein Leben in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten verbringt, seinen „gewöhnlichen“ Aufenthalt nur in einem dieser Mitgliedstaaten haben kann (vgl. EuGH Urteil vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 51). Die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts ist im Wesentlichen eine Tatsachenfrage, die das nationale Gericht anhand aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen hat (vgl. EuGH Urteile vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 52 und vom 22. Dezember 2010 - Rs. C-497/10 PPU [Mercredi] - FamRZ 2011, 617 Rn. 47). Der gewöhnliche Aufenthalt wird dabei grundsätzlich durch zwei Elemente gekennzeichnet, nämlich zum einen subjektiv durch den Willen des Betroffenen, den gewöhnlichen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen an einen bestimmten Ort zu legen (animus manendi), und zum anderen objektiv durch eine hinreichend dauerhafte Anwesenheit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats (vgl. EuGH Urteil vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 57 f.). Bei der Bestimmung des Lebensmittelpunkts eines erwachsenen Ehegatten ist sein - im Vergleich zu Kindern - vielfältigeres Umfeld mit einem erheblich breiteren Spektrum an beruflichen, privaten, familiären, soziokulturellen und vermögensbezogenen Aktivitäten und Interessen zu berücksichtigen. Dabei dürfte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs insbesondere davon auszugehen sein, dass in Zeiten der Ehekrise dem subjektiven Element, nämlich dem nach außen manifestierten Willen eines Ehegatten, sich von seinem Partner zu trennen und sich im Rahmen einer neuen Lebensplanung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Mitgliedstaat des früheren gemeinsamen Aufenthalts niederzulassen, besondere Bedeutung bei der Bestimmung seines gewöhnlichen Aufenthalts beizumessen ist (vgl. EuGH Urteil vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 55 f.).
Rz. 18
c) Ebenfalls aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist die Auffassung des Oberlandesgerichts, dass in Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO vorgesehene Wartefrist von sechs Monaten (einem Jahr) nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift unmittelbar vor der Stellung des Scheidungsantrags erfüllt sein muss. Dies dürfte in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zwischenzeitlich auch geklärt sein (vgl. EuGH Urteil vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 59).
Rz. 19
2. Das Oberlandesgericht ist offensichtlich davon ausgegangen, dass sich der Ehemann zumindest im Zeitpunkt der Einreichung des Scheidungsantrags am 27. Oktober 2013 gewöhnlich in Deutschland aufgehalten hat. Diese - für den Ehemann günstige - Wertung ist für das Rechtsbeschwerdeverfahren zu unterstellen. Demgegenüber meint das Oberlandesgericht, dass die von ihm getroffenen Feststellungen in der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht die Wertung rechtfertigen können, der Ehemann habe auch schon sechs Monate vor der Stellung seines Scheidungsantrags - mithin am 27. April 2013 - seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt. Diese tatrichterliche Würdigung lässt keine Rechtsfehler erkennen und ist daher für den Bundesgerichtshof bindend.
Rz. 20
a) Die Zuständigkeitsvorschriften der Brüssel IIa-VO enthalten keine ausdrücklichen Regelungen dazu, wie die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten bei der Feststellung der für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit bedeutsamen tatsächlichen Umstände zu verfahren haben. Maßgeblich sind daher unter Berücksichtigung der Grundsätze von Äquivalenz und Effektivität die jeweiligen Verfahrensvorschriften des nationalen Rechts. Das nationale Verfahrensrecht entscheidet darüber, ob das Gericht die zuständigkeitsrelevanten Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln hat oder ob sie von den Beteiligten selbst beigebracht werden müssen (vgl. bereits Schlosser, Bericht zu dem Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zum EuGVÜ sowie zum Protokoll betreffend die Auslegung dieses Übereinkommens durch den Gerichtshof, ABl. EG 1979 Nr. C 59 S. 71, 81 f. Rn. 22). Werden diese Verfahrensvorschriften - wie das deutsche Recht - vom Beibringungsgrundsatz beherrscht, trifft das Gericht seine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen. Über die Verteilung der Beweislast lässt sich Art. 3 Abs. 1 Brüssel IIa-VO unmittelbar nichts entnehmen. Es entspricht jedoch auch im europäischen Zivilprozessrecht den üblichen Regeln zur Beweislast, dass diejenige Person, die sich auf einen bestimmten Gerichtsstand berufen will, die zuständigkeitsbegründenden Tatsachen darzulegen und zu beweisen hat (in diesem Sinne bereits EuGH Urteil vom 20. Januar 2005 - Rs. C-464/01 [Gruber/BayWa AG] - NJW 2005, 653 Rn. 46 zur Beweislast für die Verbrauchereigenschaft im Rahmen von Art. 13 bis 15 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. November 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen).
