Entscheidungsstichwort (Thema)
Schöpferische Leistung bei technischem Regelwerk durch sprachliche Vermittlung. Urheberrechtsverletzung. Rückgriff auf vorbekanntes Formengut. Darlegungslast
Leitsatz (amtlich)
a) Bei einem technischen Regelwerk kann die schöpferische Leistung nicht nur in der Art der Sammlung, Auswahl, Einteilung und Anordnung des Stoffes, sondern auch in der sprachlichen Vermittlung eines komplexen technischen Sachverhalts liegen.
b) Der Beklagte, der sich gegenüber dem Vorwurf der Urheberrechtsverletzung mit dem Einwand verteidigt, die Schutzfähigkeit entfalle, weil der Urheber auf vorbekanntes Formengut zurückgegriffen habe (vgl. BGH GRUR 1981, 820, 822 – Stahlrohrstuhl II), muß die Entgegenhaltungen im einzelnen bezeichnen und darlegen, inwieweit der Urheber auf frühere Gestaltungen zurückgegriffen hat.
Normenkette
UrhG § 2 Abs. 1 Nrn. 1, 7, Abs. 2, § 97; ZPO § 286
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 6. August 1999 aufgehoben.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil der 28. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 4. März 1998 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die Kosten der Rechtsmittel zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin ist eine in der Rechtsform des eingetragenen Vereins betriebene Forschungseinrichtung, zu deren Aufgaben es gehört, in verschiedenen Arbeitskreisen technische Regelwerke auf dem Gebiet des Straßen- und Verkehrswesens zu erstellen. Von der Klägerin stammen auch die „Technischen Lieferbedingungen für gebrauchsfertige polymermodifizierte Bindemittel für Oberflächenbehandlungen” (TL-PmOB) und die „Technischen Lieferbedingungen für Betonschutzwand-Fertigteile” (TL BSWF 96), die das Bundesministerium für Verkehr mit Allgemeinen Rundschreiben vom Juli 1992 und vom April 1996 für den Bereich des Bundesfernstraßenbaus eingeführt und den obersten Straßenbaubehörden der Länder zur Einführung in ihrem Zuständigkeitsbereich empfohlen hat. In den Rundschreiben heißt es jeweils, daß Mehrfertigungen der in Rede stehenden Lieferbedingungen beim Verlag der Klägerin zu beziehen seien.
Der beklagte Verlag gibt das zweimal im Monat erscheinende Amtsblatt des Bundesministeriums für Verkehr – das „Verkehrsblatt” – heraus. Dort werden auch die Allgemeinen Rundschreiben des Bundesministeriums für Verkehr veröffentlicht. Darüber hinaus bietet der Beklagte die beiden Regelwerke TL-PmOB und TL BSWF 96 in seinem Verlag als gesonderte „Verkehrsblatt-Dokumente” unter Verwendung des Bundesadlers und der Kopfzeile „Bundesministerium für Verkehr – Abteilung Straßenbau” an. Hierin sieht die Klägerin eine Verletzung des Urheberrechts an den Lieferbedingungen, hinsichtlich dessen ihr ausschließliche Nutzungsrechte zustünden.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten unter Androhung von Ordnungsmitteln zu verurteilen, es zu unterlassen, die beiden Werke
- TL BSWF 96 Technische Lieferbedingungen für Betonschutzwand-Fertigteile, Dokument Nr. B 5217, und
TL-PmOB Technische Lieferbedingungen für gebrauchsfertige polymermodifizierte Bindemittel für Oberflächenbehandlungen, Dokument Nr. B 6746,
ihres Verlagsprogramms herzustellen und zu vertreiben;
- den Beklagten zu verurteilen, ihr darüber Auskunft zu erteilen, wie viele Exemplare von den beiden streitbefangenen Werken er bisher gedruckt und verkauft hat;
- festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihr den durch die bisher verkauften Exemplare entstandenen Schaden zu ersetzen;
- den Beklagten zu verurteilen, die bisher gedruckten Exemplare, die der Beklagte noch in Besitz hat, zu vernichten.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht, das zunächst im Verfügungsverfahren das vom Landgericht ausgesprochene Verbot bestätigt hatte (OLG Köln ZUM-RD 1998, 110), hat die Klage abgewiesen (OLG Köln GRUR 2000, 1022).
Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie die Klageanträge weiterverfolgt. Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht hat zwar – unter Berufung auf seine Ausführungen im Verfügungsverfahren – angenommen, die Klägerin sei grundsätzlich aktivlegitimiert; auch stehe § 5 UrhG einer Geltendmachung der Ansprüche nicht entgegen. Es hat jedoch – anders als im Verfügungsverfahren – die urheberrechtliche Schutzfähigkeit der in Rede stehenden Lieferbedingungen verneint und zur Begründung ausgeführt:
Im Streitfall handele es sich um Werke rein technischen Inhalts, bei denen ein Urheberrechtsschutz nur in Betracht zu ziehen sei, wenn die persönliche geistige Schöpfung in der individuellen Darstellung selbst, also in der Formgestaltung zum Ausdruck komme. Auf den schöpferischen Gehalt des wissenschaftlichen oder technischen Inhalts sei dagegen nicht abzustellen. Der Aufforderung, im einzelnen darzulegen, worin konkret bei den fraglichen Regelwerken die eigenschöpferische Prägung liege, sei die Klägerin nicht in ausreichendem Maße nachgekommen. Ihr Hinweis auf den hohen wissenschaftlich-technischen Gehalt und die Einmaligkeit des Regelwerks ziele allein auf den Inhalt ab und lasse nicht erkennen, daß gerade die Gedankenformung und – führung, die besonders geistvolle Form und Art der Sammlung, Einteilung und Anordnung des dargebotenen Stoffes eigenschöpferische Züge aufwiesen. Beispielsweise fehle jeder Sachvortrag dazu, an welchen Stellen der Regelwerke von der sonst im Fachbereich üblichen Ausdrucksweise abgewichen werde.
II. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben Erfolg. Sie führen zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Wiederherstellung des der Klage stattgebenden landgerichtlichen Urteils.
1. Hinsichtlich der Sachbefugnis der Klägerin hat das Berufungsgericht auf seine Ausführungen Bezug genommen, die es hierzu in dem im Verfügungsverfahren ergangenen Urteil gemacht hat. Die dort im einzelnen begründete Annahme des Berufungsgerichts, die Mitglieder der zuständigen Arbeitskreise hätten der Klägerin stillschweigend ausschließliche Nutzungsrechte an den erarbeiteten Regelwerken eingeräumt, zumindest liege eine solche Rechtseinräumung in den eidesstattlichen Versicherungen, mit denen sie eine solche Rechtseinräumung bestätigt hätten, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Ohne Erfolg wendet die Revisionserwiderung mit einer Gegenrüge ein, das Berufungsgericht habe sich darüber hinweggesetzt, daß der Beklagte die Rechtseinräumung (mit Nichtwissen) bestritten habe. Die tatsächlichen Grundlagen, aufgrund deren das Berufungsgericht den – naheliegenden – Schluß gezogen hat, daß die einzelnen Mitglieder der zuständigen Arbeitskreise der Klägerin als Veranstalterin die erforderlichen Nutzungsrechte eingeräumt haben, sind indessen unstreitig. Die rechtliche Würdigung des Berufungsgerichts ist der erhobenen Verfahrensrüge dagegen nicht zugänglich und läßt auch sonst keinen Rechtsfehler erkennen.
Soweit der Beklagte die Berechtigung der Klägerin unter Hinweis auf die Nutzungsrechte des – als gesonderte Rechtspersönlichkeit organisierten – Verlags der Klägerin in Zweifel gezogen hat, ist von dem unbestritten gebliebenen Vortrag der Klägerin auszugehen, wonach sie dem Verlag keine ausschließlichen Nutzungsrechte eingeräumt hat.
2. Das Berufungsgericht hat den in Rede stehenden technischen Lieferbedingungen zu Unrecht den urheberrechtlichen Schutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 7 sowie Abs. 2 UrhG versagt. Es hat nicht hinreichend beachtet, daß demjenigen, der ein – inhaltlich vorgegebenes – komplexes technisches Regelwerk in Worte faßt, für die Konzeption und Ausführung der sprachlichen Darstellung ein nicht unerheblicher gestalterischer Spielraum verbleibt.
a) Die Frage, ob einem Werk die für einen Urheberrechtsschutz erforderlichen Eigenschaften zukommen (§ 2 Abs. 2 UrhG), insbesondere die Frage, ob es sich um eine persönliche geistige Schöpfung handelt, ist eine im Revisionsverfahren uneingeschränkt überprüfbare Rechtsfrage (vgl. BGHZ 22, 209, 216 – Europapost; 24, 55, 68 – Ledigenheim; 27, 351, 355 – Candida; BGH, Urt. v. 27.2.1961 – I ZR 127/59, GRUR 1961, 635, 637 – Stahlrohrstuhl I).
b) Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß technische Vorschriften der hier in Rede stehenden Art als Schriftwerke (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG) oder als Darstellungen wissenschaftlicher oder technischer Art (§ 2 Abs. 1 Nr. 7 UrhG) Urheberrechtsschutz genießen können. Voraussetzung ist nach § 2 Abs. 2 UrhG eine individuelle geistige Schöpfung, die sowohl in der von der Gedankenformung und -führung geprägten sprachlichen Gestaltung als auch in der Art der Sammlung, Auswahl, Einteilung und Anordnung des Stoffes zum Ausdruck kommen kann (vgl. BGH, Urt. v. 21.11.1980 – I ZR 106/78, GRUR 1981, 352, 353 – Staatsexamensarbeit; Urt. v. 27.2.1981 – I ZR 20/79, GRUR 1981, 520, 521 – Fragensammlung; BGHZ 116, 136, 144 – Leitsätze; 134, 250, 254 f. – CB-infobank I; 141, 329, 333 f. – Tele-Info-CD). Liegt die schöpferische Kraft dagegen allein im innovativen Charakter des Inhalts – hier des zu beschreibenden Regelwerks –, käme ein Urheberrechtsschutz nicht in Betracht.
c) Bei der sprachlichen und zeichnerischen Darstellung eines technischen Regelwerks kann die urheberrechtlich geschützte Leistung in erster Linie in der Art der Sammlung, Auswahl, Einteilung und Anordnung des Stoffes liegen. Regelwerke der streitigen Art zeichnen sich – wenn sie den Ansprüchen genügen – darüber hinaus dadurch aus, daß sie technische Vorgaben nicht nur als solche wiedergeben, sondern im einzelnen verständlich beschreiben; es können daher hier auch Ausdrucksvermögen und Klarheit der sprachlichen Form ins Gewicht fallen. Sie sind in dieser auf eine verständliche sprachliche Umsetzung gerichteten Leistung am ehesten mit Betriebsanleitungen vergleichbar, bei denen es ebenfalls darum geht, ein – häufig komplexes – technisches Regelwerk nicht nur in übersichtlicher Auswahl und Anordnung, sondern vor allem in gut verständlicher, klarer Sprache auszudrücken (vgl. BGH, Urt. v. 10.10.1991 – I ZR 147/89, GRUR 1993, 34, 36 = WRP 1992, 160 – Bedienungsanweisung; ferner Urt. v. 17.4.1986 – I ZR 213/83, GRUR 1986, 739, 740 – Anwaltsschriftsatz). Zudem enthalten die in Rede stehenden Regelwerke Tabellen und Zeichnungen, also Darstellungen technischer Art im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 7 UrhG, an deren Individualität nach gefestigter Rechtsprechung keine hohen Anforderungen gestellt werden (vgl. BGH, Urt. v. 10.5.1984 – I ZR 85/82, GRUR 1985, 129, 130 – Elektrodenfabrik; Urt. v. 28.2.1991 – I ZR 88/89, GRUR 1991, 529, 530 – Explosionszeichnungen; BGHZ 134, 250, 255 – CB-infobank I). Insofern unterscheiden sich diese Regelwerke grundlegend von bloßen Verzeichnissen, bei denen die darin enthaltenen Angaben – urheberrechtlich betrachtet – Gemeingut sind und die individuelle schöpferische Leistung lediglich in der Auswahl und Ordnung des Stoffes liegen kann (vgl. BGH, Urt. v. 12.3.1987 – I ZR 71/85, GRUR 1987, 704, 705 – Warenzeichenlexika; Urt. v. 12.7.1990 – I ZR 16/89, GRUR 1991, 130, 132 f. – Themenkatalog; BGHZ 141, 329, 333 f. – Tele-Info-CD), oder von Ausschreibungsunterlagen, die sich häufig darin erschöpfen, die – dem Urheberrechtsschutz unzugänglichen – technischen Vorgaben aufzulisten, ohne sie verbal zu umschreiben (vgl. BGH, Urt. v. 29.3.1984 – I ZR 32/82, GRUR 1984, 659, 660 f. – Ausschreibungsunterlagen).
d) Bei Berücksichtigung dieser Grundlagen kann den Regelwerken der Klägerin der urheberrechtliche Schutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 7, Abs. 2 UrhG nicht versagt werden.
aa) Das Berufungsgericht hat sich von der unzutreffenden Vorstellung leiten lassen, dem Urheberrechtsschutz stehe im Streitfall der Umstand entgegen, daß die beiden Regelwerke technisches Gedankengut enthielten. Es hat zu Unrecht angenommen, die Darstellung erschöpfe sich in der Wiedergabe der technischen Lehre und weise keine eine schöpferische Leistung zum Ausdruck bringende Individualität auf. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von dem Fall, der der Entscheidung „Ausschreibungsunterlagen” (BGH GRUR 1984, 659) zugrunde lag. Dort war der untaugliche Versuch unternommen worden, den Urheberrechtsschutz damit zu begründen, daß die in den Unterlagen enthaltenen Informationen eine neue, keinem Fachbuch und keiner sonstigen Gebrauchsanweisung zu entnehmende technische Lösung darstelle und es sich um ein spezifisches, anderen Fachkreisen nicht zugängliches Know-how handele. Der Darstellung war dagegen in jenem Fall keinerlei individuelle Prägung zu entnehmen; sie ergab sich dort aus der Natur der Sache und war – etwa durch einfache Gesetze der Zweckmäßigkeit – vorgegeben (BGH GRUR 1984, 659, 661 – Ausschreibungsunterlagen).
bb) Im Streitfall verhält es sich anders. Dies kann der Senat aufgrund der vorliegenden Regelwerke, die durch Bezugnahme Teil des vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalts geworden sind, sowie aufgrund des unstreitigen Parteivorbringens selbst beurteilen. Einer Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht bedarf es hierfür nicht.
(1) Die „Technischen Lieferbedingungen für Betonschutzwand-Fertigteile” (TL BSWF 96) stellen einen umfangreichen Stoff in übersichtlicher, klar gegliederter Form dar. Sie beginnen mit einem kurzen Vorspann, in dem der Zweck des Regelwerks beschrieben wird („0. Allgemeines”) und dem vier Abschnitte folgen: Sie dienen der Begriffsbestimmung („1. Begriffe”), der Beschreibung der Anforderungen an die verwendeten Baustoffe und an die Fertigteile („2. Anforderungen”), der Darstellung der durchzuführenden Prüfungen und der einzuhaltenden Prüfverfahren („3. Prüfungen”) sowie der Beschreibung weiterer Lieferbedingungen („4. Lieferung”). Der erste Abschnitt („Begriffe”) enthält mehrere graphische Darstellungen mit Angabe der Maße. Die weiteren Abschnitte sind auf mehreren Ebenen untergliedert; so weist der zweite Abschnitt „Anforderungen” insgesamt 14 Untergliederungspunkte auf.
Entsprechendes gilt für die „Technischen Lieferbedingungen für gebrauchsfertige polymermodifizierte Bindemittel für Oberflächenbehandlungen” (TL-PmOB). Auch sie geben einen umfangreichen, komplexen Stoff technischer Bedingungen und Regeln klar gegliedert und gut verständlich wieder. Auch hier wird der Zweck der Lieferbedingungen in einem Abschnitt „Allgemeines” umschrieben, dem wiederum ein Abschnitt folgt, in dem die verwendeten Begriffe definiert werden. Ein dritter Abschnitt enthält eine Tabelle mit den Bindemittelarten und Liefersorten, während im vierten Abschnitt die Bedingungen für die Lieferung, Lagerung und Verarbeitung kurz beschrieben sind. Der zentrale fünfte Abschnitt enthält fünf Tabellen, in denen die erforderlichen Eigenschaften des polymermodifizierten Bitumens übersichtlich dargestellt sind. Es folgen ein sechster Abschnitt mit der Auflistung einzuhaltender Prüfnormen und Prüfverfahren sowie ein siebter Abschnitt mit weiteren Anforderungen. Im fünften und im sechsten Abschnitt wird teilweise auf DIN-Normen verwiesen, denen verwendete Stoffe entsprechen müssen oder nach denen Prüfungen zu erfolgen haben, teilweise werden eigene Prüfverfahren – etwa zur Stabilität gegen Entmischung, zur thermischen Beanspruchung in dünner Schicht oder zur Bestimmung des Splitthaltevermögens – angeführt, die in den Anlagen A bis G im einzelnen, zum Teil auch unter Verwendung graphischer Darstellungen, ausführlich beschrieben sind. Schließlich enthält ein „Anhang 1” einen Fragenkatalog zur Umweltverträglichkeit von polymermodifizierten Bindemitteln für Oberflächenbehandlungen.
Insgesamt weist die sprachliche und graphische Darstellung der komplexen Regelwerke ein den Anforderungen des § 2 Abs. 2 UrhG grundsätzlich genügendes Maß an schöpferischer Individualität auf. Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß die fraglichen Regeln auf vielfältige Weise hätten dargestellt und gegliedert werden können. Der gewählte Weg ist in beiden Fällen durch eine klare Konzeption der Gliederung und eine insgesamt gut verständliche und einleuchtende Darstellung des Stoffes gekennzeichnet.
(2) Bei dieser Sachlage könnte an der urheberrechtlichen Schutzfähigkeit nur gezweifelt werden, wenn bei der Erstellung der Regelwerke andere Regelungen – etwa frühere Bestimmungen, die durch die neuen Regelwerke ersetzt worden wären – Modell gestanden hätten. Aus dem Parteivorbringen ergibt sich, daß dies nicht der Fall war. Den Vortrag der Klägerin hierzu hat das Berufungsgericht in der Weise zusammengefaßt, daß es „keine Vorläufer von anderer Seite oder andere vergleichbare Regelwerke” gebe. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat die Klägerin damit nicht (nur) auf den schöpferischen Gehalt des wissenschaftlichen oder technischen Inhalts abgestellt, sondern die in der Darstellung der Regelwerke liegende eigenschöpferische, individuelle Leistung der Verfasser betont.
Unter diesen Umständen hätte es dem Beklagten oblegen, im einzelnen darzulegen, daß die Verfasser der beiden Regelwerke – es handelt sich um die Mitglieder der zuständigen Arbeitskreise der Klägerin – für die Darstellung auf Vorbekanntes zurückgegriffen haben. Er hätte durch Vorlage von konkreten Entgegenhaltungen darlegen müssen, inwieweit bei den beiden Regelwerken in der gestalterischen Konzeption und in der Wahl der Darstellungsmittel auf vorbekanntes Formengut zurückgegriffen worden ist (vgl. BGH, Urt. v. 27.5.1981 – I ZR 102/79, GRUR 1981, 820, 822 – Stahlrohrstuhl II; Urt. v. 24.1.1991 – I ZR 78/89, GRUR 1991, 531, 533 – Brown Girl I; BGHZ 112, 264, 273 – Betriebssystem; BGH, Urt. v. 6.11.1997 – I ZR 102/95, GRUR 1998, 477, 479 = WRP 1998, 377 – Trachtenjanker; BGHZ 139, 68, 76 – Stadtplanwerk). Dem wird das Vorbringen des Beklagten – entgegen der Ansicht der Revisionserwiderung – nicht gerecht. Der Beklagte hat es lediglich als unrichtig bezeichnet, daß es keine Vorläufer gebe, und behauptet, vergleichbare Regelwerke existierten in großer Zahl. Auch dem von ihm in diesem Zusammenhang als Anlage BB 2 vorgelegten „Verzeichnis der Vergabebestimmungen und Vertragsbedingungen für Bauleistungen im Straßen- und Brückenbau” lassen sich konkrete Entgegenhaltungen nicht entnehmen.
3. Der urheberrechtliche Schutz an den beiden Regelwerken ist nicht deswegen ausgeschlossen, weil es sich um amtliche Werke im Sinne von § 5 UrhG handelte.
Auch insoweit hat das Berufungsgericht auf die Ausführungen in seinem das vorangegangene Verfügungsverfahren abschließenden Urteil verwiesen. Dort hatte es dargelegt, daß den beiden Regelwerken der Charakter eines amtlichen Erlasses oder einer amtlichen Bekanntmachung im Sinne von § 5 Abs. 1 UrhG fehle, weil sie nicht aus einem Amt stammten, sondern von den Arbeitskreisen der Klägerin erstellt worden seien. Diese Arbeitskreise seien nicht als beliehene Unternehmer tätig geworden; denn ihnen seien keine hoheitlichen Befugnisse übertragen worden. Auch durch Bezugnahmen in amtlichen Verlautbarungen seien die Regelwerke nicht zu amtlichen Werken geworden, weil es an einer hoheitlichen Willensbekundung des Bundesministeriums für Verkehr fehle, wonach es die beiden Regelwerke als verbindliche Regelungen in Kraft setzen wolle.
Diese Ausführungen lassen einen Rechtsfehler nicht erkennen. Sie stehen insbesondere im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Ausschluß des Urheberrechtsschutzes bei amtlichen Werken nach § 5 UrhG (vgl. BGH, Urt. v. 30.6.1983 – I ZR 129/81, GRUR 1984, 117 – VOB/C; Urt. v. 26.4.1990 – I ZR 79/88, GRUR 1990, 1003 – DIN-Normen). Anders als in dem der Entscheidung „DIN-Normen” zugrundeliegenden Fall fehlt es vorliegend an einer gesetzlichen Regelung, die auf die hier in Rede stehenden technischen Lieferbedingungen in der Weise Bezug nimmt, daß diese mit unmittelbarer Außenwirkung normausfüllenden Charakter erlangen.
III. Danach ist das angefochtene Urteil auf die Revision der Klägerin aufzuheben. Die Berufung des Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des Landgerichts ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Erdmann, Starck, Bornkamm, Büscher, Schaffert
Fundstellen
Haufe-Index 846350 |
BGHR 2003, 32 |
BGHR |
NJW-RR 2002, 1568 |
GRUR 2002, 958 |
Nachschlagewerk BGH |
AfP 2002, 551 |
MDR 2003, 41 |
WRP 2002, 1177 |
KUR 2002, 117 |
LMK 2003, 70 |