Leitsatz (amtlich)
Der Grundsatz, dass sich der Tatrichter seiner Aufgabe, eine Schadensermittlung vorzunehmen, nicht vorschnell unter Hinweis auf die Unsicherheit möglicher Prognosen entziehen darf (BGH, Urt. v. 17.2.1998 - VI ZR 342/96, MDR 1998, 534 m. Anm. van Bühren = NJW 1998, 1633), gilt auch im Bereich der Vertragshaftung.
Normenkette
BGB § 252 S. 2
Verfahrensgang
OLG München (Urteil vom 03.02.1999; Aktenzeichen 7 U 1892/98) |
LG München I |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das am 3.2.1999 verkündete Urteil des 7. Zivilsenats des OLG München im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage i.H.v. 1.150.000 DM (entsprechend 587.985,66 EUR) nebst Zinsen abgewiesen worden ist.
In diesem Umfang wird die Sache zu anderweiter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin und die während des Verfahrens insolvent gewordene M. A. GmbH (nachfolgend: Schuldnerin) schlossen im Jahr 1989 eine Vereinbarung über die Produktion, Nachentwicklung und den Vertrieb eines von der Klägerin entwickelten, als "Mi. " bezeichneten Analysegeräts, das in einer isokratischen und einer binären Version hergestellt werden sollte. In der Vereinbarung war festgelegt, dass die Schuldnerin, die zum B. gehörte, zunächst fünf Geräte einer Nullserie, und zwar drei in der isokratischen und zwei in der binären Version, herstellen sollte. Die Klägerin rief diese Geräte im Juli 1989 ab. Die Schuldnerin lieferte im Frühjahr 1990 die drei Geräte in der isokratischen Version aus, von denen die Klägerin eines bezahlte. Die Herstellung der binären Geräte bereitete der Schuldnerin Schwierigkeiten. Die Schuldnerin entschloss sich deshalb, die Zusammenarbeit zu beenden, und kündigte nach einem Gespräch mit dem Geschäftsführer der Klägerin den Vertrag fristgemäß zum 30.6.1991. Die Klägerin und die Schuldnerin einigten sich darauf, die noch nicht erledigten Bestellungen in eine solche über zwei isokratische Geräte abzuändern, die seitens der Schuldnerin auch bereitgestellt, aber von der Klägerin nicht mehr abgerufen wurden. Die Schuldnerin führte die Bemühungen wegen der binären Version nicht weiter; die Klägerin tätigte keine weiteren Bestellungen.
Die Klägerin machte gegen die Schuldnerin einen Schadensersatzanspruch i.H.v. 1.150.000 DM nebst Zinsen mit der Behauptung geltend, ihr sei bis zum 30.6.1991 ein Gewinn aus der Vermarktung der Geräte in dieser Höhe entgangen. Außerdem stritten die Klägerin und die Schuldnerin über die Vergütung für die drei ausgelieferten Geräte; insoweit ist das Verfahren nach Ablehnung der Annahme der Revision der Klägerin abgeschlossen. Das LG hat dem Schadensersatzanspruch zunächst durch Teil- und Grundurteil zur Hälfte stattgegeben. Nach Aufhebung und Zurückverweisung durch das OLG hat es der Klage wiederum teilweise entsprochen. Im Berufungsverfahren hat das OLG die Klage insgesamt abgewiesen und einer Widerklage der Schuldnerin im Wesentlichen stattgegeben. Der Senat hat die Revision der Klägerin nur insoweit angenommen, als die Klage i.H.v. 1.150.000 DM nebst Zinsen abgewiesen worden ist. In diesem Umfang hat die Klägerin ihr Begehren zunächst weiterverfolgt. Während des Revisionsverfahrens ist über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Die Klägerin hat den Rechtsstreit gegen den Insolvenzverwalter aufgenommen und beantragt nunmehr, zur Insolvenztabelle festzustellen, dass der Klägerin eine Insolvenzforderung i.H.v. 587.985,66 EUR nebst bezifferter Zinsen zusteht. Der Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision führt im Umfang der Annahme zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens zu übertragen ist.
I. Das Berufungsgericht hat Schadensersatzansprüche der Klägerin wegen Pflichtverletzungen hinsichtlich der isokratischen Analysegeräte durch die Schuldnerin verneint. Die Revision rügt, dass das Berufungsgericht insoweit einen möglichen Interessewegfall bei der Klägerin auch im Hinblick auf diese Geräte nicht berücksichtigt habe. Das Berufungsgericht wird im wiedereröffneten Berufungsrechtszug die Möglichkeit haben, sich mit diesem Gesichtspunkt näher zu befassen.
II. Nicht beigetreten werden kann dem Berufungsgericht im Ergebnis in seiner Verneinung von Schadensersatzansprüchen auch hinsichtlich der binären Geräte.
1. Das Berufungsgericht hat insoweit eine schuldhafte Pflichtverletzung durch die Schuldnerin jedenfalls im Ergebnis zutreffend bejaht.
a) Insoweit ergibt sich aus den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen, dass die Schuldnerin dadurch in Verzug geraten ist, dass sie die für die Herstellung dieser Version erforderlichen Leistungen nicht erbracht hat. Allerdings fehlt es an einer nach § 326 Abs. 1 S. 1 BGB a.F. grundsätzlich notwendigen Ablehnungsandrohung. Jedoch war diese dann nicht erforderlich, wenn bezüglich des binären Geräts eine ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung vorlag. Nach dem vom Berufungsgericht festgestellten Verhalten der Schuldnerin (Stornierung der Bestellung neuer Pumpen und Abbruch der Weiterentwicklung des binären Geräts sowie Schreiben v. 13.9.1990) ist jedenfalls für das Revisionsverfahren von einer endgültigen und ernsthaften Erfüllungsverweigerung auszugehen.
b) Die Klägerin kann, soweit sich nach erneuter Prüfung kein Interessewegfall hinsichtlich der isokratischen Geräte ergeben sollte, allerdings nur Schadensersatz wegen des nicht erfüllten Teils verlangen (§ 326 Abs. 1 S. 3 BGB i.V.m. § 325 Abs. 1 S. 2 BGB, jeweils in der vor dem 1.1.2002 geltenden Fassung - nachfolgend: a.F. -; Art. 229 Abs. 5 EGBGB).
c) Soweit das Berufungsgericht mangelnde Vertragstreue und Mitverschulden der Klägerin verneint hat, treten Rechtsfehler zum Nachteil der Klägerin nicht hervor.
2. Das Berufungsgericht hat gleichwohl Schadensersatzansprüche der Klägerin im Ergebnis daran scheitern lassen, dass diese einen Schaden nicht nachgewiesen habe. Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
a) Das Berufungsgericht hat sich dabei darauf gestützt, dass es die hierzu gehörte Sachverständige für unmöglich gehalten habe, hierüber eine Aussage zu treffen. Nach ihren Bekundungen habe zwar ein Gewinn, aber gleichermaßen auch ein Verlust entstehen können, da derartige Geräte noch niemals gebaut worden seien.
b) Das Berufungsgericht hat es für möglich gehalten, dass das binäre Gerät bis zum 30.6.1996 habe fertig gestellt werden können. Hiervon ist auch im Revisionsverfahren zu Gunsten der Klägerin auszugehen. Damit kommt, nachdem die Schuldnerin hierzu auch verpflichtet war, ein Schaden, der einen Schadensersatzanspruch begründen konnte, grundsätzlich in Betracht.
c) Für die Schadensfeststellung gilt nach § 252 S. 2 Alt. 1 BGB derjenige Gewinn als entgangen, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Zweck der Bestimmung ist es, dem Geschädigten den Beweis zu erleichtern (BGH, Urt. v. 24.4.1979 - VI ZR 204/76, BGHZ 74, 221 [224], m.w.N.; v. 5.2.1987 - IX ZR 161/85, BGHZ 100, 36 [49] = MDR 1987, 494). Ist ersichtlich, dass der Gewinn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge oder den besonderen Umständen mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte, dann wird vermutet, dass er gemacht worden wäre. Volle Gewissheit, dass der Gewinn gezogen worden wäre, ist nicht erforderlich (BGHZ 29, 393 [398]; BGH v. 5.2.1987 - IX ZR 161/85, BGHZ 100, 36 [50] = MDR 1987, 494; Urt. v. 2.5.2002 - III ZR 100/01, BGHReport 2002, 692 = MDR 2002, 892 = NJW 2002, 2556 = BGHR BGB § 252 Kapitalanlage 1). Insoweit dürfen an das Vorbringen eines selbständigen Unternehmers, ihm seien erwartete Gewinne entgangen, wegen der damit regelmäßig verbundenen Schwierigkeiten keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden (BGH, Urt. v. 9.4.1992 - IX ZR 104/91, MDR 1992, 900 = NJW-RR 1992, 997 [998] = BGHR ZPO § 287 Abs. 1 Gewinnentgang 6).
