Höhe des merkantilen Minderwerts von Unfallfahrzeugen
Der für Schadensersatzansprüche aus Verkehrsunfällen zuständige VI. Senat des BGH hat entschieden, dass die Schätzung des merkantilen Minderwertes eines erheblich beschädigten Unfallfahrzeuges, immer auf der Grundlage des Nettoverkaufspreises, d.h. ohne Berücksichtigung der Mehrwertsteuer, zu ermitteln ist.
Merkantiler Minderwert infolge erheblichen Unfallschadens
Ein von der Klägerin geleastes Fahrzeug wurde bei einem Verkehrsunfall erheblich beschädigt. Nach dem Leasingvertrag war die Klägerin zur Geltendmachung fahrzeugbezogener Ansprüche im eigenen Namen ermächtigt. Der Sachverständige schätzte den merkantilen Minderwert des Fahrzeugs, also die auch nach Durchführung einer ordnungsgemäßen Reparatur infolge des Unfalls entstandene Minderung des Verkaufswertes des Fahrzeugs auf 1.250 EUR.
Haftpflichtversicherung zahlt nur Teil des Minderwertes
Die unstreitig zur Schadensregulierung verpflichtete gegnerische Versicherung zahlte auf den merkantilen Minderwert lediglich einen Betrag in Höhe von 700 EUR. Die auf Zahlung der verbleibenden Differenz gerichtete Klage war erstinstanzlich überwiegend erfolgreich. Das Berufungsgericht reduzierte die erstinstanzliche Verurteilung auf eine Zahlung in Höhe von 300 EUR, nachdem der zweitinstanzlich beauftragte Sachverständige den Minderwert auf lediglich 1.000 EUR geschätzt hatte.
Merkantiler Minderwert in der Rechtsprechung anerkannt
Der BGH stellte klar, dass es sich bei dem merkantilen Minderwert um eine Minderung des Verkaufswertes eines Fahrzeugs handelt, die trotz völliger und ordnungsgemäßer Instandsetzung eines bei einem Unfall erheblich beschädigten Kraftfahrzeugs allein deshalb verbleibt, weil bei einem großen Teil des Publikums eine den Preis beeinflussende Abneigung gegen den Erwerb unfallbeschädigter Fahrzeuge und bei Unfallfahrzeugen ein latentes Risiko höher Schadensanfälligkeit besteht (BGH, Urteil v. 23.11.2004, VI ZR 357/03; BGH, Beschluss v. 8.12.2021, VIII ZR 280/20).
Ersatz des merkantilen Minderwertes unabhängig vom Weiterverkauf
Nach der Rechtsprechung des BGH ist der Minderwert eines erheblich unfallgeschädigten Fahrzeugs unabhängig davon zu ersetzen, welche Disposition der Geschädigte über das Fahrzeug trifft. Unerheblich ist insbesondere, ob der Geschädigte das Fahrzeug tatsächlich verkauft und sich der Minderwert in seinem Vermögen manifestiert. Der Schaden folgt allein daraus, dass er infolge des Unfalls einen geringeren Vermögenswert in Händen hält als zuvor (BGH, Urteil v. 2.12.1966, VI ZR 72/65). Unerheblich ist auch, dass sich der merkantile Minderwert mit zunehmender Haltedauer des Besitzers im Laufe der Jahre deutlich reduziert.
Minderwert ist durch den Tatrichter zu schätzen
Die Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruches liegt nach dem Urteil des BGH nur in begrenztem Umfange einer revisionsrechtlichen Überprüfung, denn sie sei in erster Linie Gegenstand der tatrichterlichen Schätzung gem. § 287 ZPO. Überprüfbar sei die tatrichterliche Schätzung in der Revision nur insoweit, als der Tatrichter bei der Schadensbemessung wesentliche Bemessungsfaktoren außer acht gelassen oder unrichtige Bemessungsfaktoren angewandt hat (BGH, Urteil v. 29.9.2020, VI ZR 271/19).
Bewertungsgrundlage der Sachverständigen nicht geklärt
Ein solcher revisionsrechtlich relevanter Bemessungsfehler ist den Vorinstanzen nach der Entscheidung des BGH hier unterlaufen. Die Vorinstanzen hätten es versäumt, Feststellungen darüber zu treffen, ob die in der Sache tätig gewordenen Sachverständigen bei der Schätzung des merkantilen Minderwerts Brutto- oder Nettoverkaufspreise zugrunde gelegt hatten.
Merkantiler Minderwert ist umsatzsteuerneutral
Die Unterscheidung zwischen Brutto- und Nettoverkaufspreisen ist nach der Entscheidung des Senats bei der Berechnung des merkantilen Minderwerts zwingend erforderlich, denn der Ersatz des merkantilen Minderwerts unterliege nicht der Umsatzsteuer nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG. Die Entschädigung für den merkantilen Minderwert sei nämlich keine Leistung gegen Entgelt im Sinne des Umsatzsteuergesetzes, da es am erforderlichen Austausch gegenseitiger Leistungen fehle (BGH, Urteil v. 18.5.2011, VIII ZR 260/10).
Nettowert auch für Unternehmen maßgeblich
Bei einem gedachten Verkauf des Fahrzeugs auf dem freien Markt erfolge der Verkauf durch eine Privatperson grundsätzlich ohne Mehrwertsteuer, also zum Nettoverkaufspreis. Dieser sei aber auch für ein Unternehmen die entscheidende Bemessungsgrundlage. Zwar stelle ein gewerbliches Unternehmen beim Verkauf eines Fahrzeugs die Mehrwertsteuer in Rechnung, diese sei aber für das Unternehmen nur ein durchlaufender Rechnungsposten und müsse an das Finanzamt abgeführt werden. Auch für ein Unternehmen entstehe damit ein Schaden in Form des merkantilen Minderwerts nur in Höhe des Nettoverkaufspreises.
Schätzgrundlage muss geklärt sein
Der BGH rechnete vor, dass es bei einer Schätzung durch den Sachverständigen auf der Grundlage von Bruttoverkaufspreisen und einer darauf aufbauenden Entschädigung zu einer ungerechtfertigten, mit den Grundsätzen des Schadensrechts nicht zu vereinbarenden Bereicherung des Geschädigten kommen würde. Deshalb dürfe ein Ersatz des merkantilen Minderwerts grundsätzlich nur auf der Basis des erziehbare Nettoverkaufspreises zugesprochen werden. Deshalb komme es im anhängigen Fall darauf an, ob die Sachverständigenschätzung des merkantilen Minderwerts auf einem möglichen Netto- oder auf einem Bruttoverkaufspreis basiert.
Mehrwertsteuer ist gegebenenfalls in Abzug zu bringen
Da den Feststellungen des Berufungsgerichts keine Ausführungen darüber zu entnehmen waren, ob die Schätzung des merkantilen Minderwerts auf der Grundlage von Brutto- oder von Nettoverkaufspreisen vorgenommen wurde, hat der BGH die Sache zur Aufklärung dieser Frage und zur weiteren Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen. Sollte sich herausstellen, dass die Schätzung auf der Grundlage von Bruttowerten erfolgt ist, müsste von dem daraus errechneten merkantilen Minderwert in der Höhe der Mehrwertsteuer entsprechender Betrag in Abzug gebracht werden.
(BGH, Urteil v. 16.7.2024, VI ZR 188/22)
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