Verfahrensgang
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom 9. Juli 2004 – 14 UF 60/04 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes, soweit er unter Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Wittenberg vom 19. März 2004 – 5 F 741/02 SO – den Sorgerechtsantrag des Beschwerdeführers zurückweist (Ziffer 1 des Tenors). Insoweit wird der Beschluss auch hinsichtlich der Kostenregelung (Ziffer 3 des Tenors) aufgehoben.
Die Sache wird an einen anderen Familiensenat des Oberlandesgerichts Naumburg zurückverwiesen.
- Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu ersetzen.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen eine Sorgerechtsentscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg.
1. Aus der – nicht ehelichen – Beziehung des Beschwerdeführers mit der Kindesmutter ist das im August 1999 geborene Kind hervorgegangen. Die Mutter willigte sogleich nach der Geburt in die Adoption des Kindes ein, das seither bei Pflegeeltern lebt. Im Jahre 2000 erfolgte auf Betreiben des Beschwerdeführers die gerichtliche Feststellung seiner Vaterschaft.
Nachdem das Amtsgericht dem Beschwerdeführer ein Umgangsrecht zugesprochen beziehungsweise das Sorgerecht übertragen hatte, wies das Oberlandesgericht Naumburg durch seinen 14. Zivilsenat (3. Senat für Familiensachen) mit Beschluss vom 20. Juni 2001 den Sorgerechtsantrag des Beschwerdeführers zurück und schloss das Umgangsrecht des Beschwerdeführers bis zum 30. Juni 2002 aus. Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 31. Juli 2001 – 1 BvR 1174/01 – nicht zur Entscheidung an. Mit Urteil vom 26. Februar 2004 (FamRZ 2004, S. 1456 ff.) stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf die anschließend vom Beschwerdeführer erhobene Individualbeschwerde eine Verletzung von Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) fest. Daraufhin sprach das Amtsgericht dem Beschwerdeführer erneut das Umgangs- und Sorgerecht zu.
Auf die hiergegen seitens der Verfahrenspflegerin und des Jugendamtes (Amtsvormund) eingelegte Beschwerde hob das Oberlandesgericht mit seinem – mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen – Beschluss die Sorgerechtsentscheidung auf und wies den Sorgerechtsantrag des Beschwerdeführers “ab”. Daneben verwarf es die Anträge des Beschwerdeführers, den Amtsvormund und die Verfahrenspflegerin von ihren Funktionen zu entbinden. Außerdem wies es den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe zurück. Zur Begründung führte der 14. Zivilsenat unter anderem aus, weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch das Grundgesetz verpflichteten dazu, einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine die Rechtskraft der beanstandeten Entscheidung beseitigende Wirkung oder eine die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gebietende Bedeutung beizumessen. Dessen Urteil bewirke weder eine Änderung der innerstaatlichen Rechtslage, noch komme ihm eine Bindungswirkung im Sinne einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu. “Auch eine demnach allenfalls diskutable mittelbare Bindungswirkung” wegen eines Verstoßes gegen Art. 8 EMRK sei nicht ausfindig zu machen.
Über die vom Beschwerdeführer eingelegte Beschwerde gegen den Beschluss des Vormundschaftsgerichts, mit dem dieses die Einwilligung des Beschwerdeführers zur Adoption des Kindes ersetzte, hat das Landgericht noch nicht entschieden.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter anderem der Sache nach eine Verletzung seines Rechts aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Hätte das Oberlandesgericht die Rechtsauffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beachtet, hätte es dem Beschwerdeführer das Sorgerecht zum Zwecke einer behutsamen Rückführung des Kindes übertragen müssen. Weil es sich nicht an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebunden gefühlt und dessen Urteil nicht umgesetzt habe, habe das Oberlandesgericht Völkerrecht verletzt. Zudem begehrt der Beschwerdeführer die Feststellung, dass die Adoption des Kindes “rechtswidrig” sei.
3. Die Verfassungsbeschwerde ist der Landesregierung Sachsen-Anhalt, den Pflegeeltern, dem Amtsvormund (Jugendamt) und der Verfahrenspflegerin des Kindes zugestellt worden. Während die Landesregierung von einer Stellungnahme abgesehen hat, haben sich die übrigen Äußerungsberechtigten gegen eine Stattgabe der Verfassungsbeschwerde ausgesprochen.
Entscheidungsgründe
II.
