Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 21.11.2006; Aktenzeichen 2 Ws 129/05) |
OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 24.10.2006; Aktenzeichen 2 Ws 129/05) |
OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 19.07.2006; Aktenzeichen 2 Ws 129/05) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein auf Wiederaufnahme von Ermittlungen gerichtetes Klageerzwingungsverfahren.
I.
1. Die Beschwerdeführerin ist die Mutter eines 22-jährigen britischen Studenten, der im März 2003 auf der Bundesstraße 455 in der Umgebung von Wiesbaden überfahren wurde und vor Ort verstarb. Sie ist überzeugt, dass der Tod ihres Sohnes mit einer als „Polit-Sekte” mit rechtsextremistischem Hintergrund eingestuften Organisation in Verbindung steht, an deren Veranstaltungen ihr Sohn kurz vor seinem Tod teilgenommen hatte.
2. Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Wiesbaden stellte das Todesermittlungsverfahren im Juni 2003 ein, weil keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden vorlägen. Im Februar 2005 beantragte die Beschwerdeführerin erfolglos die Wiederaufnahme der Ermittlungen. Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main gab der daraufhin eingelegten Beschwerde nach § 172 Abs. 1 StPO keine Folge.
3. Auch der Antrag der Beschwerdeführerin auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 Abs. 2 StPO blieb erfolglos. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 19. Juli 2006 wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main den Antrag zurück. Es könne dahingestellt bleiben, ob ein auf Wiederaufnahme der Ermittlungen gerichteter Klageerzwingungsantrag in zulässiger Weise erhoben werden könne oder ob ein solcher Antrag ausnahmsweise dann zulässig sei, wenn die Staatsanwaltschaft rechtsirrig einen Anfangsverdacht verneine oder unzulängliche Ermittlungen durchgeführt habe. Denn jedenfalls vermöge der Senat nicht zu erkennen, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen zu einem anderen Ergebnis führen könnten als demjenigen, wovon die Ermittlungsbehörden in den vorgenannten Bescheiden mit zutreffender Begründung ausgegangen seien.
Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Sohn der Beschwerdeführerin nicht durch das von ihm selbst herbeigeführte Unfallgeschehen auf der Bundesstraße 455, sondern von unbekannten Dritten an anderer Stelle getötet und sodann zur Verschleierung der Tat von den Tätern auf diese Straße verbracht worden sein könnte. Die Richtigkeit einer solchen Annahme unterstellt, hätte zur Voraussetzung, dass mehrere Autofahrer, die zu unterschiedlichen Zeiten unterwegs gewesen seien, kollusiv zusammengewirkt und an der Konstruktion des von der Polizei und dem Sachverständigen vorgefundenen Unfallbildes zumindest mitbeteiligt gewesen seien. Eine solche Möglichkeit halte der Senat für abwegig.
Dass die vorgenannten Autofahrer nicht förmlich vernommen worden seien, erscheine bereits deswegen ohne Relevanz, weil nicht ersichtlich sei, dass eine förmliche Vernehmungsniederschrift ein anderes Ergebnis erbracht hätte. Auch eine Nachholung der Vernehmungen erscheine daher ungeachtet des Umstands, dass nach Ablauf von mehr als drei Jahren das Erinnerungsvermögen der Zeugen eher eingeschränkt sein dürfte, nicht ergiebig. Auch dass seinerzeit keine Obduktion des Leichnams des Sohnes der Beschwerdeführerin durchgeführt worden sei, könne vor dem Hintergrund, dass nicht zweifelhaft gewesen sei, dass das konkrete Unfallgeschehen zu seinem Tod geführt habe, nicht beanstandet werden. Eine solche erscheine zum jetzigen Zeitpunkt ungeachtet ihrer Durchführbarkeit bereits deswegen nicht angezeigt, weil nicht ersichtlich sei, dass sie zu weitergehenden Erkenntnissen führen könnte.
Soweit die Beschwerdeführerin schließlich die Möglichkeit für gegeben erachte, dass manipulative Methoden im Organisationsbereich der „Polit-Sekte” zu einer Einwirkung auf die psychische Integrität ihres Sohnes geführt hätten und dies die Ursache für das todbringende Geschehen gewesen sei, seien in diese Richtung zielende Ermittlungstätigkeiten bereits deswegen nicht angezeigt, weil aufgrund des Todeseintritts des Sohnes nicht mehr aufklärbar sei, was ihn letztlich zu seinem Handeln veranlasst habe.
4. Die von der Beschwerdeführerin erhobene „Beschwerde gem. § 33a StPO” wurde von dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main als Gegenvorstellung behandelt und als solche mit dem angegriffenen Beschluss vom 24. Oktober 2006 als unzulässig verworfen. Daraufhin forderte die Beschwerdeführerin den Senat im Wege der ausdrücklichen Gegenvorstellung auf, über den Antrag nach § 33a StPO in der Sache zu entscheiden. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main verwarf den Antrag nach § 33a StPO mit dem angegriffenen Beschluss vom 21. November 2006 als unzulässig.
