Tenor
Die 19. Große Strafkammer des Landgerichts Hamburg wird angewiesen, bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache in dem gegen die Beschwerdeführerin E.… und andere geführten Strafverfahren 619 Kls 3/04 gegen die Beschwerdeführerin E.… keine Hauptverhandlung durchzuführen.
Tatbestand
I.
Vor der 19. Großen Strafkammer ist ein Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin und drei weitere Angeklagte unter anderem wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen und wegen Geldwäsche in drei Fällen anhängig. Der geständigen und auf freiem Fuß befindlichen Beschwerdeführerin werden die Beteiligung an einer Betäubungsmitteltat und drei Vergehen der Geldwäsche zur Last gelegt. Die Mitangeklagten haben von ihrem Schweigerecht Gebrauch gemacht und befinden sich seit 24. Oktober 2003 in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft hatte das Ermittlungsverfahren gegen die Beschwerdeführerin zunächst getrennt geführt, die Verfahren bei Abschluss des Ermittlungsverfahrens aber wegen Sachzusammenhangs verbunden und einheitlich Anklage zum Landgericht Hamburg erhoben.
a) Schon im Zwischenverfahren beantragte die Verteidigerin der Beschwerdeführerin unter Vorlage eines ärztlichen Attests ihres Gynäkologen die Abtrennung des gegen sie geführten Verfahrens und seine vorläufige Einstellung gemäß § 205 StPO, hilfsweise die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der (vorübergehenden) Verhandlungsunfähigkeit. Zur Begründung trug sie im Wesentlichen vor, dass ihre Mandantin sich in der 27. Woche einer “Risikoschwangerschaft” befinde. Sie habe bisher drei Kinder zur Welt gebracht, die sämtlich zu früh geboren worden seien; ihr zuletzt (im Jahr 2003) geborenes Kind sei im Alter von drei Monaten einem Nierenversagen erlegen. Seit Februar habe Wehentätigkeit eingesetzt, die medikamentös behandelt werde. Bei dieser Sachlage bedeute die Teilnahme an einer Hauptverhandlung eine unverhältnismäßige Gefährdung der Gesundheit der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes, die durch die Hinzuziehung eines Arztes während der Hauptverhandlung und eine zeitlich schonende Verhandlungsführung nicht aufgefangen werden könne. Die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung einer wirksamen Strafrechtspflege rechtfertige die Durchführung der Hauptverhandlung nicht, weil die zu befürchtenden Schäden für Mutter und Kind überwögen, zumal das Kind im Falle einer vorzeitig durch die Strapazen einer Hauptverhandlung ausgelösten Geburt wahrscheinlich nicht überlebensfähig sei oder zumindest bleibende Schäden davontragen könne. Die Hauptverhandlung könne gefahrlos voraussichtlich im Sommer des Jahres durchgeführt werden. Hilfsweise beantragte die Verteidigung die Einholung eines gynäkologischen Sachverständigengutachtens zur Frage der Verhandlungsfähigkeit.
b) Die Kammer, die das Hauptverfahren eröffnet und gemäß § 76 Abs. 2 GVG wegen des Umfangs der Sache eine Besetzung mit drei Berufsrichtern beschlossen hatte, holte ein Sachverständigengutachten zur Frage der Verhandlungsfähigkeit ein, das auf der Grundlage einer Untersuchung der Beschwerdeführerin am 19. April 2004 zu folgendem Ergebnis kam:
“In der Gesamtbeurteilung der geburtshilflichen Situation ergibt sich somit, dass bei der Patientin eine Risikoschwangerschaft vorliegt. Sie ist Zustand nach drei mal Frühgeburten in früheren Schwangerschaftszeiten. In der jetzigen Schwangerschaft besteht ebenfalls eine deutliche Cervixverkürzung und die Gefahr einer Muttermundseröffnung in der 33. Schwangerschaftswoche.
Aus medizinischer Sicht ist deshalb der Patientin eine stationäre Aufnahme mit entsprechender Beobachtung angeraten worden. Dies impliziert, dass die (sic!) Patientin absolute Ruhe, überwiegend im liegenden Zustand, ggf. unterstützt mit wehenhemmenden Mitteln, anzuraten ist. Demzufolge ist eine gerichtliche Verhandlungsfähigkeit aus medizinischer Sicht nicht gegeben, da durch die entstehenden Stressmomente vorzeitige Wehentätigkeit und damit die Frühgeburt gefördert wird.”
