Leitsatz (amtlich)
Die Anforderungen an die Prämienanpassung in einem Beitragsentlastungstarif richten sich nach § 203 Abs. 2 VVG i.V.m. § 155 Abs. 3, 4 VAG, § 203 Abs. 5 VVG.
Normenkette
VVG § 203 Abs. 2, 5; VAG § 155 Abs. 3-4
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 13. Januar 2022 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 2.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit von Beitragserhöhungen in einer privaten Krankenversicherung.
Rz. 2
Der Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert und unterhält dort unter anderem die Tarife V., VI., 8 und BE.. Dem Tarif BE. liegen "Besondere Bedingungen für die Beitragsentlastung im Alter für die Krankheitskosten- und Krankenhaustagegeldversicherung (Hauptversicherung)" (im Folgenden: BB-BEA) zugrunde, in denen es heißt:
"A. Aufnahmefähigkeit
Aufnahmefähig in den Tarif BE. sind Personen, für die eine Krankheitskostenvollversicherung bei unserem Unternehmen besteht.
B. Leistungen des Versicherers
Vom 1. Januar des Jahres, in dem eine versicherte Person das 67. Lebensjahr vollendet, ermäßigt sich die monatliche Beitragszahlung um die vereinbarte Beitragsentlastung. Diese kann in Schritten von jeweils 10 EUR gewählt werden.
Die vereinbarte Beitragsentlastung darf den jeweils zu zahlenden Beitrag der Hauptversicherung nicht übersteigen. Hauptversicherung kann eine substitutive Krankheitskostenvollversicherung oder eine Krankenhaustagegeldversicherung oder eine unbefristete Krankheitskostenzusatzversicherung mit Alterungsrückstellung oder eine Kombination davon sein.
[…]
D. Beitragsanpassung
Wird auf Grundlage des § 8b Teil 1 der allgemeinen Versicherungsbedingungen in der Pflegepflichtversicherung eine neue Sterbetafel eingeführt, so werden auch im Tarif BE. die Rechnungsgrundlagen überprüft und ggf. mit Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders angepasst.
[…]
G. Vorzeitige Verwendung mit gleichzeitiger Beendigung des BE.
Nach einer mindestens dreijährigen Beitragszahlungsdauer kann auf Antrag des Versicherungsnehmers der Tarif BE. zu einer sofortigen Minderung der Beiträge der Hauptversicherung verwendet werden. Zu diesem Zeitpunkt endet die Versicherung im Tarif BE..
[…]
I. Beendigung der Hauptversicherung
Mit Beendigung der Hauptversicherung endet auch grundsätzlich der Anspruch auf Beitragsentlastung. Die Umstellung einer Vollversicherung in eine Zusatzversicherung zählt dabei nicht als Beendigung.
J. Kündigung des Tarifs BE.
Der Tarif BE. kann jederzeit ohne Einhaltung einer Frist zum Monatsende gekündigt werden. Der Versicherungsnehmer sollte zur Vermeidung von Anspruchsverlusten zuvor prüfen, ob eine Umwandlung in eine kleine Anwartschaft nach Abschnitt F oder eine vorzeitige Beitragsentlastung nach Abschnitt G möglich ist. "
§ 8b der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegepflichtversicherung (im Folgenden: MB/PPV), die der Pflegepflichtversicherung des Klägers bei der Beklagten zugrunde liegen, lautet auszugsweise:
"§ 8b Beitragsänderungen
(1) Im Rahmen der vertraglichen Leistungszusage können sich die Leistungen des Versicherers z.B. aufgrund von Veränderungen der Pflegekosten, der Pflegedauern, der Häufigkeit von Pflegefällen oder aufgrund steigender Lebenserwartung ändern. Dementsprechend werden anhand einer Statistik der Pflegepflichtversicherung jährlich die erforderlichen mit den in den technischen Berechnungsgrundlagen kalkulierten Versicherungsleistungen und Sterbewahrscheinlichkeiten verglichen. Ergibt diese Gegenüberstellung eine Veränderung von mehr als 5 Prozent, so werden die Beiträge überprüft und, soweit erforderlich sowie vorbehaltlich der Höchstbeitragsgarantie gemäß § 8 Abs. 5, mit Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders angepasst.