Rz. 21
b) Der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Bei der Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter unbestimmte Rechtsbegriffe hat das Rechtsbeschwerdegericht nach deutschem Verfahrensrecht den tatrichterlichen Beurteilungsspielraum zu respektieren. Es darf regelmäßig nur überprüfen, ob der Tatrichter den Rechtsbegriff richtig erfasst hat, ob er den Sachverhalt verfahrensfehlerfrei festgestellt hat, ob er wesentliche Tatumstände übersehen oder nicht vollständig gewürdigt hat und ob seine Wertung gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (vgl. BGH Urteile vom 7. Oktober 2015 - VIII ZR 247/14 - NJW 2015, 3780 Rn. 25 und vom 12. März 2003 - VIII ZR 197/02 - NJW-RR 2003, 981 f. mwN; vgl. auch Senatsbeschluss vom 9. Juli 2014 - XII ZB 661/12 - FamRZ 2014, 1536 Rn. 39 ff.). Bewegt sich der Tatrichter innerhalb dieses Rahmens, sind seine Feststellungen und Wertungen für das Rechtsbeschwerdegericht bindend (§ 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG iVm § 559 Abs. 2 ZPO). Gemessen an diesem Prüfungsmaßstab ist die in tatrichterlicher Verantwortung getroffene Beurteilung des Oberlandesgerichts, der Ehemann habe am 27. April 2013 seinen gewöhnlichen Aufenthalt (noch) nicht in Deutschland gehabt, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Rz. 22
aa) Im Ausgangspunkt zieht die Rechtsbeschwerde ersichtlich nicht in Zweifel, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt des Ehemanns ungeachtet seiner häufigen beruflich veranlassten Auslandsreisen und seiner in verschiedenen Ländern (Polen, Deutschland, Niederlande) unterhaltenen Wohnungen zumindest bis zur Trennung der Eheleute, die der Ehemann auf Juni 2012 datiert, in Polen befand. In diesem Land lebte er mit der Ehefrau und seinen Kindern als seinen engsten Angehörigen in einem Familienheim. Das Oberlandesgericht hat sich daher zu Recht die Frage vorgelegt, ob und gegebenenfalls zu welchem Zeitpunkt die tatsächlichen Umstände des vorliegenden Falls für den Zeitraum seit Juni 2012 in einer Gesamtbetrachtung die Annahme rechtfertigen, dass der Ehemann den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen von Polen nach Deutschland verlegt hat.
Rz. 23
bb) Die quantitative Auswertung der Aufenthaltstage des Ehemanns in den verschiedenen Staaten liefert dabei für den Zeitraum zwischen Juli 2012 und Juni 2013 keinen eindeutigen Befund. Die Aufenthaltszeiten hat das Oberlandesgericht auf der Grundlage der eigenen Angaben des Ehemanns wie folgt festgestellt:
|
|
1. Halbj. 2012 |
2. Halbj. 2012 |
1. Halbj. 2013 |
2. Halbj. 2013 |
Polen |
70 Tage |
41 Tage |
66 Tage |
56 Tage |
Deutschland |
42 Tage |
71,5 Tage |
70,5 Tage |
108 Tage |
Niederlande und sonstige Staaten |
70 Tage |
71,5 Tage |
44,5 Tage |
20 Tage |
Rz. 24
Rz. 25
Zwar trifft es danach zu, dass sich der Ehemann im ersten Halbjahr 2012 aus privaten und beruflichen Gründen noch 70 Tage in Polen und lediglich 42 Tage in Deutschland aufgehalten hatte und sich dieses Verhältnis im zweiten Halbjahr 2012 praktisch umkehrte. Demgegenüber lässt sich aber für das erste Halbjahr 2013 schon nicht mehr feststellen, dass sich der Ehemann signifikant häufiger in Deutschland als in Polen aufgehalten hätte. Davon, dass der Ehemann im zweiten Halbjahr 2013 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte, geht das Oberlandesgericht selbst aus.
Rz. 26
cc) In rechtlich bedenkenfreier Weise hat sich das Oberlandesgericht daher eine qualitative Schwerpunktbestimmung vorgenommen und vorrangig die privaten und familiären Interessen des Ehemanns in den Blick genommen. Dabei hat das Oberlandesgericht erwogen, dass der Ehemann im Zeitraum zwischen 2012 und 2013 sowohl zu seinen pflegebedürftigen Eltern und seiner neuen Lebensgefährtin in Deutschland als auch zu seinen beiden Söhnen in Polen starke familiäre und persönliche Verbindungen unterhielt.
Rz. 27
Die Aufrechterhaltung einer intensiven persönlichen Bindung zu den beiden in Polen lebenden Kindern spricht für sich genommen zwar noch nicht gegen die Annahme, dass der Ehemann den Schwerpunkt seiner Lebensinteressen nach der Trennung nach Deutschland verlegt haben könnte, weil es einem Ehegatten, der in einer Ehekrise beschließt, den früheren gewöhnlichen Aufenthalt des Ehepaars zu verlassen, um sich in einem anderen Mitgliedsstaat niederzulassen und dort einen Scheidungsantrag zu stellen, grundsätzlich freigestellt bleibt, eine Reihe von sozialen und familiären Verbindungen im Hoheitsgebiet des Mitgliedsstaats zu behalten, in dem sich der frühere gemeinsame Aufenthalt der beiden Ehegatten befunden hat (vgl. EuGH Urteil vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 55).
Rz. 28
Das Oberlandesgericht hat die familiäre Verbindung zu seinen Söhnen bei der Bestimmung des Schwerpunkts der Lebensinteressen des Ehemanns aber deshalb für ausschlaggebend gehalten, weil der Ehemann gerade nicht nachweisen konnte, dass sich sein Kontakt zu seinen in Polen verbliebenen Kindern lediglich auf Umgangskontakte in einem typischen Umfang beschränkte. Vielmehr hat das Oberlandesgericht festgestellt, dass der Ehemann noch bis zu den Sommerferien 2013 in ganz erheblichem Umfang in die nachschulische Betreuung seiner Söhne eingebunden gewesen ist. Dabei durfte das Oberlandesgericht in tatrichterlicher Verantwortung aus der von der Ehefrau vorgelegten Bescheinigung der W.-Schule in Warschau vom 8. März 2014 jedenfalls den Schluss ziehen, dass der Ehemann bei der Abholung der Kinder aus der Schule nicht erkennbar weniger in Erscheinung getreten war als die Ehefrau. Schließlich durfte das Oberlandesgericht bei seinen Erwägungen auch berücksichtigen, dass dem Ehemann - unabhängig von der zwischen den Beteiligten streitigen Frage, wie oft er sich zwischen Juli 2012 und April 2013 noch in der früheren Ehewohnung in K. -J. aufgehalten hatte - zumindest seit Oktober 2012 zu Wohnzwecken die Eigentumswohnung in Warschau zur Verfügung stand und er deshalb zur Deckung seiner Wohnbedürfnisse in Polen nicht (mehr) auf Hotelaufenthalte angewiesen war.
Rz. 29
cc) Entgegen den Angriffen der Rechtsbeschwerde hat das Oberlandesgericht bei seiner Wertung auch nicht wesentliche Tatumstände übersehen oder unvollständig gewürdigt.
