Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte weist Beschwerde gegen Tarifeinheitsgesetz zurück
Kleinere Gewerkschaften erhoben Beschwerde gegen TEG
Im Dezember 2017 hatte der dbb gegen das ursprüngliche Tarifeinheitsgesetz Beschwerde vor dem Straßburger Gerichtshof erhoben. Durch den Urteilsspruch des BVerfG am 11. Juli 2017 stand der Weg zum EGMR (Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) offen.
Die Individualbeschwerde richtete sich, wie auch zuvor die erste Verfassungsbeschwerde im Jahr 2015, gegen das im Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz vom 3. Juli 2015.
Nicht nur der dbb hatte diesen Rechtsweg beschritten, auch die im dbb organisierte Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der Marburger Bund hatten Beschwerden gegen das TEG in Straßburg eingereicht.
Tarifeinheitsgesetz umstritten
Das Tarifeinheitsgesetz sieht vor, dass in einem Unternehmen mit zwei Gewerkschaften nur der Tarifvertrag der mitgliederstärkeren Arbeitnehmervertretung angewendet wird. Der Grundsatz lautet: "Ein Betrieb – ein Tarifvertrag".
Nach Auffassung von kleineren Gewerkschaften greift die im TEG vorgesehene Verdrängung des Tarifvertrages einer Minderheitsgewerkschaft in unverhältnismäßiger Weise in eine Kerngewährleistung von Art. 11 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention ein.
EGMR: Kein Verstoß gegen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 5. Juli 2022 seine Entscheidung zu Individualbeschwerden des Beamtenbundes dbb und weiterer Gewerkschaften gegen das Tarifeinheitsgesetz (TEG) veröffentlicht.
Demnach liegt kein Verstoß gegen die Grundrechte auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 11) aus der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vor.
Reaktion des dbb
„Wir hätten uns eine klare Bestätigung unserer Rechtsauffassung gewünscht, denn das TEG ist unbestreitbar ein unverhältnismäßiger Eingriff in das Grundrecht auf die Koalitionsfreiheit einzelner Beschäftigter und in die Tarifautonomie“, sagte der dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach. „Zudem sind die auch vom Bundesverfassungsgericht erkannten Schwierigkeiten der Ermittlung, wer wo die meisten Mitglieder hat, bis zum heutigen Tag noch immer nicht geklärt“, kritisierte Silberbach. „Die Gewerkschaften werden in Anbetracht der Rechtslage ihr Werben um Mitglieder massiv verstärken und ausweiten. Das TEG sorgt in der Tariflandschaft also weiter für Unfrieden, Chaos und Ungerechtigkeit und bleibt ein Fall für die Gerichte. Das ist das Gegenteil von alldem, was der Gesetzgeber mit dieser überflüssigen Normierung der bislang funktionierenden Sozialpartnerschaft erreichen wollte. Vor diesem Hintergrund wäre es verantwortungsvoll, die Fehlentscheidung zu diesem Gesetz zu revidieren und es vernünftigerweise dorthin zu befördern, wo es hingehört: In den Papierkorb.“
Silberbach hob hervor, dass die Entscheidung des EGMR nicht einstimmig war und zwei Richter in einer gesonderten Stellungnahme ausführlich erläuterten, dass mit dem TEG durchaus unverhältnismäßig in Grundrechte Arbeitnehmender eingegriffen werde und daher tatsächlich ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vorliege. „Wie die Sondervoten zweier Richter im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigt die Straßburger Stellungnahme, dass unsere Rechtsauffassung auch höchstrichterlich geteilt wird“, so Silberbach.
Enttäuschung beim Marburger Bund
Der Marburger Bund nahm das Urteil des EGMR mit Enttäuschung zur Kenntnis, ist aber nach wie vor davon überzeugt, dass das Tarifeinheitsgesetz darauf angelegt ist, gewerkschaftliche Grundrechte einzuschränken.
Besonders bemerkenswert ist auch aus Sicht des Marburger Bundes die Tatsache, dass zwei Richter des EGMR in einem abweichenden Votum den Beschwerdeführern Recht geben und explizit dem Urteilstenor widersprechen.
Wenig hilfreich sei der Hinweis der Richtermehrheit des EGMR, dass tariffähige Gewerkschaften zwar ein Recht auf Verhandlung geltend machen könnten, nicht aber ein Recht auf einen Tarifvertrag.
Der Gerichtshof teilt aber die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Streikrecht von Minderheitsgewerkschaften im Betrieb uneingeschränkt bleiben muss, so die Ausführungen des Marburger Bundes.
Die Annahme des EGMR, durch das Tarifeinheitsgesetz könne „Frieden und Solidarität in einem Betrieb“ sichergestellt werden, hält aus Sicht des Marburger Bundes der Realität nicht stand. Das Gegenteil sei der Fall: Der im Gesetz angelegte Kampf um Mehrheiten im Betrieb erzeugten bei Anwendung der sogenannten Kollisionsregel Unfrieden in den Belegschaften.
Tarifsicherungsklauseln vereinbart
Der Marburger Bund und Verdi haben bereits im Dezember 2017 vereinbart, durch eine in allen Kollisionsfällen wirksame tarifdispositive Abrede zu verhindern, dass der Tarifvertrag der jeweils anderen Gewerkschaft durch eine etwaige Mehrheitsfeststellung im Betrieb verdrängt werden kann. Seitdem hat der Marburger Bund mit allen großen Krankenhausträgern – ob öffentlich oder privat – entsprechende Tarifsicherungsklauseln vereinbart, die dazu dienen, Tarifpluralität und Betriebsfrieden in den Krankenhäusern im Einklang zu halten.
Angesichts der fortbestehenden Probleme, die das Tarifeinheitsgesetz für Mitglieder tariffähiger Gewerkschaften aufwirft, und der damit verbundenen Konflikte in den Betrieben, bekräftigt der Marburger Bund seine Forderung nach Abschaffung des Gesetzes.
Lesen Sie hierzu auch: BVerfG: Tarifeinheitsgesetz mit Grundgesetz vereinbar
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