Leitsatz (amtlich)
Kommt ein Fußgänger auf einem nicht geräumten und nicht gestreuten Gehweg infolge Eisglätte zu Fall, steht damit nicht im Wege eines Anscheinsbeweises fest, dass er den ihm obliegenden Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen ist. Selbst wenn ihm als Anlieger der Zustand des Gehweges bekannt war, folgt daraus noch nicht, dass er zwingend mit dem Vorhandensein von Eisflächen infolge der Unebenheit des Gehweges hätte rechnen müssen.
Ein Mitverschulden kann anzunehmen sein, wenn dem Geschädigten eine gefahrlose Alternative zur Verfügung stand oder kein besonderer Anlass für das Betreten des Gehweges bestand und der Geschädigte ohne besondere Not in Kenntnis einer möglichen Glätte den Gehweg betreten hat. Hierzu müssen konkreten Feststellungen getroffen werden, der pauschale Vorwurf, der Geschädigte hätte keine ausreichenden Vorkehrungen zur Beherrschung der Gefahr getroffen, reicht nicht aus.
Bei einer distalen dislozierten Unterarmfraktur rechts, einer distalen dislozierten Humerusfraktur rechts sowie einer distalen dislozierten Radiusfraktur links, insgesamt vier stationären Operationen sowie weiteren zwei ambulanten Operationen, einer stationären Behandlung von 35 Tagen und einer als Dauerschaden verbleibenden erheblichen Einschränkung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes sowie Taubheitsgefühlen im Unterarm und in der Hand, im Körper verbleibenden Metallteilen und Narben am rechten Arm und den Handgelenken ist ein Schmerzensgeld von 20.000 EUR angemessen.
Normenkette
BGB § 823 Abs. 1, § 253 Abs. 2, § 254 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Neuruppin (Urteil vom 25.05.2012; Aktenzeichen 1 O 321/11) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 25.5.2012 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des LG Neuruppin - 1 O 321/11 - teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 988,11 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.9.2011 zu zahlen.
Der Beklagte wird ferner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld i.H.v. 20.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.9.2011 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die im ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall stehen, den Frau H. S. am ... auf dem Gehweg vor dem Grundstück des Beklagten A. straße in B. erlitten hat, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Anschlussberufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Klägerin macht aus abgetretenem Recht Schadensersatz- sowie Schmerzensgeldansprüche gegen den Beklagten wegen der Verletzung der Räum- und Streupflicht im Zusammenhang mit einem Unfall geltend, der sich am 30.12.2009 auf dem Gehweg vor dem Grundstück des Beklagten in der A. straße in B. ereignet hat.
Wie in zweiter Instanz zwischen den Parteien nicht mehr in Streit steht, verließ an diesem Tage die Mutter der Klägerin, die Zedentin und Zeugin H. S., gegen 09:30 Uhr ihr Haus in der A. straße 10 in B., um Einkäufe zu tätigen. In der Höhe der Einfahrt zum Grundstück des Beklagten rutschte sie unter einer unter dem Neuschnee verborgenen Glatteisstelle aus und stürzte. Sie erlitt eine distale dislozierte Unterarmfraktur rechts sowie eine distale dislozierte Humerusfraktur rechts und eine distale Radiusfraktur links, die operativ versorgt wurden.
Die Klägerin hat vorgetragen, dass an diesem Tage leichter bis mäßiger Schneefall geherrscht habe, der gegen 08:30 Uhr aufgehört habe. Der Gehweg vor dem Grundstück des Beklagten sei seit Tagen nicht geräumt und auch nicht mit abstumpfenden Mitteln gestreut gewesen.
Mit Vereinbarung vom 7.6.2011 hat die Zedentin sämtliche, auch künftige Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus dem Unfall vom 30.12.2009 an die dies annehmende Klägerin abgetreten.
Die Klägerin hat materiellen Schadensersatz i.H.v. 1.248,11 EUR für Zuzahlungen, Behandlungen und Fahrtkosten, ein Schmerzensgeld i.H.v. mindestens 20.000 EUR sowie die Feststellung geltend gemacht, dass der Beklagte verpflichtet sei, ihr sämtlichen weiteren materiellen und immateriellen Schaden im Zusammenhang mit dem Unfall der Zedentin zu ersetzen.
Die Klägerin hat beantragt,
1. den Beklagten zu verurteilen, an sie 1.248,11 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen,
2. den Beklagten ferner zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mind...