[…]"
Die Beklagte teilte dem Kläger unter anderem Erhöhungen des Beitrags im Tarif BE. zum 1. Januar 2015 um 2,55 €, zum 1. Januar 2019 um 29 € und zum 1. Januar 2020 um 0,97 € jeweils mit Schreiben vom November des Vorjahres nebst Anlagen mit. Dazu hieß es in den Informationen zur Beitragsanpassung vom November 2014:
"Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen sehen daher vor, dass die Beiträge im Tarif B. immer dann angepasst werden, wenn in der Pflegepflichtversicherung eine neue Sterbetafel eingeführt wird. Mit der Beitragsanpassung zum 01.01.2015 wird eine neue Sterbetafel in der Pflegepflichtversicherung eingeführt. Dies muss nun auch in Ihrem Tarif B. berücksichtigt werden."
Die Informationen zur Beitragsanpassung vom November 2018 und November 2019 enthielten folgenden Abschnitt:
"Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen sehen daher vor, dass die Rechnungsgrundlagen des Tarifs B. immer dann überprüft und ggf. mit Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders angepasst werden, wenn in der Privaten Pflegepflichtversicherung eine neue Sterbetafel eingeführt wird (§ 8b Teil 1 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen). Das ist zum 01.01.2019 [bzw. 01.01.2020] der Fall."
Rz. 3
Soweit für die Revision noch von Interesse, hat der Kläger mit seiner Klage die Rückzahlung der auf die genannten und weitere Beitragserhöhungen entfallenden Prämienanteile in Höhe von zuletzt 6.757,65 € nebst Zinsen sowie die Feststellung begehrt, dass die Beklagte die Nutzungen, die sie aus den auf die Beitragserhöhungen gezahlten Prämienanteilen gezogen hat, herauszugeben und zu verzinsen hat. Außerdem hat er die Feststellung beantragt, dass die Beitragserhöhungen unwirksam sind und er nicht zur Zahlung des jeweiligen Erhöhungsbetrages verpflichtet.
Rz. 4
Das Landgericht hat die Beklagte unter Abweisung der weitergehenden Klage zur Zahlung von 677,67 € nebst Zinsen verurteilt. Weiter hat es festgestellt, dass die Beitragserhöhungen im Tarif BE. zum 1. Januar 2019 und 1. Januar 2020 unwirksam sind und der Kläger nicht zur Zahlung des hierauf entfallenden Erhöhungsbetrages verpflichtet ist. Außerdem hat es festgestellt, dass die Beklagte dem Kläger zur Herausgabe der Nutzungen verpflichtet ist, die sie bis zum 29. Dezember 2020 aus dem Prämienanteil gezogen hat, den der Kläger auf die genannten Beitragserhöhungen gezahlt hat. Auf die Berufungen beider Parteien hat das Oberlandesgericht unter Zurückweisung der weitergehenden Rechtsmittel das landgerichtliche Urteil unter anderem dahingehend abgeändert, dass es auch die Unwirksamkeit der Beitragserhöhung im Tarif BE. zum 1. Januar 2015 und das Nichtbestehen einer Pflicht zur Zahlung des Erhöhungsbetrages aus dieser Beitragserhöhung vom 1. Januar 2015 bis zum 1. Mai 2015 festgestellt hat. Die Herausgabepflicht hat es auf die Nutzungen beschränkt, die die Beklagte bis zum 29. Dezember 2020 aus den Prämienanteilen gezogen hat, die der Kläger ab dem 1. Januar 2017 auf die Beitragserhöhungen gezahlt hat, für die ein - uneingeschränktes oder zeitlich eingeschränktes - Nichtbestehen der Zahlungspflicht festgestellt worden ist.
Rz. 5
Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter, soweit das Berufungsgericht im Zusammenhang mit den Neufestsetzungen des Beitrags im Tarif BE. zu ihrem Nachteil entschieden hat.
Entscheidungsgründe
Rz. 6
Die Revision hat keinen Erfolg.