Nach der Unterschrift des Sachverständigen enthält das Gutachten das nachfolgende Postskriptum:
“Eine Verhandlungsfähigkeit besteht ab der 36. + 4. Schwangerschaftswoche, also ab dem 10. Mai”
c) Der Vorsitzende der Strafkammer hob die ursprünglich auf den 22. April anberaumte Hauptverhandlung auf und bestimmte neuen Termin auf den 10. Mai 2004 mit Fortsetzungsterminen bis einschließlich 16. Juni 2004 und damit über den errechneten Geburtstermin hinaus.
d) Die Verteidigerin der Beschwerdeführerin erhob gegen die Ladungsverfügung und die Ablehnung der Abtrennung und vorläufigen Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 205 StPO Gegenvorstellung, mit der sie vortrug, dass die vorgesehene Verfahrensweise der Strafkammer gegen den Grundsatz fairen Verfahrens verstoße und ihrer Mandantin den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 4 GG verweigere. Der verfassungsrechtlich gebotene Schutz der – werdenden – Mutter habe in den Vorschriften des Mutterschutzgesetzes und den inhaltsgleichen Mutterschutzverordnungen für Beamtinnen seinen Niederschlag gefunden; der Gesetzgeber habe ein Beschäftigungsverbot für Arbeitnehmerinnen in den letzten sechs Wochen vor der Geburt normiert. Zu dem geplanten Hauptverhandlungstermin am 10. Mai 2004 werde ihre Mandantin etwa vier Wochen vor dem geplanten Geburtstermin stehen; sie bedürfe deshalb des besonderen Schutzes durch den Staat.
e) Im Rahmen einer Entscheidung über die Haftfortdauer bezüglich der drei Mitangeklagten lehnte die Strafkammer die beantragte Abtrennung des Verfahrens und Einstellung gemäß § 205 StPO ab. Eine Abtrennung des Verfahrens komme nicht in Betracht; die Verbindung der Verfahren sei sachgerecht, weil es sich um eine zusammenhängende Strafsache handele. Die Beschwerdeführerin sei geständig und habe auch Angaben zu den Mitangeklagten gemacht. Eine Aufsplitterung des Verfahrens würde zu erheblichen Nachteilen führen, weil die Hauptverhandlung gegen die Beschwerdeführerin zu einem späteren Zeitpunkt, möglicherweise noch parallel zu der Verhandlung gegen die Mitangeklagten, durchgeführt werden müsse; eine umfangreiche und schwierige Hauptverhandlung müsse wiederholt werden; neben den steigenden Verfahrenskosten könne auch die Wahrheitsfindung beeinträchtigt werden; es bestünde “sogar die Gefahr abweichender Tatsachenfeststellungen und unterschiedlicher rechtlicher Beurteilungen des gleichen Lebenssachverhalts”. Dieser Gefahr könne auch nicht dadurch begegnet werden, dass die Beschwerdeführerin in der Hauptverhandlung gegen die drei Mitangeklagten als Zeugin vernommen werde, weil sie sich möglicherweise auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO, jedenfalls aber auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen könne.
a) Mit ihrer fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und trägt im Wesentlichen vor:
Die Ladung zur Hauptverhandlung und die Ablehnung der Abtrennung des gegen sie geführten Verfahrens und die vorläufige Verfahrenseinstellung nach § 205 StPO wegen vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit verletzten Art. 6 Abs. 4 GG. Ein Eingriff in den Schutzbereich dieser Grundrechtsgarantie liege jedenfalls vor, wenn eine staatliche Maßnahme Leib und Leben des ungeborenen Kindes gefährde. So liege es hier: Das gynäkologische Sachverständigengutachten stelle einen deutlich pathologischen Befund des Kindes (beginnende Kopf-Thorax-Diskrepanz) fest, der ärztlicher Überwachung bedürfe. Daher sei die vom Sachverständigen in ein Postskriptum gefasste Aussage, ab dem 10. Mai 2004 bestehe Verhandlungsfähigkeit, nicht nachvollziehbar; eine mögliche Erklärung liege darin, dass ein nach der 37. Schwangerschaftswoche geborenes Kind nicht mehr als Frühgeburt gelte. Damit sei aber noch keine Aussage darüber getroffen, ob das Kind unter den Bedingungen einer Hauptverhandlung lebend zur Welt kommen werde. Die vom Sachverständigen festgestellte Wachstumsretardierung weise darauf hin, dass das Kind durch die Plazenta nicht mehr ausreichend versorgt werde. Mit fortschreitender Schwangerschaft steige das Risiko eines intrauterinen Kindstods, ohne dass dies ohne Weiteres erkennbar sei.