Entscheidungsgründe
II.
Die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main im Wesentlichen in ihren Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot) und Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Darüber hinaus rügt sie eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht könne eine Maßnahme im Rahmen eines zulässig eingeleiteten Verfassungsbeschwerdeverfahrens auch auf weitere Grundrechtsverletzungen überprüfen, wenn der Grundrechtsträger – hier der Sohn der Beschwerdeführerin – die Verletzung seiner Rechte nicht mehr selbst rügen könne.
1. In ihrer Beschwerdeschrift trägt die Beschwerdeführerin vor, dass der angegriffene Beschluss vom 19. Juli 2006 sich mit ihren Argumenten nicht hinreichend auseinandersetze und den Antrag mit sachfremden Erwägungen zurückweise. So sei die Ansicht des Oberlandesgerichts, die fehlende förmliche Vernehmung der Autofahrer sei belanglos, weil nicht ersichtlich sei, dass eine förmliche Niederschrift ein anderes Ergebnis gebracht hätte, eine unzulässige „petitio principii”. Die Erfahrung zeige, dass eine verantwortliche Vernehmung Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen ergeben könne, nämlich genaue Details sowie eventuelle Unklarheiten, Widersprüche und Ungereimtheiten. Auch dass eine Nachholung der Vernehmungen nach mehr als drei Jahren wegen des Erinnerungsvermögens nicht ergiebig sein könne, nehme das Ergebnis in unzulässiger Weise vorweg. Gerade Vorgänge wie tödliche Unfälle, die normalerweise nur einmal im Leben eines Menschen passierten, prägten sich zumindest im Kerngeschehen relativ deutlich ein, so dass eine mangelhafte oder gar fehlende Erinnerung eher Zweifel an der Richtigkeit begründen könnten. Ähnliches gelte hinsichtlich der Annahme, eine Obduktion könne schwerlich zu weitergehenden Erkenntnissen führen. Angesichts der neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse und Untersuchungsmethoden dürfte das Gegenteil der Fall sein.
2. Darüber hinaus macht die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdeschrift geltend, dass sich aus der aufgrund Art. 2 Abs. 2 GG bestehenden Schutzpflicht für das Leben eine staatliche Ermittlungspflicht bei ungeklärten Todesfällen ergebe. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Hinblick auf Art. 2 EMRK könne insoweit übertragen werden. Indem das Oberlandesgericht trotz der verschiedenen von der Beschwerdeführerin vorgetragenen und durchaus naheliegenden Indizien die Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens abgelehnt habe, habe es die sich aus Art. 2 Abs. 2 GG ergebende Ermittlungspflicht verletzt. Hierin liege zugleich ein Verstoß gegen die Menschenwürde.
3. In einem späteren Schriftsatz erweitert die Beschwerdeführerin ihre Verfassungsbeschwerde auch auf die Beschlüsse vom 24. Oktober und vom 21. November 2006 und verweist insoweit auf die „vorgetragenen Gründe”.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Annahmegründe nach § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist – mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg – insbesondere nicht zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Die Verfassungsbeschwerde ist teilweise unzulässig (1.) und im Übrigen jedenfalls unbegründet (2.).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 24. Oktober und vom 21. November 2006 richtet (a) und soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juli 2006 verletze sie in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG (b).
a) Die Verfassungsbeschwerde genügt hinsichtlich der Beschlüsse des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 24. Oktober und vom 21. November 2006 nicht den Mindestanforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde nach § 92, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG. Werden gerichtliche Entscheidungen angegriffen, muss sich der Beschwerdeführer mit deren Inhalt und Grundlagen auseinandersetzen, soweit diese für seine Verfassungsbeschwerde erheblich sein können (vgl. BVerfGE 85, 36 ≪52≫; 101, 331 ≪345≫; 105, 252 ≪264≫). Der pauschale Verweis der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin auf die bereits „vorgetragenen Gründ[e]”, die sich alleine auf den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 19. Juli 2006 beziehen, ist insoweit nicht ausreichend.
b) Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juli 2006 verletze sie in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG, genügt die Verfassungsbeschwerde ungeachtet der Frage, ob die Beschwerdeführerin insoweit den Rechtsweg nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpft hat, ebenfalls nicht den Mindestanforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde nach § 92, § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG. Besondere Umstände, die deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder in der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. etwa BVerfGE 86, 133 ≪145 f.≫; 96, 205 ≪217≫; stRspr), sind von der Beschwerdeführerin nicht vorgetragen worden. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main nimmt in dem Beschluss vom 19. Juli 2006 zu der von der Beschwerdeführerin an den staatsanwaltlichen Bescheiden formulierten Kritik ausführlich Stellung. Der bloße Umstand, dass die Argumente der Beschwerdeführerin das Oberlandesgericht inhaltlich nicht überzeugen, lässt nicht auf die Nichtberücksichtigung ihres Vortrags schließen.
2. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.
a) Dahinstehen kann, ob und inwieweit die Beschwerdeführerin als Angehörige ihres zu Tode gekommenen Sohnes eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG überhaupt prozessual im Rahmen der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann, da der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juli 2006 jedenfalls nicht gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG verstößt.
aa) Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach entschieden, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG den Staat verpflichtet, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht gebietet dem Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen; das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren (vgl. BVerfGE 39, 1 ≪42≫; 46, 160 ≪164≫; 121, 317 ≪356≫). Davon unterscheidet sich aber ein Anspruch gegen den Staat auf effektive Untersuchung von verdächtigen Todesfällen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht im Allgemeinen auch bei Verletzung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter durch Private kein grundrechtlicher Anspruch auf Strafverfolgung durch den Staat (vgl. BVerfGE 51, 176 ≪187≫; BVerfG, Beschluss der 4. Kammer des Zweiten Senats vom 9. April 2002 – 2 BvR 710/01 –, NJW 2002, S. 2861 ≪2861 f.≫). Anderes kann allerdings gelten, wenn ernstlich zu besorgen ist, dass ein Verzicht auf effektive Untersuchung verdächtiger Todesfälle zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt oder im Einzelfall zu einer Gefahrenlage für Leben und Gesundheit führt. In solchen Fällen kann gestützt auf einen grundrechtlichen Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ein Einschreiten des Staates und seiner Organe verlangt werden (vgl. BVerfGE 39, 1 ≪36 ff.≫; 49, 89 ≪141 f.≫; 53, 30 ≪57 f.≫; 77, 170 ≪214≫; 88, 203 ≪251≫; 90, 145 ≪195≫), wobei die wirksame Ahndung von Gewaltverbrechen Teil dieser Schutzpflicht ist.
bb) Auch nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte folgt aus der Verpflichtung aus Art. 2 EMRK, das Recht auf Leben zu schützen, in Verbindung mit der allgemeinen Verpflichtung des Staates aus Art. 1 EMRK, „allen (seiner) Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in Abschnitt I dieser Konvention bestimmten Rechte und Freiheiten” zuzusichern, die Pflicht, wirksame amtliche Ermittlungen anzustellen, wenn ein Mensch durch Gewalteinwirkung insbesondere durch Repräsentanten des Staates (vgl. grundlegend EGMR, Entscheidung vom 27. September 1995, Nr. 18984/91, McCann u.a./Vereinigtes Königreich, Serie A 324, Rn. 161), aber auch sonst zu Tode gekommen ist (vgl. EGMR, Entscheidung vom 2. September 1998, Nr. 22495/93, Yasa/Türkei, Rep. 1998-VI, S. 2411, Rn. 100; EGMR, Entscheidung vom 22. März 2005, Nr. 28290/95, Güngör/Türkei, Rn. 67). Wirksame Ermittlungen setzen voraus, dass bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Die Ermittlungen müssen zum einen prompt, umfassend, unvoreingenommen und gründlich sein (vgl. EGMR, McCann u.a./Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rn. 162). Sie müssen darüber hinaus geeignet sein, zur Identifizierung und Bestrafung der verantwortlichen Person zu führen (vgl. EGMR, Entscheidung vom 20. Mai 1999, Nr. 21554/93, Ogur/Türkei, NJW 2001, S. 1991 ≪1994≫). Nicht jeder Ermittlungsfehler führt jedoch zu einer Verletzung von Art. 2 EMRK, sondern nur ein Fehler, der den Untersuchungszweck gefährdet, Todesursache und verantwortliche Person festzustellen (vgl. EGMR, McCann u.a./Vereinigtes Königreich, a.a.O., Rn. 157 ff.; EGMR, Entscheidung vom 5. Oktober 1999, Nr. 33677/96, Grams/Deutschland, NJW 2001, S. 1989 ≪1989 f.≫).