Soweit sich der Beschwerdeführer gegen das Adoptionsverfahren sowie gegen die – mit dem angegriffenen Beschluss des Oberlandesgerichts erfolgte – Ablehnung seiner Nebenanträge wendet, nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil sie unzulässig ist (1.). Im Übrigen gibt die Kammer der Verfassungsbeschwerde statt (2.).
1. a) Auch wenn man den bezogen auf das Adoptionsverfahren gestellten Antrag dahin auslegte, dass der Beschwerdeführer die Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Adoption des Kindes begehren und sich in diesem Kontext gegen den Ersetzungsbeschluss des Amtsgerichts wenden will, bleibt dem Antrag der Erfolg versagt. Seiner Zulässigkeit steht nicht zuletzt § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG entgegen, wonach vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zunächst der Rechtsweg zu erschöpfen ist. Über die gegen den amtsgerichtlichen Beschluss eingelegte Beschwerde hat das Landgericht noch nicht entschieden. Letztlich wird es über die Beschwerde auch erst entscheiden können, wenn das sorgerechtliche Verfahren abgeschlossen ist. Überdies könnte der Beschwerdeführer gegen eine für ihn nachteilige Entscheidung des Landgerichts noch eine weitere Beschwerde zum Oberlandesgericht einlegen (vgl. OLG Köln, FamRZ 1999, S. 889). Schließlich ist mit der Ersetzung der Einwilligung noch nicht die Adoption selbst ausgesprochen. Der Annahmebeschluss kann vielmehr erst nach rechtskräftigem Abschluss des Ersetzungsverfahrens ergehen (vgl. OLG Hamm, FamRZ 1991, S. 1230, ≪1232≫).
b) Soweit sich der Beschwerdeführer, der seinem Antrag zufolge die Aufhebung des angegriffenen Beschlusses insgesamt erstrebt, auch gegen die Ablehnung seiner Anträge wendet, mit denen er die Entpflichtung des Amtsvormunds sowie der Verfahrenspflegerin (Ziffer 2 des Tenors) und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe begehrt hat (Ziffer 4 des Tenors), ist die Verfassungsbeschwerde nicht hinreichend substantiiert begründet.
2. Im Übrigen nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG). Soweit die Verfassungsbeschwerde die Frage einer Bindungswirkung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zum Gegenstand hat, ist die grundsätzliche Bedeutung mit der Entscheidung des Zweiten Senats entfallen (vgl. Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 –, abgedruckt in FamRZ 2004, S. 1857 ff.). Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht die Frage beantwortet, in welchem Verhältnis das Elternrecht zu dem Grundrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG beziehungsweise zu den verfassungsrechtlich geschützten Rechten der Pflegefamilie aus Art. 6 Abs. 1 GG steht (vgl. BVerfGE 24, 119 ≪144≫; 60, 79 ≪88 f.≫; 61, 358 ≪372≫; 68, 176 ≪188≫; 75, 201 ≪218≫; 79, 51 ≪63 f.≫; 88, 187 ≪195 f.≫). Ebenso ist die Frage zum Grundrechtsschutz durch die Ausgestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts vom Bundesverfassungsgericht schon beantwortet (vgl. BVerfGE 53, 30 ≪65≫; 55, 171 ≪182≫).
a) Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg (zu Ziffer 1) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Das Oberlandesgericht Naumburg hat das – im Zusammenhang mit dem von ihm zu entscheidenden Sorgerechtsverfahren ergangene – Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht hinreichend beachtet, wonach die Zurückweisung des Sorgerechtsantrages eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeutet.
aa) Ein nationales Gericht hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte grundsätzlich zu berücksichtigen (1). Dies führt vorliegend auch nicht zu Ergebnissen, die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind (2).
(1) Nach Maßgabe des aus Anlass der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26. Februar 2004 ergangenen Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts erstreckt sich die Bindungswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs auf alle staatlichen Organe und verpflichtet diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen (vgl. BVerfG, aaO, S. 1858 f.). Gerichte sind zur Berücksichtigung eines Urteils, das einen von ihnen bereits entschiedenen Fall betrifft, jedenfalls dann verpflichtet, wenn sie in verfahrensrechtlich zulässiger Weise erneut über den Gegenstand entscheiden und dem Urteil ohne materiellen Verfassungsverstoß Rechnung tragen können (vgl. BVerfG, aaO, S. 1859). Dabei hat sich das Gericht in einer nachvollziehbaren Form damit auseinander zu setzen, wie das betroffene Grundrecht (hier Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesre-publik Deutschland entsprechenden Art und Weise ausgelegt werden kann (vgl. BVerfG, aaO, S. 1863). Die Gerichte haben die Konventionsbestimmung in der Auslegung des Gerichtshofs zur Kenntnis zu nehmen und auf den Fall anzuwenden, soweit die Anwendung nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere gegen Verfassungsrecht, verstößt (BVerfG, aaO, S. 1862).
