Anspruch auf Verdienstausfall bei unrichtiger AU
Nach einer aktuellen Entscheidung des BGH steht eine fehlerhaft ausgestellte AU dem Anspruch eines Unfallgeschädigten auf Ersatz des erlittenen Verdienstausfalls nicht entgegen, wenn er auf die ihm von einem Arzt bescheinigte Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit vertraut und deshalb nicht zur Arbeit geht.
Kläger in der Waschstraße von Fahrzeug eingeklemmt
Der Kläger des Rechtsstreits war Mitarbeiter eines Waschstraßenunternehmens und wurde infolge des unstreitigen Verschuldens einer Kundin von deren Fahrzeug in der Waschstraße erfasst und eingeklemmt. Hierdurch erlitt er eine tiefe klaffende Risswunde und Quetschungen am linken Unterschenkel. Er musste zweimal stationär behandelt werden. Eine fachärztlich ausgestellte AU wies eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers für den Zeitraum 8.5.2019 bis voraussichtlich 14.9.2020, also über insgesamt mehr als 16 Monate aus.
Vorinstanzen entschieden auf Grundlage der objektiven Arbeitsfähigkeit
Der Kläger ging über den gesamten Zeitraum der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit nicht zur Arbeit und forderte von der Haftpflichtversicherung der Schädigerin Ersatz der Differenz zwischen seinem letzten monatlichen Gehalt und dem bezogenen Krankengeld. Die erst- und zweitinstanzlich zuständigen Gerichte sprachen dem Kläger lediglich Verdienstausfall für einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten nach Beendigung der regulären Entgeltfortzahlung zu. Begründung: Der Kläger sei seit dem 5.9.2019 trotz anhaltender neuropathischer Schmerzen nach dem vom Gericht eingeholten Sachverständigengutachten wieder arbeitsfähig gewesen.
Einschränkung der Erwerbsfähigkeit kann subjektiv bedingt sein
Dieses Ergebnis der Vorinstanzen überzeugte den BGH nicht. Der Senat stellte klar, dass
- ein Unfallgeschädigter Anspruch auf Ersatz sämtlicher Vermögensnachteile hat, die er durch eine Aufhebung oder Minderung seiner Erwerbsfähigkeit erleidet (BGH, Urteil v. 18.10.2022, VI ZR 1177/20).
- Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts setze dieser Anspruch nicht zwingend eine objektiv bestehende Arbeitsunfähigkeit voraus,
- vielmehr bestehe der Anspruch auch dann, wenn der Geschädigte „sich subjektiv als arbeitsunfähig ansehen“ musste, weil er auf die ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraut hat.
BGH zum Begriff der Arbeitsunfähigkeit
Zur Begrifflichkeit der Arbeitsunfähigkeit wies der BGH ergänzend darauf hin, dass die Arbeitsunfähigkeit auch nach der Rechtsprechung des BAG grundsätzlich nicht eine aus gesundheitlichen Gründen bestehende objektive Unfähigkeit des Arbeitnehmers zur Ausübung der von ihm geschuldeten Tätigkeit voraussetzt. Arbeitsunfähig sei ein Arbeitnehmer u.a. auch dann, wenn die Ausübung der geschuldeten Tätigkeit - obwohl objektiv möglich - aus medizinischer Sicht nicht vertretbar ist, weil eine Heilung nach ärztlicher Prognose hierdurch verhindert oder verzögert würde (BAG, Urteil v. 20.3.2024, 5 AZR 235/23).
Ersatzanspruch bei berechtigtem Vertrauen in die Richtigkeit der AU
Vor diesem Hintergrund sind nach der Entscheidung des Senats im Rahmen der subjektbezogenen Schadensbetrachtung nach § 249 BGB die spezielle Situation des Geschädigten und seine Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten in den Blick zu nehmen (BGH, Urteil v. 13.12.2022, VI ZR 324/21). Ein geschädigter Arbeitnehmer sei bei der Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt er dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft wieder anbieten soll, häufig auf die Einschätzung des ihn behandelnden Arztes angewiesen. Deshalb komme ein Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfallschadens grundsätzlich auch dann in Betracht, wenn der Geschädigte berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraut und deshalb nicht zur Arbeit geht.
Geschädigter muss berechtigtes Vertrauen darlegen und beweisen
Die Gefahr einer uferlosen Ausdehnung von Schadenersatzpflichten als Folge dieser Rechtsauffassung sieht der BGH nicht. Der Geschädigte müsse nämlich darlegen und beweisen, dass er auf die Richtigkeit der AU vertraut hat. So müsse der Geschädigte gegenüber dem Arzt zutreffende Angaben über die subjektiv von ihm empfundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie über die erlittenen Schmerzen gemacht haben. Der Geschädigte trage insoweit die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die ausgestellte AU auf einer zutreffenden Grundlage beruhe. Sein Vertrauen in die Richtigkeit der AU müsse er plausibel darlegen.
OLG muss erneut entscheiden
Da die Vorinstanzen bisher keine ausreichenden Feststellungen zur Frage des berechtigten Vertrauens des Klägers in die Richtigkeit der AU getroffen hatten, hat der BGH den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
(BGH, Urteil v. 8.10.2024, VI ZR 250/22)
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