Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsanwalt. Schuldlose Versäumung Berufungsbegründungsfrist. Übermittlungsvorgang per Faxübertragung. Verzögerte Sendezeiten
Leitsatz (amtlich)
Einen Rechtsanwalt trifft kein Verschulden an dem verspäteten Eingang eines fristgebundenen Schriftsatzes, wenn die Telefaxübermittlung einen Zeitraum beansprucht, mit dem er nicht rechnen musste.
Normenkette
ZPO § 233
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 9. Zivilsenats des OLG München v. 24.6.2003 aufgehoben. Der Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung gegen das Urteil des LG München I v. 26.6.2002 gewährt.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Restwerklohn und Eintragung einer Sicherungshypothek.
Das LG hat der Klage weitgehend stattgegeben. Die Beklagte hat gegen das ihr am 1.7.2002 zugestellte Urteil fristgerecht Berufung eingelegt. Die Klägerin hat Anschlussberufung eingelegt. Der Beklagten wurde auf Antrag die Frist zur Berufungsbegründung bis 1.10.2002 verlängert. Die Berufungsbegründung ist ausweislich des Kontrollabschnitts des Empfangsgeräts des OLG am 2.10.2002 0.00 Uhr eingegangen.
Die Beklagte hat Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt und unter Vorlage von Sendeberichten glaubhaft gemacht:
Ihr Prozessbevollmächtigter habe am 1.10.2002 um 23.45 Uhr per Telefax die Berufungsbegründung, die 18 Seiten umfasst habe, an das Berufungsgericht versandt. Der Sendevorgang, der den OK-Vermerk trage, habe ausweislich des Sendeberichts 14.54 Minuten gedauert. Bei der Versendung habe er ein erst am 17.9.2002 neu angeschafftes Faxgerät benutzt. Die Berufung, die er zusammen mit einem 20-seitigen Urteil übersandt habe, die also insgesamt 22 Seiten umfasst habe, sei mit einem typengleichen Gerät in 11 Minuten und 4 Sekunden übermittelt worden, was einer Übertragungszeit von ca. 30 Sekunden pro Seite entspreche. Wenn die Übertragung der Berufungsbegründung nahezu 50 Sekunden pro Blatt betragen habe, müssten Leitungsstörungen vorgelegen haben. Auch die Statusberichte anderer Telefaxsendungen belegten, dass die Übertragungszeiten nur ca. 14-15 Sekunden pro Seite betragen hätten.
Bei Beginn der Übertragung um 23.45 Uhr habe sich der Prozessbevollmächtigte der Beklagten im Übrigen vergewissert, dass die Verbindung zum Empfangsgerät hergestellt gewesen sei. Wenn zu diesem Zeitpunkt keine Verbindung hätte hergestellt werden können, hätte der Schriftsatz in weniger als 10 Minuten in den Nachtbriefkasten des Gerichts geworfen werden können.
Das Berufungsgericht hat zu den technischen Fragen, die für die Entscheidung von Bedeutung sind, ob die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist ohne ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Beklagten erfolgt ist, ein Sachverständigengutachten eingeholt.
Es hat die Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist verworfen und den Antrag auf Wiedereinsetzung zurückgewiesen.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte sein Begehren auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Abweisung der Klage weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Der Beklagten ist unter Aufhebung des Berufungsurteils Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie ohne Verschulden verhindert war, die Frist zur Berufungsbegründung einzuhalten.
I.
1. Das Berufungsgericht stellt fest, dass ausweislich des ausgedruckten Kontrollabschnitts des mit Funkuhr gesteuerten Empfangsgeräts der Sendevorgang am 2.10.2002 um 0.00 Uhr beendet gewesen sei und damit das Ende der Übermittlung erst nach Datumswechsel stattgefunden habe.
2. Das Berufungsgericht hält den Wiedereinsetzungsantrag für unbegründet. Die Beklagte könne sich nicht darauf berufen, dass sie ohne ihr Verschulden die Frist zur Berufungsbegründung versäumt habe. Ihr Prozessbevollmächtigter habe nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Übermittlung des Schriftstücks in ca. 8-9 Minuten abgeschlossen würde.
Soweit in der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG und des BGH ein Vertrauen in bestimmte Übermittlungszeiten statuiert worden sei, betreffe dies den Briefverkehr bzw. die Telexübertragung. Anders zu beurteilen sei die Telefaxübertragung. Insofern habe der Sachverständige festgestellt, dass die beteiligten Geräte im sog. Hand-shake-Verfahren kommunizierten. Dabei würden zwischen den beteiligten Geräten Herstellername und Kennung ausgetauscht und wechselseitig mitgeteilt, mit welcher Geschwindigkeit und mit welcher Auflösung gearbeitet werde, welches Übertragungsverfahren benutzt werde und ob etwa bei der Übertragung einzelner Seiten Probleme aufträten. Es werde nicht zeichenweise, sondern bildpunktweise übertragen, wobei die Qualitätskriterien einstellbar seien. Die Dauer der Übertragung einer Seite hänge wesentlich von der Art des Textstücks ab. Eine leere Seite oder eine Seite mit wenig Text werde wesentlich schneller übertragen als Grafiken, die besonders lange dauerten.
Anders als beim früheren Telexdienst, wo es wegen der amtlichen Wartung eine hohe Übertragungssicherheit gegeben habe, unterlägen die Telefaxeinrichtungen dem eigenverantwortlichen Bereich der Benutzer. Die Qualität einer Daten- oder Faxübertragung im Telefonnetz sei nicht garantiert. Der Grund der Verzögerung sei später nicht mehr feststellbar. In der Übertragungsgeschwindigkeit von 4.800 bps wie hier liege per se keine Störung des Sendegerätes, sie könne auch auf eine Störung in den beteiligten Netzen oder im Empfangsgerät hinweisen, was auch umgekehrt gelte. Ein Vertrauen darauf, dass die Übertragung bis vor 0.00 Uhr beendet werden würde, sei aus technischer Sicht nicht begründet gewesen. Man wisse nie, welchen Zustand die beteiligten Geräte und die internen und externen Netze aufwiesen.
Im Hinblick auf diese gutachtlichen Äußerungen ist das Berufungsgericht der Ansicht, von einer unverschuldeten Versäumnis der Beklagten könne nicht ausgegangen werden. Da letztlich nicht zu klären sei, warum der Übertragungsvorgang länger als die anderen Übermittlungen gedauert habe, und denkbar sei, dass geringfügige Störungen in einem der beteiligten Geräte oder der beteiligten internen Netze aufgetreten seien, habe die Beklagte nicht glaubhaft gemacht, dass eine Störung außerhalb ihres Verantwortungsbereichs oder im Empfangsgerät gelegen habe. Anhaltspunkte für einen Fehler im gerichtlichen Empfangsgerät bestünden nicht. Die Sachlage unterscheide sich von der Situation im Briefverkehr, wo es Erklärungen der Post hinsichtlich einer normalerweise zu erwartenden Beförderungsdauer gebe. Die Sache sei vielmehr ähnlich dem Straßenverkehr, wo ebenfalls mit Verzögerungen zu rechnen sei, die einzukalkulieren seien.
II.
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung in wesentlichen Teilen nicht stand.
1. Zutreffend ist, dass die Berufungsbegründung verspätet erfolgt ist. Die Begründungsfrist endete mit Ablauf des 1.10.2002. Sie ist nach den zutreffenden und von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsurteils am 2.10.2002 0.00 Uhr beim Berufungsgericht eingegangen. Damit war die Berufungsbegründungsfrist abgelaufen, weil zu diesem Zeitpunkt der 2.10.2002 begann (BGH, Beschl. v. 24.7.2003 - VII ZB 8/03, BGHReport 2003, 1365 = MDR 2004, 46 = BauR 2003, 1924 = ZfBR 2003, 766; Beschl. v. 2.3.2000 - VII B 137/99, BFH/NV 2000, 1344; v. 25.11.2003 - VII R 9/03, BFH/NV 2004, 529, jeweils in Juris dokumentiert).
2. Die Revision beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist versagt hat. Den Prozessbevollmächtigten der Beklagten trifft an der Versäumung der Frist kein Verschulden.
a) Ein schuldhaftes Fehlverhalten des Prozessbevollmächtigten der Beklagten an der Versäumung der Frist zur Berufungsbegründung liegt nicht darin, dass er erst um 23.45 Uhr mit der Versendung der Berufungsbegründungsschrift per Fax begonnen hat. Der Bürger ist berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten prozessualen Fristen bis zu ihrer Grenze auszunutzen (BVerfG, Beschl. v. 7.5.1991 - 2 BvR 215/90, NJW 1991, 2076, m.w.N.).
b) Dass durch den verspäteten Eingang des Berufungsbegründungsschriftsatzes die Frist versäumt wurde, beruht nicht auf einem schuldhaften Fehlverhalten des Prozessbevollmächtigten der Beklagten.
Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Die Gerichte dürfen daher bei der Auslegung der die Wiedereinsetzung begründenden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, nicht überspannen. Wird von einem Gericht für die Zusendung fristwahrender Schriftsätze der Übermittlungsweg durch Telefax eröffnet, so dürfen die aus den technischen Gegebenheiten dieses Kommunikationsmittels herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Insbesondere hat der Nutzer mit der Wahl eines anerkannten Übermittlungsmediums, der ordnungsgemäßen Nutzung eines funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der Empfängernummer das seinerseits Erforderliche zur Fristwahrung getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, dass unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss vor 0.00 Uhr zu rechnen ist (BVerfG, Beschl. v. 1.8.1996 - 1 BvR 121/95, CR 1996, 722 = NJW 1996, 2857, m.w.N.; BGH, Beschl. v. 1.2.2001 - V ZB 33/00, BGHReport 2001, 436 = NJW-RR 2001, 916, v. 17.5.2004 - II ZB 22/03, CR 2004, 709 = BGHReport 2004, 1256 = MDR 2004, 1133 = NJW 2004, 2525).
Das Berufungsgericht hat bei der Wertung des Verschuldens des Prozessbevollmächtigten der Beklagten diese Grundsätze verkannt.
aa) Es beurteilt, nachdem es sich selbst erst die technischen Kenntnisse durch Einholung eines Sachverständigengutachtens verschafft hat, das Verschulden eines Rechtsanwalts nicht danach, was von diesem an Kenntnissen hinsichtlich des Übermittlungsvorgangs der Faxübertragung erwartet werden kann, sondern nach den Kenntnissen und Erfahrungen eines technischen Sachverständigen. Damit stellt es bereits bei der Beurteilung des Verschuldens verfehlte Anforderungen.
bb) Es bedarf keiner Entscheidung, mit welcher Übertragungszeit ein Rechtsanwalt bei der Übermittlung eines Schriftsatzes per Telefax normalerweise rechnen darf. Den Prozessbevollmächtigten der Beklagten trifft jedenfalls unter den gegebenen Umständen kein Verschulden an der Fristversäumung. Er hat ein neues Telefaxgerät benutzt, mit dem innerhalb der noch zur Verfügung stehenden Zeit eine Übertragung des Schriftsatzes jedenfalls möglich war. Er hat sich weiter davon überzeugt, dass die Verbindung zum Empfangsgerät zu einem Zeitpunkt hergestellt wurde, als sogar noch eine anderweitige Übermittlung des Schriftsatzes möglich war. Er durfte darauf vertrauen, dass die Übermittlung nicht wesentlich länger dauern würde als die bisherigen Schriftsätze an das Berufungsgericht. Insofern hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten glaubhaft gemacht, dass die Übermittlung der Berufungsschrift mit den übersandten Anlagen eine Zeit von ca. 30 Sekunden pro Seite gedauert hat. Er hat weiter durch Vorlage von Statusberichten belegt, dass andere Schriftstücke nur eine Übertragungszeit von ca. 14-15 Sekunden pro Seite benötigten. Bei dieser Sachlage musste er nicht damit rechnen, dass für die Übermittlung des Berufungsbegründungsschriftsatzes nahezu 50 Sekunden pro Seite erforderlich sein würden, auch wenn mit dieser Sendedauer nach Ansicht des Sachverständigen "rein technisch" hätte gerechnet werden müssen.
cc) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist wegen der Technik der Faxübermittlung nicht eine andere Beurteilung angebracht als bei der Übermittlung durch die Post oder der Übermittlung per Telex. Auch dort wird, was das Berufungsgericht nicht verkennt, nicht eine bestimmte Postlaufzeit oder Telexübermittlungszeit zugesichert. Für die Beurteilung maßgebend ist vielmehr, mit welcher durchschnittlichen Übermittlungszeit der Versender rechnen durfte.
Mit einer Übertragungszeit von 50 Sekunden pro Seite eines Textes musste der Prozessbevollmächtigte im Hinblick auf die im Übrigen glaubhaft gemachten Sendezeiten nicht rechnen.
Fundstellen
Haufe-Index 1288729 |
HFR 2005, 364 |
NJW 2005, 678 |
BGHR 2005, 458 |
FamRZ 2005, 266 |
CR 2005, 442 |
JurBüro 2005, 392 |
ZAP 2005, 386 |
MDR 2005, 469 |
ZfBR 2005, 253 |
BrBp 2005, 212 |
K&R 2005, 136 |
MMR 2005, 167 |
NZBau 2005, 284 |
RENOpraxis 2005, 60 |
BRAK-Mitt. 2005, 20 |
KammerForum 2005, 55 |