(2) Die Anwendung der Konventionsbestimmung (hier Art. 8 EMRK) in der Auslegung des Gerichtshofs auf den Fall verstieße vorliegend nicht gegen Verfassungsrecht.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausgeführt, das Oberlandesgericht hätte prüfen müssen, ob es das Kindeswohl weniger belastende Möglichkeiten der Zusammenführung gebe. Außerdem hätte es auch die langfristigen Auswirkungen einer Trennung des Kindes von seinem leiblichen Vater berücksichtigen müssen (vgl. EGMR, aaO, S. 1459). Entsprechende Maßnahmen stehen im Einklang mit dem Grundgesetz; jedenfalls kann es insoweit in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise ausgelegt werden.
(a) Bei der Entscheidung, unter welchen Voraussetzungen ein Kind zum Zwecke des Umzugs zu seinem leiblichen Elternteil aus einer Pflegefamilie herausgenommen werden kann, ist – auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – sowohl dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG als auch der Grundrechtsposition des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen. Schließlich ist auch das Grundrecht der Pflegefamilie aus Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 68, 176 ≪187≫; 79, 51 ≪60≫). Im Rahmen der erforderlichen Abwägung ist bei der Auslegung von gesetzlichen Regelungen im Bereich des Art. 6 Abs. 2 GG in gleicher Weise wie bei Entscheidungen des Gesetzgebers zu beachten, dass das Wohl des Kindes letztlich bestimmend sein muss (vgl. BVerfGE 68, 176 ≪188≫; 75, 201 ≪218≫; vgl. auch BVerfGE 79, 51 ≪64≫). Auch wenn die Trennung von seiner unmittelbaren Bezugsperson für das Kind regelmäßig eine erhebliche psychische Belastung bedeutet (vgl. BVerfGE 75, 201 ≪219≫), darf dies allein nicht genügen, die Herausgabe des Kindes zu verweigern, weil andernfalls die Zusammenführung von Kind und Eltern immer dann ausgeschlossen wäre, wenn das Kind seine “sozialen Eltern” gefunden hätte (vgl. BVerfGE 75, 201 ≪219 f.≫). Mit Blick auf das betroffene Kindeswohl ist vielmehr zu differenzieren, ob das Kind von der Pflegefamilie in den Haushalt seiner Eltern oder in eine andere Pflegestelle wechseln soll. Im zuerst genannten Fall ist die Risikogrenze weiter zu ziehen, wohingegen bei letzterer Konstellation mit hinreichender Sicherheit eine Gefährdung des Kindeswohls ausgeschlossen sein muss (vgl. BVerfGE 75, 201 ≪217, 220≫; 79, 51 ≪64≫).
(b) Schließlich beeinflusst der Grundrechtsschutz auch weitgehend die Gestaltung und Anwendung des Verfahrensrechts (vgl. BVerfGE 53, 30 ≪65≫; 55, 171 ≪182≫). Aus der durch Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG auf die staatliche Gemeinschaft übertragenen Verpflichtung, die Pflege und Erziehung des Kindes zu überwachen, ergibt sich die verfassungsrechtliche Einwirkung auf das Prozessrecht und seine Handhabung durch die Gerichte im Sorgerechtsverfahren (vgl. BVerfGE 55, 171 ≪182≫). Zwar muss in Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz dem erkennenden Gericht überlassen bleiben, welchen Weg es im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften für geeignet hält, um zu den für seine Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. BVerfGE 79, 51 ≪62≫). Das Verfahren muss aber grundsätzlich geeignet sein, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen (vgl. BVerfGE 55, 171 ≪182≫).
bb) Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Naumburg ist diesen Anforderungen nicht gerecht geworden.
(1) Das Oberlandesgericht hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei seiner Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt. Der 14. Zivilsenat vertritt ersichtlich die Auffassung, dass der Ausspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für ihn unverbindlich sei, die nationalen Gerichte namentlich weder bei der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention noch bei der Auslegung nationaler Grundrechte an dessen Entscheidung gebunden sein können.