Rz. 7
I. Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung unter anderem in VersR 2022, 357 abgedruckt ist, ist der Ansicht, dass die Beitragsanpassungen im Tarif BE. formell wirksam, aber materiell unwirksam sind. Die Begründung nenne die in den Tarifbedingungen genannten Erhöhungsvoraussetzungen. Die Prämienanpassungsklausel in Buchstabe D. der Tarifbedingungen sei aber unwirksam, da sie nicht den Vorgaben der § 203 Abs. 2 VVG, § 155 VAG entspreche. Der Tarif BE. unterfalle diesen Vorschriften, weil hinsichtlich dessen das ordentliche Kündigungsrecht des Versicherers ausgeschlossen sei. Ein gesetzliches Prämienanpassungsrecht könne die Beklagte mit der Einführung einer neuen Sterbetafel in der Pflegepflichtversicherung nicht für sich in Anspruch nehmen, weil es sich dabei nicht um eine in § 203 Abs. 2 Satz 1 VVG, § 155 Abs. 3 VAG vorgesehene Rechnungsgrundlage handele. Selbst wenn man dies so interpretieren wolle, dass damit die Rechnungsgrundlage Sterbewahrscheinlichkeiten gemeint sei, lasse sich der Begründung der Beklagten jedenfalls nicht die Überschreitung eines Schwellenwerts entnehmen. Auch ein vertragliches Prämienanpassungsrecht komme nicht in Betracht, da Buchstabe D. der besonderen Bedingungen nicht im Einklang mit § 203 Abs. 2 VVG, § 155 Abs. 3 VAG stehe, weil dieser eine dort nicht vorgesehene Rechnungsgrundlage als auslösenden Faktor vorsehe, und deshalb gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB materiell unwirksam sei.
Rz. 8
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung im Ergebnis stand.
Rz. 9
Das Berufungsgericht hat zu Recht die Prämienanpassungen für unwirksam gehalten, da sich diese weder auf eine wirksame Prämienanpassungsklausel stützen lassen noch die gesetzlichen Voraussetzungen einer Beitragserhöhung erfüllt sind. Die Anforderungen an die Prämienanpassung in einem Beitragsentlastungstarif richten sich nach § 203 Abs. 2 VVG (vgl. OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22. Mai 2023 - 1 U 218/22, juris Rn. 23; OLG Karlsruhe VersR 2023, 237 [juris Rn. 96]; OLG Nürnberg, Beschluss vom 21. November 2022 - 8 U 1621/22, juris Rn. 32 [insoweit in r+s 2023, 70 nicht abgedruckt]; OLG Köln, Urteil vom 11. November 2022 - 20 U 296/21, juris Rn. 113; BeckOK-VVG/Gramse, § 203 Rn. 19a [Stand: 1. November 2023]; Boetius, r+s 2022, 248, 254; Voit, r+s 2022, 215, 216; a.A. OLG Schleswig VersR 2023, 973 [juris Rn.133]). Abschnitt D BB-BEA ist unwirksam, da diese Regelung entgegen § 208 Satz 1 VVG zum Nachteil des Versicherungsnehmers von § 203 Abs. 2 Satz 1 und 3 VVG abweicht.
Rz. 10
1. Der hier vereinbarte Beitragsentlastungstarif fällt in den Anwendungsbereich von § 203 Abs. 2 VVG, da es sich dabei um eine Krankenversicherung handelt, bei der das ordentliche Kündigungsrecht des Versicherers ausgeschlossen ist.
Rz. 11
a) Dabei geht das Berufungsgericht allerdings unzutreffend davon aus, dass ein Beitragsentlastungstarif in der hier vereinbarten Form kein eigenständiger Tarif in der Krankenversicherung sei, sondern nur eine Vereinbarung von Versicherungsbedingungen zu den Modalitäten der Beitragszahlungen in der Hauptversicherung. Der Tarif BE. ist im Rahmen des Versicherungsvertrages der Parteien ein eigener Tarif im Sinne eines nach Grund und Höhe einheitlichen Leistungsversprechens gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Krankenversicherungsaufsichtsverordnung (KVAV).
