Leitsatz (amtlich)
Zur Verpflichtung des Tatrichters, auf die Aufklärung von Widersprüchen und die Ergänzung von Lücken in den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen hinzuwirken.
Normenkette
BGB § 823; ZPO § 286
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 18. Oktober 1999 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz wegen ärztlicher Behandlungsfehler.
Am Morgen des 9. Juni 1995 suchte der Kläger wegen einer schmerzhaften Schwellung im Bereich des rechten Handgelenks seine Hausärzte Dres. Th. auf. Nach einer Untersuchung überwies ihn Frau Dr. Th. an die chirurgische Gemeinschaftspraxis der Beklagten, die dem Kläger im Januar 1994 ein Ganglion am rechten Handgelenk operativ entfernt hatten. Auf dem Überweisungsschein vermerkte Frau Dr. Th. unter der Rubrik „Auftrag/Diagnose/Verdacht”: „Akutes Rezidiv eines Ganglions rechtes Handgelenk? Differentialdiagnose entzündliche Schwellung? Nach infizierter Schürfwunde über Grundgelenk rechter Mittelfinger ???”.
Der Beklagte zu 2 legte noch am Vormittag des 9. Juni 1995 eine Unterarmgipsschiene an und verabreichte antiphlogistische Medikamente, weil er von einer Entzündung des Sehnengleitgewebes ausging. Gegen 15.00 Uhr desselben Tages wickelte der Beklagte zu 1 die Schiene lockerer, nachdem der Kläger wegen der sich verstärkenden Schmerzen erneut in seine Praxis gekommen war. Wenige Stunden später, noch vor 18.00 Uhr, suchte der Kläger nochmals seine Hausärzte auf. Dr. Th. stellte bei ihm eine starke Schwellung und einen möglicherweise beginnenden lymphangitischen Streifen unterhalb der angelegten Schiene fest und verabreichte dem Kläger deshalb Penicillin.
Am 10. Juni 1995 stellte sich der Kläger vereinbarungsgemäß zwischen 9.00 und 10.00 Uhr beim Beklagten zu 1 vor. Dieser verordnete wegen des Verdachts auf eine Gichtarthritis ein Medikament. Am Abend desselben Tages wandte sich der Kläger wegen seiner unerträglichen Schmerzen an den ärztlichen Notdienst. Dort wurde eine akute Entzündung (Phlegmone) der rechten Hand und des Unterarms mit Lymphangitis bis zur Achselhöhle festgestellt. Der Kläger wurde zur sofortigen Operation in das Klinikum in B. eingewiesen, wo er noch in der Nacht operiert wurde.
Der Kläger macht geltend, daß den Beklagten ein grober Diagnosefehler vorzuwerfen sei, weil sie trotz des Hinweises auf die Schürfwunde an der rechten Hand im Überweisungsschein diese als mögliche Ursache der Entzündung nicht beachtet hätten. Die bereits am Nachmittag des 9. Juni 1995 auftretenden roten Streifen am Unterarm habe der Beklagte zu 1 als Druckstellen der Gipsschiene mißdeutet. Aufgrund der durch die fehlerhafte Diagnose verzögerten Therapie sei seine rechte Hand voraussichtlich auf Dauer nicht mehr gebrauchsfähig. Er sei seit dem 10. Juni 1995 zu 100 % arbeitsunfähig.
Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Ansprüche gegen beide Beklagte weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht führt aus, nach den überzeugenden und widerspruchsfreien Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. könne die unstreitige Fehldiagnose den Beklagten nicht als grober Behandlungsfehler angelastet werden.