(2) Das Oberlandesgericht hat zudem verkannt, dass es hier nicht auf die – von ihm verneinte – Frage ankommt, ob der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine “die Rechtskraft der beanstandeten Entscheidung beseitigende Wirkung oder die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens gebietende Bedeutung” beizumessen ist. Sorgerechtsentscheidungen erwachsen nicht in materielle Rechtskraft (vgl. BGH, NJW-RR 1986, S. 1130; Diederichsen, in: Palandt, BGB, 64. Aufl., § 1696 Rn. 5; Zimmermann, in: Keidel/Kuntze/Winkler, FGG, 15. Aufl., § 31 Rn. 22a a.E.). In Sorgerechtsverfahren ist für den Einwand der rechtskräftig entschiedenen Sache (“res iudicata”) kein Raum. Die Fürsorge gegenüber dem Minderjährigen hat stets Vorrang vor der Endgültigkeit einer einmal getroffenen Entscheidung (vgl. BGH, aaO). § 1696 Abs. 1 BGB enthält eine materiellrechtliche Änderungsbefugnis, die nicht nur der Anpassung der getroffenen Regelung an eine Änderung der für die Entscheidung maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse dient, sondern auch eine Berücksichtigung solcher Tatsachen erlaubt, die bei der Entscheidungsfindung zwar schon vorlagen, dem Gericht aber nicht bekannt waren (vgl. Diederichsen, aaO).
Ebenso wenig steht einer Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entgegen, dass § 1696 Abs. 1 BGB für eine abändernde Entscheidung triftige, das Kindeswohl nachhaltig berührende Gründe voraussetzt. Zwar hat das Oberlandesgericht zutreffend darauf verwiesen, dass eine Abänderung nach § 1696 Abs. 1 BGB besondere Anforderungen an die Kindeswohlprüfung stellt (vgl. Diederichsen, aaO, Rn. 16). Jedoch hat es verkannt, dass diese einfachrechtliche Vorschrift im Lichte der Verfassung und demgemäß in einer den – dieser jedenfalls insoweit nicht widersprechenden – völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise ausgelegt werden kann. Zudem ist es in der fachgerichtlichen Rechtsprechung und in der Literatur anerkannt, dass eine Änderung der Rechtsprechung einen Abänderungsgrund im Sinne des § 1696 Abs. 1 BGB bedeuten kann (vgl. Diederichsen, aaO, Rn. 20 m.w.N.). Wenn das Oberlandesgericht die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte davon ausgenommen hat, hat es verkannt, dass nach dem oben Gesagten auch die Fachgerichte dessen Entscheidungen zu berücksichtigen haben.
(3) Zwar hat das Oberlandesgericht eine mittelbare Bindungswirkung grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Es hat jedoch gleichzeitig eingewandt, dass diese mangels plausibler Begründung “nicht ausfindig” zu machen sei. Dabei hat das Gericht – wiederum – verkannt, dass es nach dem oben Gesagtem die Konventionsbestimmung in der Auslegung des Gerichtshofs auf den Fall hätte anwenden müssen.
(a) Es ist nicht zu erkennen, dass sich das Oberlandesgericht damit auseinander gesetzt hat, wie Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise hätte ausgelegt werden können (vgl. dazu BVerfG, aaO, S. 1863).
(aa) Das Oberlandesgericht hat sich nicht hinreichend mit der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgeworfenen Frage auseinander gesetzt, welche langfristigen Auswirkungen eine dauerhafte Trennung des Kindes von dem Beschwerdeführer haben könnte (vgl. dazu EGMR, aaO, S. 1459). Insoweit hat es sich auf die bloße Behauptung beschränkt, diese Auswirkungen seien (gegenüber einer durch die Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie drohenden Kindeswohlgefährdung) “allemal als weniger gravierend und sorgerechtlich nicht erheblich einzustufen”, wenn “die Pflegeeltern C.… zu gegebener Zeit altersgerecht über seine Herkunft aufklären werden”. Belastbare Feststellungen hierzu hat das Gericht indes nicht getroffen.
(bb) Auch hat das Oberlandesgericht die weitere Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht beachtet. Danach wäre zu prüfen gewesen, ob es Möglichkeiten gibt, das Kind und den Beschwerdeführer unter Umständen zusammenzuführen, unter denen die Belastung für das Kind geringer wäre.
Das Oberlandesgericht hätte bei hinreichender Berücksichtigung dieser Vorgabe zumindest erwägen müssen, ob es einer möglichen Gefährdung des Kindeswohls durch eine – seiner Auffassung nach vom Beschwerdeführer beabsichtigten – sofortigen Herausnahme des Kindes aus der Pflegefamilie nicht anders hätte entgegenwirken können. So wäre – als milderer Eingriff – beispielsweise denkbar gewesen, dem Beschwerdeführer zwar das Sorgerecht zu übertragen, gleichzeitig damit aber eine – gemäß § 1632 Abs. 4 BGB auch von Amts wegen mögliche – Verbleibensanordnung zugunsten der Pflegefamilie zu verbinden (vgl. hierzu BVerfGE 88, 187 ≪195 f.≫).