Rz. 12
Seine Leistung besteht darin, ab einem festgelegten Lebensalter der versicherten Person die Höhe der Prämie der Hauptversicherung zu mindern. Die Beitragsminderung erfolgt durch Verrechnung mit der Leistung - dem Entlastungsbetrag - aus dem Beitragsentlastungstarif (vgl. BeckOK-VVG/Gramse, § 203 Rn. 19a.1 [Stand: 1. November 2023]). Während andere Krankheitskostentarife selbst vorsehen, dass sich der Beitrag bei Erreichen einer Altersgrenze bedingungsgemäß vermindert, ermöglicht ein Beitragsentlastungstarif - in der hier vereinbarten Ausgestaltung - die Vereinbarung einer Beitragsermäßigung im Alter im Rahmen eines Zusatztarifes, der auch zu bestehenden Tarifen abgeschlossen werden kann (vgl. Gutachten der Unabhängigen Expertenkommission zur Untersuchung der Problematik steigender Beiträge der privat Krankenversicherten im Alter, BT-Drucks. 13/4945, S. 18). Die rechtliche Eigenständigkeit dieses Tarifs zeigt sich zum einen darin, dass er zwar neben einer Krankheitskostenversicherung, aber nicht zugleich mit dieser vereinbart werden muss, sondern auch zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen und jederzeit durch Kündigung des Versicherungsnehmers nach Abschnitt J BB-BEA unabhängig von der Hauptversicherung beendet werden kann. Zum anderen wird für die vereinbarte Beitragsentlastungsleistung eine eigene Prämie erhoben und unabhängig von den Prämien in den bestehenden Krankheitskosten- oder Krankenhaustagegeldtarifen kalkuliert, weshalb im Versicherungsverhältnis des Klägers die Prämienanpassungen in diesem Tarif auch nicht zeitgleich mit den Beitragserhöhungen in anderen Tarifen erfolgten.
Rz. 13
b) Entgegen der Ansicht der Revision ist der Beitragsentlastungstarif selbst eine Krankenversicherung im Sinne der §§ 192 ff. VVG. Ihm kann nicht deswegen die Eigenschaft als Krankenversicherung abgesprochen werden, weil er nicht gemäß § 192 Abs. 1 VVG die Erstattung der Aufwendungen für medizinisch notwendige Heilbehandlungen vorsieht. Die Systematik des § 192 VVG, nach dessen Absatz 1 auch "sonstige vereinbarte Leistungen" als Krankenversicherung anzusehen sein können und der in Absatz 3 zusätzliche Dienstleistungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Leistungen nach Absatz 1 stehen, vorsieht, zeigt vielmehr, dass der Begriff der Krankenversicherung weit zu verstehen ist und nicht nur die Erstattung von Behandlungskosten als Versicherungsleistung umfasst (vgl. BeckOK-VAG/Franz/Frey, § 146 Rn. 40 [Stand: 1. Dezember 2023]). Es fallen auch darüberhinausgehende Leistungen darunter, soweit sie in einem Zusammenhang zu den Kernleistungen der Krankenversicherung in Abs. 1 und Abs. 6 stehen (vgl. aaO). Das ist hier der Fall, da der Beitragsentlastungstarif den Aufbau eines Entlastungsbetrages aus den gezahlten Prämien vorsieht, der nach Abschnitt B BB-BEA ausschließlich zur späteren Beitragsminderung in der Krankheitskosten- und Krankentagegeldversicherung verwendet werden kann.
Rz. 14
c) Das ordentliche Kündigungsrecht des Versicherers ist für den hier vereinbarten Beitragsentlastungstarif ausgeschlossen.
Rz. 15
aa) Dabei geht das Berufungsgericht allerdings zu Unrecht davon aus, dass sich ein gesetzlicher Ausschluss des Kündigungsrechts aus § 206 Abs. 1 VVG ergebe, der dies für substitutive Krankenversicherungen anordnet. Eine Krankenversicherung ist im Sinne von § 195 Abs. 1 Satz 1 VVG substitutiv, wenn sie ganz oder teilweise den im gesetzlichen Sozialversicherungssystem vorgesehenen Kranken- oder Pflegeversicherungsschutz ersetzen kann. Nach dem oben Gesagten ist der Beitragsentlastungstarif jedoch nicht nur eine Komponente eines Krankheitskostentarifs, sondern ein eigenständiger Tarif. Eine Einordnung als substitutive Krankenversicherung kann sich daher nicht daraus ergeben, dass der Versicherungsnehmer neben dem Beitragsentlastungstarif auch Krankheitskostentarife mit substitutivem Charakter abgeschlossen hat oder in Form des Basis- oder Standardtarifs hätte abschließen können. Der Beitragsentlastungstarif selbst, dessen Leistung der Aufbau eines Entlastungsbetrags zur Verrechnung mit zukünftigen Beitragsforderungen im Alter ist, hat dagegen kein Äquivalent im Kranken- oder Pflegeversicherungsschutz, den das gesetzliche Sozialversicherungssystem vorsieht.
Rz. 16
bb) Die ordentliche Kündigung durch den Versicherer ist für diesen Beitragsentlastungstarif jedoch vertraglich ausgeschlossen. Die Beklagte ist aufsichtsrechtlich durch § 147 VAG in Verbindung mit § 146 Abs. 1 Nr. 3 VAG verpflichtet, ihr Kündigungsrecht im Versicherungsvertrag auszuschließen, da der Beitragsentlastungstarif nach Art der Lebensversicherung, d.h. aufgrund biometrischer Rechnungsgrundlagen (vgl. BT-Drucks. 16/3945, S. 113), kalkuliert wird. Laut der hier in Rede stehenden Prämienanpassungsklausel in Abschnitt D BB-BEA wird der Beitragskalkulation eine Sterbetafel zugrunde gelegt.
Rz. 17
Das vertragliche Kündigungsverbot ist den BB-BEA im Wege der Auslegung zu entnehmen. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (Senatsurteile vom 5. Juli 2023 - IV ZR 118/22, VersR 2023, 1165 Rn. 14; vom 1. März 2023 - IV ZR 112/22, VersR 2023, 585 Rn. 9; st. Rspr.).
Rz. 18
Der Versicherungsnehmer wird erkennen, dass für diesen Tarif allein Abschnitt J BB-BEA ein ordentliches Kündigungsrecht einräumt. Dabei kann er dem Wortlaut dieser Klausel entnehmen, dass zwar zunächst in Satz 1 das Kündigungsrecht ohne Nennung des Kündigenden geregelt wird. Satz 2 verdeutlicht ihm aber, dass die Klausel ausschließlich den Versicherungsnehmer anspricht, indem diesem dort mögliche Alternativen zur Kündigung aufgezeigt werden. Die Schlussfolgerung, dass kein ordentliches Kündigungsrecht für den Versicherer besteht, wird ihm dadurch bestätigt, dass die BB-BEA auch die weiteren möglichen Beendigungstatbestände für die Versicherung im Tarif BE. in Abschnitt G BB-BEA und für den Anspruch auf Beitragsentlastung in Abschnitt I BB-BEA regeln, ohne dass eine Kündigung durch den Versicherer vorgesehen ist.
Rz. 19
d) Aus dem so eröffneten Anwendungsbereich von § 203 Abs. 2 VVG ist der Beitragsentlastungstarif auch nicht aus anderen Gründen ausgeschlossen. Die Vorschrift sieht eine Überprüfung und ggf. Anpassung der Prämie bei einer nicht nur als vorübergehend anzusehenden Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlage, der Versicherungsleistungen oder der Sterbewahrscheinlichkeiten, vor. Die Versicherungsleistungen im Sinne von § 203 Abs. 2 Satz 3 VVG liegen allerdings der Kalkulation des Beitragsentlastungstarifs nicht zugrunde. Nach § 15 Abs. 2 und 3 KVAV sind für den auslösenden Faktor die Grundkopfschäden maßgebend (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 2004 - IV ZR 117/02, BGHZ 159, 323, 331 [juris Rn. 20] zur Vorgängerregelung in § 14 KalV), d.h. die Kopfschäden nach § 6 Abs. 1 KVAV als die über einen Zeitraum von zwölf Monaten auf einen Versicherten entfallenden durchschnittlichen Versicherungsleistungen. Die Leistung des Versicherers im Beitragsentlastungstarif - der Geldbetrag, der mit der Beitragsschuld verrechnet wird - zählt nicht dazu (vgl. Boetius, r+s 2022, 248, 254). Dies steht einer Anwendung von § 203 Abs. 2 VVG auf den Beitragsentlastungstarif jedoch nicht entgegen, da bereits die Veränderung bei nur einer der genannten Rechnungsgrundlagen ausreicht, um eine Prämienüberprüfung auszulösen. Die Sterbewahrscheinlichkeit wirkt sich auf die Leistung des Versicherers im Beitragsentlastungstarif und damit auf die Kalkulation aus, da die Lebensdauer die Leistungsdauer in diesem Tarif bestimmt (vgl. Boetius aaO). Das Gesetz enthält keinen Anhaltspunkt dafür, dass eine Krankenversicherung beide dort genannten Rechnungsgrundlagen für ihre Kalkulation verwenden müsste, damit eine Veränderung nur eines der beiden eine Prämienanpassung auslösen kann. Die Höhe des in § 203 Abs. 2 Satz 4 VVG in Verbindung mit § 155 Abs. 4 VAG festgelegten Schwellenwerts von 5 % für eine Abweichung der erforderlichen von den kalkulierten Sterbewahrscheinlichkeiten, der überschritten werden muss, soll nach dem Willen des Gesetzgebers eine Prämienanpassung bei nur unbedeutenden Änderungen gegenüber der Kalkulation ausschließen (vgl. BT-Drucks. 16/3945, S. 122). Die Prämienanpassungsvorschrift des § 203 Abs. 2 VVG - einschließlich der Beteiligung des Treuhänders - kann nicht deswegen unangewendet bleiben, weil diese Wertung des Gesetzgebers keine häufigeren Prämienanpassungen erlaubt.
Rz. 20
2. Die Prämienanpassungsklausel in Abschnitt D BB-BEA weicht zum Nachteil des Versicherungsnehmers von den in § 203 Abs. 2 VVG in Verbindung mit § 155 Abs. 4 VAG geregelten Voraussetzungen einer Prämienanpassung ab und ist daher nach § 208 Satz 1 VVG unwirksam. Die in dieser Klausel als Voraussetzung einer Prämienanpassung genannte Einführung einer neuen Sterbetafel in der privaten Pflegepflichtversicherung hat keinen Bezug zu der in § 203 Abs. 2 Satz 1 und 3 VVG vorausgesetzten Veränderung der Sterbewahrscheinlichkeit als für die Prämienkalkulation im Beitragsentlastungstarif maßgeblichen Rechnungsgrundlage; eine Abweichung von mehr als 5 % bei einer Gegenüberstellung der erforderlichen und kalkulierten Sterbewahrscheinlichkeiten für diesen Tarif wird in dieser Klausel erst recht nicht gefordert. Selbst wenn man den weiteren Wortlaut des Abschnitt D BB-BEA, nach dem die Sterbetafel "auf Grundlage des § 8b Teil 1 der allgemeinen Versicherungsbedingungen in der Pflegepflichtversicherung" eingeführt werde, so verstehen könnte, dass damit die Prämienanpassungsvoraussetzungen des § 8b MB/PPV angewendet werden sollten, wäre dies mit § 203 Abs. 2 Satz 1 VVG nicht zu vereinbaren, der eine Veränderung einer für die Prämienkalkulation maßgeblichen Rechnungsgrundlage voraussetzt und damit ausschließlich auf die Sterbewahrscheinlichkeit verweist, die der Kalkulation in dem anzupassenden Tarif selbst zugrunde liegt. Die Anpassung eines Tarifs ist an den Anpassungsbedarf eben dieses Tarifs gekoppelt (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 2004 - IV ZR 117/02, BGHZ 159, 323, 330 [juris Rn. 18] zu § 12b VAG a.F.). Entgegen der Ansicht der Revision erfüllt dagegen eine Veränderung der Sterbewahrscheinlichkeit in einer anderen Versicherung, hier der Pflegepflichtversicherung des Klägers bei der Beklagten, nicht die Voraussetzungen von § 203 Abs. 2 VVG. Es genügt nicht, wenn die Prämienanpassung überhaupt von einem auslösenden Faktor abhängig gemacht wird. Ohne Erfolg rügt die Revision daher eine Gehörsverletzung, soweit sich das Berufungsgericht nicht mit dem diesbezüglichen Vortrag der Beklagten befasst habe. Diese Ausführungen waren nicht entscheidungserheblich.
Rz. 21
Die demnach in Abschnitt D BB-BEA vorgesehene Ermächtigung des Versicherers zu einer Beitragserhöhung, die nicht durch Entwicklungen in den diesem Tarif zugrundeliegenden Rechnungsgrundlagen sachlich gerechtfertigt ist, ist ein Nachteil für den Versicherungsnehmer, der nach § 208 Satz 1 VVG unzulässig ist. Aus einer Abweichung von halbzwingenden Vorschriften des Versicherungsvertragsgesetzes zum Nachteil des Versicherungsnehmers folgt die Unwirksamkeit nach § 307 BGB (vgl. Senatsurteil vom 22. Juni 2022 - IV ZR 253/20, VersR 2022, 1078 Rn. 32 m.w.N.). An die Stelle der unwirksamen Regelung tritt gemäß § 306 Abs. 2 BGB die gesetzliche Vorschrift des § 203 Abs. 2 Satz 1 und 3 VVG in Verbindung mit § 155 Abs. 3 und 4 VAG. Entgegen der Ansicht der Revision enthält § 203 Abs. 2 VVG eine verbindliche Regelung der Zulässigkeit einer Prämienanpassung und nicht nur die Bedingungen für eine Anpassungspflicht ohne Einschränkung des Anpassungsrechts des Versicherers. § 203 Abs. 2 VVG legt die Voraussetzungen fest, unter denen der Versicherer die Prämie neu festsetzen kann (vgl. BT-Drucks. 16/3945, S. 113). Eine Veränderung der dort genannten Rechnungsgrundlagen für den Beitragsentlastungstarif über dem jeweiligen Schwellenwert behauptet auch die Beklagte nicht, so dass es an den materiellen Voraussetzungen der Prämienanpassungen fehlt.
Rz. 22
3. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht dagegen die Prämienanpassungen im Beitragsentlastungstarif für formell wirksam gehalten. Das Erfordernis einer Begründung der Prämienanpassung als Voraussetzung ihres Wirksamwerdens folgt nach dem oben Gesagten auch für den Beitragsentlastungstarif aus § 203 Abs. 5 VVG. Mangels wirksamer Prämienanpassungsklausel richten sich die inhaltlichen Anforderungen an diese Begründung allein nach § 203 Abs. 5 in Verbindung mit Abs. 2 VVG und nicht nach den in dieser Klausel aufgeführten Voraussetzungen einer Prämienanpassung (a.A. OLG Köln, Urteil vom 27. Oktober 2020 - 9 U 63/20, juris Rn. 60). Die Mitteilung der maßgeblichen Gründe für die Neufestsetzung der Prämie nach § 203 Abs. 5 VVG erfordert die Angabe der Rechnungsgrundlage, deren nicht nur vorübergehende Veränderung die Neufestsetzung nach § 203 Abs. 2 Satz 1 VVG veranlasst hat (Senatsurteil vom 16. Dezember 2020 - IV ZR 294/19, BGHZ 228, 56 Rn. 26) Die Begründung in den hier in Rede stehenden Mitteilungen, dass in der Pflegepflichtversicherung eine neue Sterbetafel eingeführt wurde, enthält dagegen keine Angabe dazu, dass bei einem Vergleich der erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen oder Sterbewahrscheinlichkeit in diesem Tarif ein festgelegter Schwellenwert überschritten wurde.
Rz. 23
4. Aufgrund der demnach festzustellenden Unwirksamkeit der Prämienanpassungen und der fehlenden Zahlungspflicht - für die Erhöhung 2015 nur bis zur letzten Zahlung darauf am 1. Mai 2015 - hat das Berufungsgericht dem Kläger zutreffend die auf die Prämienanpassungen zum 1. Januar 2019 und 1. Januar 2020 bis zum 17. November 2020 gezahlten Erhöhungsbeträge von 677,67 € ([29 € x 23 Monate] + [0,97 € x 11 Monate]) nebst Zinsen ab Rechtshängigkeit zugesprochen. Außerdem hat es zu Recht die Pflicht zur Herausgabe der Nutzungen festgestellt, die die Beklagte aus den in nicht verjährter Zeit ab 1. Januar 2017 gezahlten Prämienanteilen bis zum 29. Dezember 2020 gezogen hat. Entgegen der Ansicht der Revision ist es rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht die Pflicht zur Herausgabe von aus den Erhöhungsbeträgen gezogenen Nutzungen hinsichtlich aller betroffener Prämienanpassungen für die seit 1. Januar 2017 gezahlten Beiträge festgestellt hat. Da sich diese Herausgabepflicht nur auf die gezogenen Nutzungen bezieht, betrifft sie auch nur die tatsächlich gezahlten Prämienanteile als Grundlage der Nutzungen. Für die Prämienerhöhung zum 1. Januar 2015, für die nur bis zum 1. Mai 2015 keine Zahlungspflicht bestand, und für die Prämienerhöhungen zum 1. Januar 2019 und 1. Januar 2020, auf die vor diesen Daten keine Prämienanteile gezahlt wurden, wird daher insgesamt oder für bestimmte Zeiträume kein Anspruch auf Herausgabe von Nutzungen begründet. Die Bestimmtheit des Tenors beeinträchtigt dies nicht.
Prof. Dr. Karczewski |
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WM 2024, 297 |
JZ 2024, 150 |
VuR 2024, 199 |
r+s 2024, 210 |