Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft
Beteiligte
1. Rechtsanwälte Gerhard M. Knöss und Kollege |
2. Rechtsanwälte Meinolf Reuther und Kollegin |
Verfahrensgang
BGH (Zwischenurteil vom 17.02.1999; Aktenzeichen 2 BJs 122/98-1) |
Tenor
1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17. Februar 1999 – 2 BJs 122/98-1 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes.
2. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft (§§ 121, 122 StPO).
A.-I.
1. Der Beschwerdeführer befand sich seit dem 12. November 1997 wegen banden- und gewerbsmäßigen Verleitens zur missbräuchlichen Asylantragstellung (§§ 84 Abs. 1, 84 a Abs. 1 Asylverfahrensgesetz) in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 26. April 1999 hob das Landgericht Dortmund den Haftbefehl gemäß § 120 Abs. 1 StPO auf.
2. Am 29. April 1998 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Landgericht Dortmund. Während der am 1. Oktober 1998 begonnenen Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer und zwei Mitangeklagte verwies das Landgericht die Sache mit Beschluss vom 29. Oktober 1998 gemäß § 270 Abs. 1 Satz 1 StPO an das Oberlandesgericht Düsseldorf mit der Begründung, die Mitangeklagten seien nunmehr auch der Mitgliedschaft, der Beschwerdeführer der Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129a StGB) hinreichend verdächtig. Mit Beschluss des Präsidiums des Oberlandesgerichts Düsseldorf wurde das Verfahren von dem zunächst zuständigen 6. Strafsenat dem 7. Strafsenat übertragen. Mit Beschluss vom 10. Februar 1999 legte dieser das Verfahren dem Bundesgerichtshof zur Bestimmung des für die Hauptverhandlung zuständigen Gerichts vor. Der Verweisungsbeschluss des Landgerichts sei unwirksam und könne eine Zuständigkeit des Oberlandesgerichts nicht begründen. Die Angeklagten seien durch den Beschluss offensichtlich fehlerhaft und willkürlich ihren gesetzlichen Richtern entzogen worden. Dadurch entfalle seine Bindungswirkung, der Bundesgerichtshof habe daher das zuständige Gericht nach § 14 StPO zu bestimmen. Mit Beschluss vom 17. März 1999 bestimmte der Bundesgerichtshof das Landgericht Dortmund als sachlich zuständig.
3. Der Bundesgerichtshof ordnete im Verfahren der besonderen Haftprüfung gemäß §§ 121 f. StPO mit dem angefochtenen Beschluss vom 17. Februar 1999 die Fortdauer der Untersuchungshaft an.
Die Voraussetzungen der Fortdauer der Untersuchungshaft lägen vor. Die Sache sei seit der letzten Haftprüfung mit der gebotenen Beschleunigung gefördert worden. Das folge aus dem dargelegten Verfahrensgang, der besonderen Schwierigkeit und dem besonderen Umfang des Verfahrens; die Verfahrensakten umfassten derzeit 13 Aktenbände, 57 Stehordner sowie drei Bände Ausländerakten. Wegen der näheren Einzelheiten zur Sach- und Rechtslage werde auf den Inhalt des Beschlusses des 7. Strafsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 10. Februar 1999 sowie des Schreibens der Vorsitzenden dieses Strafsenats vom 25. Januar 1999 verwiesen. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft stehe angesichts der den Angeklagten vorgeworfenen Straftaten noch nicht außer Verhältnis zur Schwere der Schuld und zu der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Strafe.
II.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung verschiedener Grundrechte.
Sein Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sei dadurch verletzt, dass die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen seinem Freiheitsgrundrecht und dem Strafverfolgungsinteresse nicht einmal ansatzweise vorgenommen worden sei. Auch sei auf die angesprochene Problematik der Bindungswirkung und der Rechtmäßigkeit des Verweisungsbeschlusses nicht eingegangen worden. Selbst wenn diesem Beschluss letztlich Bindungswirkung zukommen oder durch Beschluss des Bundesgerichtshofs die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Düsseldorf begründet worden sein sollte, sei als Folge dieses rechtswidrigen Verweisungsbeschlusses ein langfristiger Zuständigkeitsstreit und eine Verfahrensverzögerung von zumindest sechs Monaten eingetreten. Soweit in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt werde, die Sache sei seit der letzten Haftprüfung mit der gebotenen Beschleunigung gefördert worden, handele es sich hierbei um keine Grundrechtsabwägung, sondern schlichtweg um die Wiederholung des Gesetzeswortlauts.
Der Beschwerdeführer rügt weiterhin mit näherer Begründung die Annahme des dringenden Tatverdachts und die Verletzung seines Anspruchs auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
2. Nach der Aufhebung des Haftbefehls wurde der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Schriftsatz vom 27. Mai 1999 für erledigt erklärt.
III.
Das Bundesministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie gibt ihr statt. Die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist trotz der inzwischen erfolgten Aufhebung des Haftbefehls und der Entlassung des Beschwerdeführers aus der Untersuchungshaft zulässig. Der Beschwerdeführer ist zwar durch die angefochtene Entscheidung nicht mehr gegenwärtig beschwert. Es besteht aber im vorliegenden Fall noch ein Rechtsschutzbedürfnis jedenfalls für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes (vgl. BVerfGE 53, 152 ≪157≫). Ein solches Feststellungsinteresse kann insbesondere bei schwer wiegenden Grundrechtseingriffen fortbestehen. Dies ist wegen des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers durch die unter Beachtung der Unschuldsvermutung vollzogene Untersuchungshaft unter den hier gegebenen Umständen zu bejahen (vgl. BVerfGE 9, 89 ≪93≫; 53, 152 ≪157 f.≫).
I.
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angelegt (vgl. BVerfGE 46, 194 ≪195≫ m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in ständiger Rechtsprechung betont, dass der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist (vgl. BVerfGE 19, 342 ≪347≫; 20, 45 ≪49 f.≫) und sich sein Gewicht gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößern kann (vgl. BVerfGE 36, 264 ≪270≫) und regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 53, 152 ≪158 f.≫). Die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO lässt nur in begrenztem Umfang eine Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl. BVerfGE 20, 45 ≪50≫; 36, 264 ≪270 f.≫).
2. Die besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung einer langen Dauer der Untersuchungshaft gebieten es auch, dass das zuständige Gericht sich bei der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen auseinander setzt und seine Entscheidung im Einzelnen begründet, da es im Rahmen der besonderen Haftprüfung eine nur ihm vorbehaltene eigene Sachprüfung vornimmt und zugleich erst- und letztinstanzlich entscheidet (vgl. im Einzelnen Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 – 2 BvR 962/98 –, StV 1999, S. 40).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen an eine nach § 121 Abs. 1 StPO zu treffende Entscheidung wird der angefochtene Beschluss des Bundesgerichtshofs nicht gerecht.
1. Die grundgesetzlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und Strafverfolgungsinteresse wurde nicht vorgenommen, jedenfalls nicht dargestellt. Der Kompetenzkonflikt zwischen Landgericht und Oberlandesgericht ist nicht erkennbar in die Prüfung des wichtigen Grundes im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO eingeflossen. Einer ausdrücklichen Erörterung hätte es aber angesichts einer Verzögerung von ca. drei Monaten nach Erlass des Verweisungsbeschlusses bedurft, zumal das Oberlandesgericht diesen Beschluss als willkürlich bewertet hatte. Durch den nicht eingeschränkten Verweis „zur Sach- und Rechtslage” auf den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 10. Februar 1999 deutet der Bundesgerichtshof an, dessen Auffassung zu billigen. Ein Kompetenzkonflikt kann aber ebenso wie der insofern vergleichbare Fall einer Anklage bei einem unzuständigen Gericht (vgl. dazu: Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 1992 – 2 BvR 1305/92 –, StV 1992, S. 522) der Annahme eines wichtigen Grundes verfassungsrechtlich entgegenstehen, wenn eingrober Fehler angenommen wird und dadurch erhebliche vermeidbare Verzögerungen entstehen. Ein grober Fehler liegt zumindest dann nahe, wenn ein Obergericht einen Beschluss der Vorinstanz als willkürlich bewertet. Jedenfalls bedarf es dann einer ausdrücklichen Erörterung im Beschluss über die Fortdauer der Haft.
2. Der Verweis „zur Sach- und Rechtslage” auf einen Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf und auf ein Schreiben der Vorsitzenden dieses Strafsenats im Rahmen der Erörterung des „wichtigen Grundes” – neben dem pauschalen Hinweis auf den dargelegten Verfahrensgang, der im Übrigen nur den Zeitraum bis zum 8. Dezember 1998 betrifft – hält verfassungsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Abgesehen davon, dass der Beschluss und das Schreiben keine dahingehenden Ausführungen enthalten, erfordert das besondere Haftprüfungsverfahren von dem mit besonderer Sachkunde ausgestatteten Gericht, eine eigene Sachprüfung der besonderen Haftvoraussetzungen gemäß § 121 Abs. 1 StPO vorzunehmen und dies auch darzustellen. Eine Bezugnahme auf andere, vor dem Zeitpunkt des Beschlusses über die Fortdauer der Haft ergangene Beschlüsse ist dafür grundsätzlich nicht ausreichend, da sich die dafür maßgeblichen Umstände insbesondere angesichts der seit der letzten Entscheidung verstrichenen Zeit in ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 – 2 BvR 962/98 –, StV 1999, S. 40; BVerfGE 53, 152 ≪158 f.≫). Diese Erörterungspflicht gewinnt in Anbetracht der weit über einem Jahr liegenden Dauer der Untersuchungshaft beim nicht vorbestraften Beschwerdeführer besondere Bedeutung, zumal auch zwischen Erhebung der Anklage und Beginn der (ersten) Hauptverhandlung ein eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen nicht ohne weiteres ausschließender Zeitraum von rund fünf Monaten lag.
3. Da die Verfassungsbeschwerde schon aus diesem Grund begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob der Beschluss auch im Übrigen verfassungsrechtlich zu beanstanden sein könnte.
III.
Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer daher in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Da er durch ihn jedoch nicht mehr beschwert ist, bedurfte es keiner Aufhebung des Beschlusses.
IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerde-Verfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Sommer, Broß, Osterloh
Fundstellen
Haufe-Index 565348 |
NJW 2000, 1401 |
NPA 2000 |
StV 2000, 321 |