(cc) Zwar hat das Oberlandesgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass die über § 1751 Abs. 1 BGB zur Anwendung gelangenden §§ 1672, 1678 Abs. 2 BGB eine Sorgerechtsübertragung nur zulassen, wenn “dies dem Wohl des Kindes dient”. Da der 14. Zivilsenat aber nicht hinreichend erwogen hat, ob es das Kindeswohl weniger belastende Möglichkeiten der Zusammenführung gibt und welche langfristigen Auswirkungen eine Trennung des Kindes von seinem leiblichen Vater hat, vermochte er auch nicht abschließend zu klären, ob die Übertragung des Sorgerechts im Sinne der §§ 1672, 1678 Abs. 2 BGB dem Kindeswohl dient. Ebenso wenig hat sich das Oberlandesgericht damit auseinander gesetzt, ob die vorgenannten Vorschriften einer den Bestimmungen des Grundgesetzes entsprechenden und zugleich konventionskonformen Auslegung zugänglich sind.
(b) Schließlich ist nicht ersichtlich, dass das Oberlandesgericht die erforderlichen Ermittlungen angestrengt hat, um die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgeworfenen Fragen beantworten zu können. Vielmehr war das vom Oberlandesgericht durchgeführte Verfahren nicht geeignet, eine möglichst zuverlässige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung zu erlangen. Dass der 14. Zivilsenat seine Entscheidung auf die Stellungnahme der Pädagogin K.… gestützt hat, ist schon deswegen zu beanstanden, weil die Pädagogin ihre Feststellungen auf allgemeine wissenschaftliche Erkenntnisse gegründet hat, ohne diese namentlich anhand einer Exploration des Beschwerdeführers beziehungsweise einer Interaktionsbeobachtung von Vater und Kind auf den zu begutachtenden Fall zu übertragen. Soweit ersichtlich hat sie den Beschwerdeführer selbst nicht in ihre Untersuchungen einbezogen. Hinzu kommt, dass es sich hierbei um eine vom Jugendamt (das zum Amtsvormund bestellt worden ist) beim Landesjugendamt in Auftrag gegebene Stellungnahme handelt, diese also als Parteigutachten zu qualifizieren ist. Von daher wäre es hier – auch verfassungsrechtlich – geboten gewesen, ein unabhängiges Sachverständigengutachten einzuholen, zumal sich den Entscheidungsgründen nicht entnehmen lässt, dass das Gericht selbst über genügende Sachkunde verfügt. Hinzu kommt, dass das Oberlandesgericht im schriftlichen Verfahren ohne persönliche Anhörung der Beteiligten entschieden hat; soweit sich den Verfahrensakten entnehmen lässt, hat sich der 14. Zivilsenat – anders als das Amtsgericht, das die Beteiligten mehrmals mündlich angehört hat – zu keiner Zeit einen persönlichen Eindruck von den Beteiligten verschafft.
b) Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Gericht bei hinreichender Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und entsprechender Beachtung des Elternrechts des Beschwerdeführers gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
3. Da der angegriffene Beschluss (Ziffer 1 des Tenors) den Beschwerdeführer bereits in seinem Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, kann die Frage, ob auch die anderen von dem Beschwerdeführer gerügten Grundrechtsverletzungen vorliegen, unbeantwortet bleiben.
4. Gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG ist die Entscheidung aufzuheben, soweit ihre Verfassungswidrigkeit festgestellt ist; hiervon wird – notwendigerweise – auch die Kostenentscheidung (Ziffer 3 des Tenors) erfasst. Die Sache ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen, wobei es angezeigt erscheint, sie an einen anderen Familiensenat zurückzuverweisen.
5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Soweit die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wird, ist das Begehren des Beschwerdeführers von untergeordneter Bedeutung. Von daher sind ihm die notwendigen Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. BVerfGE 32, 1 ≪39≫).
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 1338736 |
NJW 2005, 1765 |
EuGRZ 2005, 268 |
FamRZ 2005, 783 |
NVwZ 2005, 667 |
DVBl. 2005, 761 |
FamRB 2005, 197 |
BAnz 2006, 22 |
BAnz 2006, 5 |
Mitt. 2005, 325 |