Rz. 30
(1) Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht den melderechtlichen Verhältnissen, wonach der Ehemann in Deutschland bereits seit dem 18. März 2011 mit seinem alleinigen Wohnsitz in H. und in Polen lediglich für die Zeit vom 9. November 2010 bis zum 17. Oktober 2012 zum vorübergehenden Aufenthalt in K. -J. gemeldet war (zameldowania na pobyt czasowy), keine ausschlaggebende Bedeutung beigemessen hat. Wie die Rechtsbeschwerde im Ausgangspunkt nicht verkennt, sind die melderechtlichen Verhältnisse nur bedingt aussagekräftig und können allenfalls ein Indiz für den tatsächlichen Lebensmittelpunkt darstellen (vgl. auch Senatsbeschlüsse vom 15. März 1995 - XII ARZ 37/94 - FamRZ 1995, 1135 und vom 7. Februar 1990 - XII ARZ 1/90 - NJW-RR 1990, 506, 507). Eine Indizwirkung der Meldeverhältnisse für den gewöhnlichen Aufenthalt konnte das Oberlandesgericht aber schon mit Blick darauf verneinen, dass der Ehemann selbst gegenüber den Finanzbehörden erklärt hatte, dass sich sein Lebensmittelpunkt während des gesamten Jahres 2012 in Polen befunden habe und auch nicht von dort wegverlegt worden sei. Es ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht dieser Erklärung des Ehemanns in einem Fragebogen seines Steuerberaters bei der Beweiswürdigung besondere Bedeutung beigemessen hat, weil sie zu einem Zeitpunkt (im Februar 2013) abgegeben worden ist, als noch ausgeschlossen erschien, dass ihr Inhalt durch deren mögliche Bedeutung für dieses Verfahren beeinflusst worden sein könnte.
Rz. 31
(2) Auch die von dem Ehemann vorgelegten Kontoauszüge aus dem Zeitraum von Oktober 2012 bis Oktober 2013 sind nicht geeignet, die Beurteilung des Oberlandesgerichts grundlegend in Frage zu stellen. Unabhängig davon, dass diese zum Teil geschwärzt sind, können sie (lediglich) belegen, dass der Ehemann in der Zeit, in der er sich in Deutschland aufgehalten hat, dort auch Kosten für die Lebensführung bestritten hat. Davon, dass sich der Ehemann in den Jahren 2012 und 2013 über längere Zeiträume in Deutschland aufgehalten hatte, ging das Oberlandesgericht auf der Grundlage seiner Feststellungen zu den Aufenthaltszeiten aber ohnehin selbst aus.
Rz. 32
(3) Auch die Rüge der Rechtsbeschwerde, dass das Oberlandesgericht die Aussagen der im Wege der Rechtshilfe vernommenen polnischen Zeugen nicht kritisch gewürdigt habe, obwohl der Ehemann in der Beschwerdebegründung auf Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten in diesen Aussagen hingewiesen habe, greift nicht durch. Denn auf den Inhalt der Aussagen der polnischen Zeugen stützt sich die Entscheidung des Oberlandesgerichts - aus seiner Sicht auch folgerichtig - nicht, weil es für seine Würdigung insbesondere nicht darauf ankam, wann der Ehemann die frühere Ehewohnung in K. -J. (endgültig) verlassen hatte.
Rz. 33
dd) Wenn das Oberlandesgericht nach alledem unter den obwaltenden Umständen eine Zäsur bezüglich der Verlagerung des Schwerpunkts der Lebensinteressen des Ehemanns nicht bereits im Juni 2012 (Trennung der Eheleute), sondern angesichts der fortbestehenden Betreuungsleistungen des Ehemanns für die beiden schulpflichtigen Kinder der Beteiligten erst im Juli 2013 (Beginn der Sommerferien in der Wojewodschaft Masowien) erkannt hat, mag diese Würdigung mit Rücksicht darauf, dass die stärksten sprachlichen und soziokulturellen Bindungen des Ehemanns zu seinem deutschen Heimatstaat bestanden haben dürften, möglicherweise nicht zwangsläufig sein. Sie ist aber jedenfalls vertretbar und bewegt sich deshalb im Rahmen einer zulässigen und für den Bundesgerichtshof bindenden tatrichterlichen Würdigung.
Rz. 34
3. Die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde hängt deshalb davon ab, ob für den Beginn der Wartefrist nach Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO ein schlichter Aufenthalt im Gerichtsstaat genügt, oder ob der Antragsteller - wie das Oberlandesgericht meint - bereits sechs Monate (ein Jahr) vor der Stellung des Scheidungsantrags einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gerichtsstaat begründet haben muss. Wäre die Auffassung des Oberlandesgerichts richtig, müsste die Rechtsbeschwerde des Ehemanns zurückgewiesen werden, weil er am 27. April 2013 noch keinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt hatte. Anderenfalls hätte seine Rechtsbeschwerde Erfolg, weil nach den Feststellungen des Oberlandesgerichts davon auszugehen ist, dass der Ehemann die sechsmonatige Wartefrist zumindest unter Zurechnung von Zeiten seines einfachen Aufenthalts in Deutschland erfüllen könnte (zur Möglichkeit eines gleichzeitigen Aufenthalts an mehreren Orten vgl. EuGH Urteil vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 55).
Rz. 35
a) Darüber, wie Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO insoweit auszulegen ist, besteht seit längerer Zeit Uneinigkeit.
Rz. 36
Es entspricht einer weit verbreiteten Ansicht im deutschsprachigen Schrifttum, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers im Gerichtsstaat nicht erst im Zeitpunkt der Antragstellung, sondern schon bei Beginn der maßgeblichen Wartefrist von sechs Monaten bzw. einem Jahr bestanden haben muss. Diese, auch vom Beschwerdegericht geteilte Auffassung beruft sich in erster Linie auf eine teleologische Norminterpretation und betont, dass der Antragsteller erst durch einen gewöhnlichen Aufenthalt von einer gewissen Dauer seine hinreichend enge Beziehung zum Gerichtsstaat unter Beweis stellen müsse, um Zuständigkeitsmanipulationen zulasten des Antragsgegners auszuschließen (vgl. Rauscher/Rauscher EuZPR/EuIPR 4. Aufl. Art. 3 Brüssel IIa-VO Rn. 43; Staudinger/Spellenberg BGB [2015] Art. 3 Brüssel IIa-VO Rn. 41; Hausmann Internationales und Europäisches Familienrecht 2. Aufl. A Rn. 80; Zöller/Geimer ZPO 34. Aufl. Art. 3 EuEheVO Rn. 7; NK-BGB/Gruber 4. Aufl. Art. 3 EheVO 2003 Rn. 29 f.; MünchKommFamFG/Gottwald 3. Aufl. Art. 3 Brüssel IIa-VO Rn. 20; Rademacher ZEuP 2021, 167, 170 ff.; Hau FamRZ 2000, 1333, 1334). Demgegenüber wollen andere Stimmen in der Literatur schon den schlichten Aufenthalt des Antragstellers während der Zeit seiner sozialen Integration in den Gerichtsstaat auf die Wartezeit anrechnen. Sie argumentieren, dass ein „gewöhnlicher Aufenthalt“ von sechs Monaten (einem Jahr) Dauer nach dem eindeutigen Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO nicht verlangt werden könne (vgl. Dilger in Geimer/Schütze Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen [Stand: Oktober 2021] Art. 3 VO Nr. 2201/2003 Rn. 29 ff.; Bahrenfuss/von Milczewski FamFG 3. Aufl. § 98 Rn. 11; Niklas Die Europäische Zuständigkeitsverordnung in Ehe- und Kindschaftsverfahren [2003] S. 81 ff.; Toscano Ehescheidungen mit grenzüberschreitendem Bezug [2011] S. 125, 127 f.; Pabst Entscheidungszuständigkeit und Beachtung ausländischer Rechtshängigkeit in Ehesachen mit Europabezug [2009] Rn. 365 ff.; tendenziell wohl auch Andrae Internationales Familienrecht 4. Aufl. § 2 Rn. 27 ff.).
Rz. 37
Eine vergleichbare Kontroverse darüber, ob bei Beginn der maßgeblichen Wartefrist bereits eine „habitual residence“ des Antragstellers im Gerichtsstaat bestanden haben muss (so Moor J in Pierburg v Pierburg [2019] EWFC 24 Rn. 53 ff.; Bennett J in Munro v Munro [2007] EWHC 3315 (Fam) Rn. 48 ff.) oder ob es ausreicht, wenn der Antragsteller bei Wartefristbeginn eine „residence“ im Gerichtsstaat begründet hat, sofern sich diese bis zur Antragstellung zu einer „habitual residence“ verfestigt hat (so Munby J in Marinos v Marinos [2007] EWHC 2047 (Fam) Rn. 45 ff.; P. Jackson J in V v V [2011] EWHC 1190 (Fam) Rn. 47), entwickelte sich vor dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union auch unter englischen Richtern.
Rz. 38
b) Die Streitfrage ist bislang in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht geklärt. In der Rechtssache C-289/20 hat der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Anwendung von Art. 3 Abs. 1 lit. a sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO formuliert (EuGH Urteil vom 25. November 2021 - Rs. C-289/20 - FamRZ 2022, 215 Rn. 59), dass der Antragsteller des damaligen Verfahrens „das Erfordernis eines mindestens sechsmonatigen Aufenthaltes im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates unmittelbar vor Beantragung der Auflösung der Ehe“ erfüllt habe („...satisfaisait à la condition de résidence sur le territoire de cet État membre d’au moins six mois immédiatement avant l’introduction de sa requête en dissolution du lien matrimonial...“). Obwohl der Gerichtshof auf einen „sechsmonatigen Aufenthalt“ und nicht ausdrücklich auf einen „sechsmonatigen gewöhnlichen Aufenthalt“ rekurriert, erscheint es dem Senat zweifelhaft, dass sich der Gerichtshof damit zu der Frage positionieren wollte, ob bei Beginn der sechsmonatigen Wartefrist ein schlichter oder ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegen müsse, weil die Umstände des damaligen Streitfalls eine Befassung mit dieser Problematik offensichtlich nicht als geboten erscheinen ließen.
Rz. 39
c) Der Senat neigt - mit dem Oberlandesgericht - dazu, einen gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers im Gerichtsstaat zu verlangen, um die Wartefristen von sechs Monaten (einem Jahr) in Gang zu setzen.
Rz. 40
aa) Dabei verkennt der Senat nicht, dass der reine Wortlaut der Vorschrift in eine andere Richtung deuten könnte. Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO bestimmen, dass die Gerichte des Mitgliedsstaats zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Antragsteller seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn er sich dort seit einem Jahr (sechs Monaten) unmittelbar vor der Antragstellung „aufgehalten“ (und nicht: „gewöhnlich aufgehalten“) hat. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung vermag der Senat weder der englischen
„....the applicant is habitually resident if he or she resided there for at least a year (six month) immediately before the application was made”
Rz. 41
noch der französischen
„....la résidence habituelle du demandeur s'il y a résidé depuis au moins une année immédiatement avant l'introduction de la demande”
Rz. 42
Sprachfassung der Verordnung eine eindeutigere Verknüpfung zwischen der Wartefrist und dem Erfordernis des gewöhnlichen Aufenthalts zu entnehmen.
Rz. 43
In diesem Zusammenhang ist zum Vergleich auch auf das in einigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Kraft befindliche Haager Übereinkommen vom 1. Juni 1970 über die Anerkennung von Ehescheidungen und Ehetrennungen (veröffentlicht auf www.hcch.net) hinzuweisen, das sprachlich insoweit unmissverständlich gefasst ist. Nach Art. 2 Nr. 2 lit. a des Haager Scheidungsübereinkommens 1970 werden Ehescheidungen und Ehetrennungen in jedem anderen Vertragsstaat anerkannt, wenn der Antragsteller im Zeitpunkt der Einleitung des Verfahrens im Ursprungsstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Staat hatte und „der gewöhnliche Aufenthalt.... unmittelbar vor der Einleitung des Verfahrens mindestens ein Jahr gedauert“ hatte. Entsprechend eindeutig formuliert sind auch die englische (“...such habitual residence had continued for not less than one year immediately prior to the institution of proceedings.”) und die französische (“...cette résidence habituelle avait duré au moins une année immédiatement avant la date de la demande.”) Sprachfassung des Übereinkommens.