Die Klägerin hat einen Gewinnentgang dahin substantiiert, dass sie nach einem von ihr mit der Schuldnerin erstellten Absatzplan 60 Geräte, und zwar je 30 beider Versionen, davon 17 Geräte fix, mit einem Gewinn von jeweils mindestens 26.800 DM hätte absetzen können. Damit hat sie Ausgangs- und Anknüpfungstatsachen für eine Wahrscheinlichkeitsprognose nach § 252 BGB und eine daran anknüpfende Schadensschätzung nach § 287 ZPO dargelegt. Auf dieser Grundlage konnte - wie das Berufungsgericht dies auch versucht hat - Beweis erhoben werden. Die erstinstanzlich gehörte Sachverständige hat sich dazu dahin geäußert, dass sowohl ein höherer Gewinn als 30.000 DM in Betracht komme als auch ein Verlust.
Das Berufungsgericht durfte nach § 252 S. 2 BGB einen Schadensersatzanspruch nur dann verneinen, wenn ein Schadenseintritt nicht mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten war. Eine entsprechende Gewinnerwartung bestand jedenfalls hinsichtlich der isokratischen Geräte und führte insoweit jedenfalls dann zu einem Schaden, wenn sich, was noch zu klären ist, die Klägerin insoweit auf Interessewegfall berufen kann. Aber auch hinsichtlich der binären Geräte kann mit der Argumentation des Berufungsgerichts ein Schaden nicht verneint werden. Jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem es um die Markteinführung eines neu entwickelten Geräts geht, ist die Wahrscheinlichkeitsprognose notwendig unsicher; eine Differenzierung zwischen "gewisser" oder "überwiegender" Wahrscheinlichkeit führt hier nicht ohne weiteres weiter. Dieser Schwierigkeit muss auch im Bereich der Vertragshaftung nach den gleichen Grundsätzen Rechnung getragen werden, wie sie der VI. Zivilsenat des BGH für Ansprüche aus unerlaubter Handlung entwickelt hat (BGH, Urt. v. 17.2.1998 - VI ZR 342/96, MDR 1998, 534 m. Anm. van Bühren = NJW 1998, 1633 [1634]; Urt. v. 3.3.1998 - VI ZR 385/96, MDR 1998, 595 = NJW 1998, 1634, 1636 = BGHR BGB § 842 Selbständige 1; v. 20.4.1999 - VI ZR 65/98, VersR 2000, 233; v. 6.2.2001 - VI ZR 339/99, MDR 2001, 689 = BGHReport 2001, 376 = NJW 2001, 1640, 1641 = BGHR BGB § 252 S. 2 Verdienstausfall 8). Demnach darf sich der Tatrichter seiner Aufgabe, auf der Grundlage der §§ 252 BGB und 287 ZPO eine Schadensermittlung vorzunehmen, nicht vorschnell unter Hinweis auf die Unsicherheit möglicher Prognosen entziehen. Wird dem Geschädigten durch vertragswidriges Verhalten des Schädigers die Möglichkeit genommen oder beschränkt, sein neues Produkt auf den Markt zu bringen, darf der Wahrscheinlichkeitsnachweis nicht schon deshalb als nicht geführt angesehen werden, weil sich eine überwiegende Wahrscheinlichkeit nicht feststellen lässt. Vielmehr liegt es im Bereich der Vertragshaftung in einem solchen Fall nahe, nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge von einem angemessenen Erfolg des Geschädigten beim Vertrieb auszugehen und auf dieser Grundlage die Prognose hinsichtlich des entgangenen Gewinns und des infolgedessen entstandenen Schadens anzustellen, wobei auch ein Risikoabschlag in Betracht kommen mag.
d) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen an die zu treffende Prognoseentscheidung ist das Berufungsgericht nicht gerecht geworden. Es hat sich von Rechtsirrtum beeinflusst die Bekundung der Sachverständigen zu Eigen gemacht, eine Voraussage des wirtschaftlichen Erfolgs sei letztlich nicht möglich. Es hat damit versäumt, aus den tatsächlichen Grundlagen, von denen es ausgegangen ist, die nach § 252 BGB erforderlichen Schlüsse zu ziehen und die demnach auf der Grundlage des § 287 ZPO zumindest gebotene Schätzung eines Mindestschadens (vgl. u.a. BGH, Urt. v. 1.2.2000 - X ZR 222/98, NJW-RR 2000, 1340 [1341]) selbst vorzunehmen.
III. Bei der erneuten Verhandlung wird das Berufungsgericht zunächst zu prüfen haben, ob hinsichtlich der isokratischen Geräte ein Interessewegfall bei der Klägerin eingetreten ist. Es wird weiter unter Berücksichtigung der Beweiserleichterungen, die sich aus den §§ 252 BGB, 287 ZPO ergeben, die Höhe des entgangenen Gewinns festzustellen haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1443598 |
NJW 2005, 3348 |
BGHR 2005, 1607 |
BauR 2005, 1922 |
JurBüro 2006, 104 |
WM 2005, 2303 |
MDR 2006, 320 |
VersR 2006, 131 |
GuT 2005, 261 |