Bei einem Diagnosefehler erfordere der Schuldvorwurf, daß der Arzt ein eindeutiges Krankheitsbild infolge Unachtsamkeit oder mangels ausreichender Erfahrungen verkenne oder wesentliche elementare Kontrolluntersuchungen unterlasse, die nach gesicherter medizinischer Erkenntnis hätten vorgenommen werden müssen, oder auch eine erste und damit noch nicht endgültige Diagnose nicht anhand des weiteren Krankheitsverlaufes überprüfe und gegebenenfalls richtigstelle. Vorliegend sei ein Behandlungsfehler zu verneinen, zumal die Beklagten nur 24 Stunden mit den Beschwerden des Klägers befaßt gewesen seien. Ausschlaggebend sei, daß es zwischen dem Erscheinungsbild einer Sehnenscheidenentzündung durch Reizung und einer beginnenden bakteriellen Infektion keinen wesentlichen Unterschied gebe. Medizinisch vertretbar sei von den Beklagten eine bakterielle Entzündung beim Kläger ausgeschlossen worden. Die Ruhigstellung der Hand durch Schienung des Armes und die Behandlung mit einem kortisonhaltigen Medikament seien nach dem äußeren Erscheinungsbild der klägerischen Beschwerden medizinisch vertretbar gewesen. Die bei nachträglicher Betrachtung des Krankheitsverlaufes als Infektionsherd in Frage kommende Schürfwunde sei nur stecknadelkopfgroß, entzündungsfrei und unauffällig erschienen. Die Beklagten hätten sie deshalb nicht als Krankheitsursache in ihre Erwägungen einbeziehen müssen, zumal der Hinweis im Überweisungsschein auf die Schürfwunde eine bloße Verdachtsdiagnose dargestellt habe. Auch habe das vom Hausarzt am Abend des 9. Juni 1995 verabreichte Penicillin das äußere Erscheinungsbild der Entzündung im rechten Handgelenk überdeckt und die den Beklagten erkennbaren Anzeichen verändert. Da der Kläger den Beklagten darüber keine Mitteilung gemacht habe, könne ihnen die Verzögerung bei der richtigen Diagnosefindung und der darauf basierenden ärztlichen Behandlung nicht zugerechnet werden.
Selbst wenn von einem einfachen Behandlungsfehler auszugehen sei, habe der Kläger den erforderlichen Kausalitätsnachweis der Fehldiagnose der Beklagten für die von ihm geltend gemachten Krankheitsfolgen nicht erbracht. Auch bei rechtzeitiger Operation könne nämlich eine Erweiterung der bakteriellen Infektion und eine dadurch verursachte erhebliche Schädigung der betroffenen Körperteile nicht ausgeschlossen werden.
II.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten den Angriffen der Revision nicht stand.
Zutreffend ist zwar der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, daß Fehldiagnosen nur zurückhaltend als Behandlungsfehler zu bewerten sind. Mit diesem Grundsatz soll den Schwierigkeiten ärztlicher Diagnosestellung Rechnung getragen werden (Senatsentscheidung vom 10. November 1987 – VI ZR 39/87 – VersR 1988, 293).
Durchgreifenden Bedenken begegnen jedoch die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht einen vorwerfbaren Fehler der Beklagten verneint hat, auch wenn es sich hierbei auf die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen gestützt hat. Diese bilden nämlich, wie die Revision mit Recht rügt, wegen ihrer offensichtlichen Widersprüche und Lücken keine zureichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Tatrichters.
1. Der gerichtliche Sachverständige war in seinem ersten schriftlichen Gutachten davon ausgegangen, daß die Beklagten die Schürfwunde an der Hand des Klägers bei der Diagnosefindung nicht berücksichtigen mußten, weil ihnen Hinweise darauf gefehlt hätten und der Kläger diese erstmals am 10. Juni 1995 im Klinikum in B. erwähnt habe. Nachdem der Kläger auf den Vermerk über die Schürfwunde im Überweisungsschein der Hausärzte hingewiesen hatte und der Sachverständige vom Erstgericht um eine ergänzende Beurteilung unter Berücksichtigung dieses Hinweises gebeten worden war, hat er den Standpunkt bezogen, daß das Unfallgeschehen aus dem Überweisungsschein nicht hervorgehe und die Erwähnung eines Arbeitsunfalls schon deshalb nicht wahrscheinlich sei, weil die Beklagten diesen wegen des damit verbundenen höheren Honorars mit Sicherheit berücksichtigt hätten.
Dies war jedoch verfehlt, da es für die Diagnosestellung nicht ausschlaggebend gewesen sein konnte, welcher Unfallhergang den gesundheitlichen Beschwerden zugrunde gelegen hat und ob sie gerade durch einen Arbeitsunfall verursacht worden waren. Deshalb hätten schon diese Ausführungen des Sachverständigen den Tatrichter zur Prüfung veranlassen müssen, ob der Sachverständige etwa vorschnell an seiner gewonnenen Auffassung festhalten wollte, daß der Kläger die Schürfwunde gegenüber den Beklagten verschwiegen habe. Dieser fehlerhafte Ansatz hätte nämlich seine Schlußfolgerungen von vornherein in Frage stellen müssen.
2. Wenn das Berufungsgericht gleichwohl an dem bisherigen Sachverständigen festhalten wollte, hätte es jedenfalls dessen Ausführungen zur Bedeutung des Überweisungsscheins im Rahmen der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme hinterfragen und kritisch würdigen müssen. Daß es dies unterlassen hat, rügt die Revision mit Recht.
Der Sachverständige hat nämlich in seiner mündlichen Anhörung vor dem Berufungsgericht ausgeführt, daß der überweisende Arzt durch die mit einem Fragezeichen versehenen Eintragungen auf dem Überweisungsschein die Beklagten veranlassen wollte, die dort angesprochenen Umstände in seine Überlegungen einzubeziehen und bei einer Abklärung der Symptome zu berücksichtigen. Das steht erkennbar in Widerspruch zu seiner früheren Auffassung, daß es für die Beklagten keinen Anhaltspunkt für eine infektiöse Entzündung des Handgelenks des Klägers gegeben habe.
Der erkennende Senat hat wiederholt ausgesprochen, daß gerade in Arzthaftungsprozessen Äußerungen medizinischer Sachverständiger kritisch auf ihre Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zu prüfen sind. Bestehen Widersprüche zu früheren Ausführungen, so muß das Berufungsgericht diese dem Sachverständigen zumindest vorhalten. Ohne weitere Aufklärungsversuche bildet eine solche Begutachtung nämlich keine ausreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Tatrichters (Senatsentscheidung vom 7. April 1992 – VI ZR 216/91 – VersR 1992, 747).
Das Berufungsgericht hätte seine Prüfung auch darauf erstrecken müssen, ob der Sachverständige den sich aus dem Hinweis im Überweisungsschein ergebenden Konsequenzen für seine bereits getroffene Gutachtenaussage mit der Erwägung ausweichen wollte, die überweisenden Ärzte hätten nur Verdachtsdiagnosen formuliert, ohne konkrete Symptome zu nennen. Weshalb die Beklagten nicht sämtlichen Verdachtsdiagnosen nachgehen mußten, zu deren Klärung der Kläger an sie überwiesen worden war, wird hierdurch jedoch nicht beantwortet. Auch im übrigen hätte das Berufungsgericht erkennen müssen, daß der Sachverständige die ihm gestellte und durchaus zweckmäßig formulierte Beweisfrage nicht beantwortet hat.
3. Unter diesen Umständen durfte das Berufungsgericht die erkennbar widersprüchlichen und ergänzungsbedürftigen Ausführungen des Sachverständigen nicht zur Grundlage seiner rechtlichen Beurteilung machen, sondern war – wenn eine weitere Befragung dieses Sachverständigen nicht zu der erforderlichen Klarstellung führte – gehalten, einen anderen Sachverständigen mit der Begutachtung zu beauftragen (vgl. Senatsurteile vom 9. Januar 1996 – VI ZR 70/95 – VersR 1996, 647 und vom 3. Dezember 1996 – VI ZR 309/95 – VersR 1997, 191).
Es ist nicht auszuschließen, daß das angefochtene Urteil auf dem aufgezeigten Verfahrensfehler beruht, zumal die weitere Sachaufklärung zu dem Ergebnis führen kann, aufgrund des Hinweises auf die Schürfwunde im Überweisungsschein sei eine Untersuchung in Richtung einer bakteriellen Infektion erforderlich gewesen. Insoweit ist zumindest für das Revisionsverfahren davon auszugehen, daß die Beklagten keine Untersuchungen in dieser Richtung vorgenommen haben. Ob eine solche Unterlassung schon für sich genommen grob fehlerhaft war oder jedenfalls nach den vom Senat entwickelten Grundsätzen über die unterlassene Befunderhebung zu Beweiserleichterungen führen könnte (vgl. Senatsurteile BGHZ 132, 47 ff.; 138, 1 ff.; vom 6. Oktober 1998 – VI ZR 239/97 – NJW 1999, 860; vom 3. November 1998 – VI ZR 253/97 – NJW 1999, 862; vom 16. März 1999 – VI ZR 34/98 – NJW 1999, 1778; vom 29. Juni 1999 – VI ZR 24/98 – NJW 1999, 2731 und vom 6. Juli 1999 – VI ZR 290/98 – NJW 1999, 3408), bedarf weiterer Prüfung, so daß auch in diesem Punkt das Berufungsgericht seine tatsächlichen Feststellungen zu ergänzen haben wird.
Unterschriften
Dr. Müller, Dr. v. Gerlach, Dr. Dressler, Dr. Greiner, Diederichsen
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 16.01.2001 durch Böhringer-Mangold, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 547148 |
NJW 2001, 1787 |
BGHR 2001, 349 |
Nachschlagewerk BGH |
ArztR 2001, 277 |
MDR 2001, 750 |
MedR 2001, 420 |
VersR 2001, 783 |
AusR 2001, 125 |
GuG 2001, 189 |