Rz. 44
bb) Indessen geht der Senat nicht davon aus, dass der europäische Verordnungsgeber mit seiner Entscheidung, bei der redaktionellen Fassung von Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO keine ähnlich eindeutige Formulierung zu verwenden, wie sie in Art. 2 Nr. 2 des Haager Scheidungsübereinkommens 1970 gewählt worden ist, eine besondere Aussage verbinden wollte. Er lässt sich möglicherweise auch mit dem Streben nach besserer Lesbarkeit der Vorschrift erklären. Im Borrás-Bericht wird ausgeführt, dass das forum actoris in der Verordnung „auf der Grundlage des gewöhnlichen Aufenthalts, wenn auch nur unter Zusatzbedingungen, zugelassen“ werden sollte (vgl. Borrás Erläuternder Bericht zu dem Übereinkommen aufgrund von Artikel K. 3 des Vertrags über die Europäische Union über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen, ABl. EG 1998 Nr. C 221/38 Nr. 32). Darüber, ob diese auf den gewöhnlichen Aufenthalt bezogenen Zusatzbedingungen gerade darin bestehen, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Antragstellers während der gesamten Wartefrist von sechs Monaten (einem Jahr) vor der Stellung des Scheidungsantrags begründet gewesen sein muss, liefern zwar weder die deutsche noch die englische Sprachfassung des Borrás-Berichts Aufschluss. Demgegenüber finden sich aber sowohl in der französischen
„...d’autre part, pour pouvoir introduire sa demande, le demandeur doit avoir etabli sa residence habituelle dans l'Etat en question depuis six mois."
Rz. 45
als auch der spanischen
„...por otra parte, para que pueda presenter su solicitud es preciso que haya establecido en dicho Estado su residencia habitual por un period de seis meses."
Rz. 46
Sprachfassung des Borrás-Berichts insoweit eindeutige Formulierungen und damit deutliche Anhaltspunkte für die vom Senat bevorzugte Auslegung, dass auch nach Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO ein gewöhnlicher Aufenthalt im Gerichtsstaat während der gesamten Wartefrist erforderlich ist.
Rz. 47
cc) Für eine enge Auslegung der Vorschrift spricht schließlich der Umstand, dass das über Art. 3 Abs. 1 lit. a fünfter und sechster Spiegelstrich Brüssel IIa-VO erreichbare forum actoris eine besondere Privilegierung des Antragstellers darstellt und ein besonderes Schutzbedürfnis auf Seiten des Antragsgegners erzeugt, der in den meisten Fällen keinen Bezug zum Staat des Klägergerichtsstands hat. Es liegt auch deshalb nahe, die den Zugang zum forum actoris rechtfertigende Bindung des Antragstellers zum Gerichtsstaat auch in zeitlicher Hinsicht besonders zu qualifizieren.
Rz. 48
dd) Dem Erfordernis, dass der Antragsteller einen gewöhnlichen Aufenthalt im Gerichtsstaat während der gesamten Wartefrist von sechs Monaten (einem Jahr) begründet haben muss, steht auch nicht die allgemeine Erwägung entgegen, dass zuständigkeitsbegründende Kriterien grundsätzlich einfach zu ermitteln sein sollten, um die Rechtsanwendung für die Beteiligten vorhersehbar zu machen und eine einheitliche Handhabung der Verordnung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Es ist zwar zuzugeben, dass die ex-post-Beurteilung der Frage, ob der Aufenthalt des Antragstellers im Gerichtsstand bereits bei Beginn der Wartefrist von sechs Monaten (einem Jahr) ein „gewöhnlicher“ Aufenthalt war, mit erheblichen tatsächlichen Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten verbunden ist. Allerdings werden sich diese Probleme voraussichtlich nur einer sehr geringen Anzahl von Fällen und bei ausgesprochen atypischen Sachverhaltskonstellation - wie etwa im vorliegenden Fall - tatsächlich stellen. In den üblichen Fällen, in denen ein Ehegatte in der Ehekrise den Ort des früheren gemeinsamen Aufenthalts verlässt und in einen anderen Mitgliedsstaat zieht, handelt es sich um die Rückkehr an den Ort, an dem der Ehegatte vor der Heirat gewohnt hat oder in den Mitgliedsstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Ehegatte besitzt. Gerade in solchen Fällen wird bei einem Umzug nach einer Ehekrise nahezu sofort oder zumindest binnen sehr kurzer Zeit von einem neuen gewöhnlichen Aufenthalt des Ehegatten ausgegangen werden können, so dass praktisch der gesamte Aufenthalt des Ehegatten in dem anderen Mitgliedstaat in der Regel auch immer ein gewöhnlicher Aufenthalt sein wird (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona vom 8. Juli 2021 - Rs. C-289/20 - juris Rn. 60).
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Fundstellen
Dokument-Index HI15225514 |