cc) Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle, soweit ihnen der Bundesgesetzgeber mit förmlichem Gesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt hat, im Rang eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪370≫; 82, 106 ≪120≫; 111, 307 ≪317≫). Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Europäische Menschenrechtskonvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle sind in der deutschen Rechtsordnung aufgrund dieses Ranges in der Normenhierarchie kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG; § 90 Abs. 1 BVerfGG). Ein Beschwerdeführer kann insofern vor dem Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechts mit der Verfassungsbeschwerde rügen. Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention beeinflussen jedoch die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte können auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen, sofern dies nicht zu einer – von der Europäischen Menschenrechtskonvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) – Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358 ≪370≫; 83, 119 ≪128≫; 111, 307 ≪317≫; BVerfGK 3, 4 ≪8≫; 10, 66 ≪76 ff.≫; 11, 153 ≪159 ff.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. August 2007 – 2 BvR 535/06 –, NVwZ 2007, S. 1300 ≪1301≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 2. Juli 2008 – 1 BvR 3006/07 –, NJW 2008, S. 2978 ≪2981≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 18. Dezember 2008 – 1 BvR 2604/06 –, NJW 2009, S. 1133 ≪1134≫).
dd) Hieraus folgt, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 2 EMRK hinsichtlich der vorliegenden Frage eines Anspruchs auf effektive Untersuchung von Todesfällen nach Maßgabe der Grundrechte des Grundgesetzes als Auslegungshilfe heranzuziehen ist. Heranziehung als Auslegungshilfe bedeutet dabei in dem hier in Rede stehenden Fall, bei der Auslegung des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG resultierenden, für den Staat geltenden Gebots, sich schützend und fördernd vor das Leben zu stellen, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu berücksichtigen. Dies ist hier ohne weiteres möglich, weil aus der grundrechtlich hergeleiteten Schutzpflicht ein Anspruch auf effektive Untersuchung von verdächtigen Todesfällen folgen kann. Heranziehung als Auslegungshilfe bedeutet dabei auch, sich bei der Überprüfung, ob der Staat dieser Verpflichtung nachgekommen ist, mit den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Anforderungen an eine effektive Untersuchung auseinanderzusetzen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon ausgeht, dass es grundsätzlich Sache der staatlichen Justizbehörden ist, die von ihnen erhobenen Beweise zu würdigen. Er prüft nur, ob das Verfahren insgesamt angemessen und fair war (vgl. EGMR, Grams/Deutschland, a.a.O., S. 1990).
ee) Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juli 2006 genügt diesen Anforderungen. Er verkennt weder die grundrechtliche Bedeutung des Schutzes auf Leben noch die sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergebenden Anforderungen an die effektive Untersuchung von Todesfällen.
Ungeachtet der möglichen Unzulässigkeit eines auf Wiederaufnahme der Ermittlungen gerichteten Klageerzwingungsantrags stellt das Oberlandesgericht vertretbar fest, dass es nicht erkennen könne, welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen zu einem anderen Ergebnis führen könnten als demjenigen, wovon die Ermittlungsbehörden ausgegangenen seien, nämlich dem Selbstmord des Sohnes der Beschwerdeführerin. Das Oberlandesgericht nimmt zu der von der Beschwerdeführerin an den staatsanwaltlichen Bescheiden formulierten Kritik ausführlich Stellung. Es erklärt, weshalb es die von den Ermittlungsbehörden angenommene Hypothese des Selbstmords für zutreffend hält und warum die dagegen sprechenden, von der Beschwerdeführerin angeführten Indizien diese Hypothese nicht erschüttern können. Weder die förmliche Vernehmung bereits polizeilich vernommener Zeugen beziehungsweise weiterer Zeugen aus dem Kreis der Familie oder der „Polit-Sekte” noch die Obduktion des Leichnams des Sohnes der Beschwerdeführerin können nach Ansicht des Oberlandesgerichts zu weitergehenden Erkenntnissen führen. Auf das infolge des Zeitablaufs von drei Jahren eingeschränkte Erinnerungsvermögen der Zeugen und die mittlerweile nicht mehr durchführbare Obduktion wird dabei nur ergänzend hingewiesen. Im Lichte dieser Begründung erscheint die Schlussfolgerung, dass die von der Beschwerdeführerin vorgeschlagenen Ermittlungsmaßnahmen zu keinem anderen Ergebnis führen könnten als dem des Selbstmords, als Konsequenz einer verfassungsgemäßen, die Konvention berücksichtigenden Würdigung der Ermittlungen und des Vorbringens der Beschwerdeführerin.
b) Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19. Juli 2006 verletzt auch nicht den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Bedeutung als Willkürverbot. Die Grenze zur Willkür ist erst überschritten, wenn Auslegung und Anwendung einfachen Rechts unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruhen (vgl. etwa BVerfGE 81, 132 ≪137≫, stRspr). Das ist hier nicht der Fall. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin stellt das Oberlandesgericht bei der Zurückweisung des Antrags auf Wiederaufnahme der Ermittlungen keine sachfremden Erwägungen an. Es bewertet die Ergiebigkeit weiterer Ermittlungsmaßnahmen in sachlich vertretbarer Weise lediglich anders als die Beschwerdeführerin.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Di Fabio, Gerhardt
Fundstellen