Die Entscheidung der Kammer, die die Beschwerdeführerin als werdende Mutter einem solchen Risiko aussetze und allein auf das Risiko einer Frühgeburt abstelle, negiere den durch Art. 6 Abs. 4 GG verbürgten Schutzanspruch. Die verfassungsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung einer effektiven Strafrechtspflege fordere die Durchführung der Hauptverhandlung zum geplanten Zeitpunkt nicht; ihr könne ohne Weiteres mit einer Hauptverhandlung nach der Geburt des Kindes Genüge getan werden. Mögliche prozessökonomische Nachteile seien – wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter – hinzunehmen, zumal auch Strafverfahren gegen andere Tatbeteiligte getrennt geführt und verhandelt würden. Die Beschwerdeführerin stehe zum Zeitpunkt des Beginns der Hauptverhandlung etwa vier Wochen vor dem geplanten Geburtstermin und wäre als Arbeitnehmerin durch ein absolutes Beschäftigungsverbot geschützt. Auch wenn die Vorschriften des Mutterschutzgesetzes keine unmittelbare Anwendung finden könnten, dürfe eine schwangere Angeklagte im Strafverfahren nicht gänzlich schutzlos gestellt werden. Darüber hinaus erweise sich die Entscheidung der Strafkammer als unverhältnismäßig und willkürlich, weil völlig offen sei, wie die Verhandlung durchgeführt werden solle und ob sie an ihr überhaupt bis zum Ende werde teilnehmen können. Es sei insbesondere unzumutbar, sie über den geplanten Geburtstermin hinaus zur Teilnahme an einer Hauptverhandlung zu verpflichten, die gerade in diesem Zeitraum besonders intensiv (ganztägige Verhandlungen) geführt werden solle. Die Erwägung der Kammer, nach der die Beschwerdeführerin in einer Unterbrechung der Hauptverhandlung ihr Kind zur Welt bringen und fortan mit dem Kind – unter Zubilligung von Stillpausen – an der Hauptverhandlung teilnehmen solle, sei nicht nur unpraktikabel, sondern zugleich ein unzumutbarer Eingriff in Art. 6 Abs. 4 GG. Bei der von der Strafkammer geplanten Verfahrensweise könne die Angeklagte sich nicht sachgerecht verteidigen. Ladung und Verweigerung der Abtrennung des Verfahrens stellten eine Verletzung ihrer Menschenwürde dar, weil auf ihre physischen und psychischen Belange keine Rücksicht genommen und sie zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werde.
b) Wegen der erheblichen drohenden Nachteile begehrt die Beschwerdeführerin die Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen im Eilrechtswege.
Entscheidungsgründe
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweise sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 85, 94 ≪95 f.≫; stRspr).
2. a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
aa) Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde steht ihrer Zulässigkeit nicht entgegen. Der Beschwerdeführerin kann nicht zugemutet werden, vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde zunächst den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten und gegebenenfalls im Revisionsrechtszug zu rügen, dass die Hauptverhandlung gegen sie nicht unmittelbar vor der Geburt ihres Kindes hätte stattfinden dürfen.
bb) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet. Sie wirft in der Hauptsache die Frage auf, ob das Landgericht im Rahmen der Verfahrensgestaltung und bei der ihm von Amts wegen obliegenden Prüfung der Verhandlungsfähigkeit der Beschwerdeführerin für die unmittelbar bevorstehende umfangreiche und mehrtägige Hauptverhandlung der Ausstrahlungswirkung des Art. 6 Abs. 4 GG hinreichend Rechnung getragen und die Grundrechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG bedacht hat.
b) Die Folgenabwägung führt zum Erlass einer einstweiligen Anordnung.
aa) Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so könnte mit der Hauptverhandlung gegen die Beschwerdeführerin begonnen werden, obwohl ihre Durchführung zum jetzigen Zeitpunkt und nur vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin als verfassungswidrig erkannt würde. Die damit verbundenen Gefahren für die auf dem Spiel stehenden verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter – insbesondere der besondere Schutz der werdenden Mutter und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – könnten irreparabel sein.
bb) Ergeht die einstweilige Anordnung, wird die Verfassungsbeschwerde später aber als unbegründet zurückgewiesen, so wiegen die mit einer zeitlichen Verschiebung verbundenen Nachteile prozessökonomischer Verfahrenserledigung weniger schwer.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen