Verfahrensgang
LG Dortmund (Beschluss vom 26.04.2011; Aktenzeichen 2 S 46/10) |
LG Köln (Beschluss vom 21.04.2011; Aktenzeichen 26 S 4/11) |
LG Dortmund (Beschluss vom 28.02.2011; Aktenzeichen 2 S 46/10) |
Tenor
1. Der Beschluss des Landgerichts Dortmund vom 28. Februar 2011 – 2 S 46/10 – verletzt die Beschwerdeführerin zu 1.) und der Beschluss des Landgerichts Köln vom 21. April 2011 – 26 S 4/11 – verletzt den Beschwerdeführer zu 2.) jeweils in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben und die Sachen an das jeweilige Landgericht zurückverwiesen.
Damit wird der die Beschwerdeführerin zu 1.) betreffende Beschluss des Landgerichts Dortmund vom 26. April 2011 – 2 S 46/10 – gegenstandslos.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für die Verfassungsbeschwerdeverfahren wird jeweils auf 16.000 EUR (in Worten: sechzehntausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen zivilgerichtliche Verfahren über die Rückzahlung von Versicherungsprämien wegen angeblicher Unwirksamkeit von Versicherungsverträgen. Sie beanstanden das Unterlassen einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union durch das jeweilige Berufungsgericht.
1. Die Beschwerdeführer schlossen im Wege des sogenannten „Policenmodells” Versicherungsverträge ab. Dieses in § 5a des Gesetzes über den Versicherungsvertrag im Geltungszeitraum vom 29. Juli 1994 bis 31. Dezember 2007 (im Folgenden: VVG a.F.) geregelte Verfahren war dadurch gekennzeichnet, dass der potenzielle Versicherungsnehmer (im Folgenden: Versicherungsnehmer) zunächst das von ihm unterzeichnete Antragsformular auf Abschluss des Versicherungsvertrages an den Versicherer übermittelte und dieser dem Versicherungsnehmer die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und eine Verbraucherinformation nach § 10a des Versicherungsaufsichtsgesetzes in seiner vor dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung (im Folgenden: VAG a.F.) erst zusammen mit der Versicherungspolice zukommen ließ. Widersprach der Versicherungsnehmer nicht binnen 14 Tagen (bei Lebensversicherungen zuletzt binnen 30 Tagen) nach Überlassung der Unterlagen schriftlich, so galt der Vertrag auf Grundlage der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformationen als abgeschlossen (§ 5a Abs. 1 Satz 1 VVG a.F.). In dem Antrag des Versicherungsnehmers war das Vertragsangebot, in der nachfolgenden Übersendung der Vertragsunterlagen die Annahme durch den Versicherer zu sehen. Außerdem setzte der wirksame Vertragsschluss das Unterbleiben des Widerspruchs innerhalb der 14-tägigen (bzw. 30-tägigen) Widerspruchsfrist voraus; bis zu diesem Zeitpunkt war der Versicherungsvertrag nach herrschender Meinung schwebend unwirksam (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2010 – IV ZR 252/08 –, VersR 2011, S. 337 ≪338≫ Rn. 22 m.w.N.). Die Widerspruchsfrist begann nach dieser Regelung erst dann zu laufen, wenn der Versicherungsnehmer mit Aushändigung der Versicherungspolice über sein Widerspruchsrecht belehrt worden war; abweichend hiervon erlosch das Widerspruchsrecht – auch bei fehlender Belehrung – nach § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie.
2. Die Beschwerdeführer, die ihre Lebensversicherungsverträge nach dem „Policenmodell” abgeschlossen und später den Widerspruch erklärt hatten, nahmen im jeweiligen Ausgangsverfahren den Versicherer auf Rückzahlung der Prämien, soweit diese über den zuvor erstatteten Rückkaufswert hinausgingen, in Anspruch. Sie machten unter anderem geltend, der Versicherungsvertrag sei auch durch den jeweils deutlich nach Ablauf der Widerspruchsfrist gemäß § 5a VVG a.F. erklärten Widerspruch unwirksam geworden. Das durch § 5a VVG a.F. eröffnete „Policenmodell” sei unvereinbar mit den Vorgaben der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung; ABl. EG Nr. L 360, S. 1-27 vom 9. Dezember 1992) beziehungsweise mit den Vorgaben der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. EG Nr. L 345, S. 1-51 vom 19. Dezember 2002). Entgegen den dortigen Vorgaben seien die Verbraucherinformationen nicht „vor” Vertragsschluss erteilt worden, so dass ihnen, den Beschwerdeführern, ein unbefristetes Widerspruchsrecht zustehe. Die Befristung des Widerspruchsrechts gemäß § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. verstoße ebenfalls gegen die Vorgaben der Richtlinien.
Die Amtsgerichte wiesen die Klagen ab. Die hiergegen gerichteten Berufungen der Beschwerdeführer wiesen die Landgerichte nach entsprechendem Hinweis im Beschlusswege gemäß § 522 Abs. 2 ZPO in der vor dem 27. Oktober 2011 geltenden Fassung (im Folgenden: ZPO a.F.) zurück. Den Beschwerdeführern stehe ein bereicherungsrechtlicher Anspruch auf Prämienrückzahlung nicht zu, weil der jeweilige Versicherungsvertrag bis zu seiner Kündigung die Rechtsgrundlage für die geleisteten Prämien dargestellt habe. Die Beschwerdeführer hätten dem jeweils zustande gekommenen Versicherungsvertrag nach Ablauf der Jahresfrist der auf den Ausgangsfall anzuwendenden Vorschrift des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. nicht mehr widersprechen können, weil das Widerspruchsrecht bereits erloschen gewesen sei. Es entspreche ständiger oberlandesgerichtlicher Rechtsprechung, dass die Vorschrift des § 5a VVG a.F. – und damit auch die Jahresfrist des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. – nicht gegen Unionsrecht verstoße. In Anbetracht der einhelligen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte bestehe keine Veranlassung, die Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Entscheidung vorzulegen. Eine durch die Beschwerdeführerin des Verfahrens 1 BvR 1408/11 erhobene Anhörungsrüge blieb ohne Erfolg.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihren Verfassungsbeschwerden gegen die Zurückweisung ihrer Berufungen. Sie rügen eine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Indem die Berufungsgerichte davon abgesehen hätten, sich zur unionsrechtlichen Rechtslage hinreichend kundig zu machen und sie ihre Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV mit einer offenkundig nicht tragfähigen Begründung verneint hätten, hätten sie im Zusammenhang mit § 522 Abs. 2 ZPO a.F. den allgemeinen Justizgewährungsanspruch (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und damit auch das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) verletzt. Als letztinstanzlich entscheidende Gerichte seien die Berufungsgerichte verpflichtet gewesen, die Frage, ob die Regelung des § 5a VVG a.F. den unionsrechtlichen Vorgaben entspreche, gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Die Auslegung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen, nach denen dem Versicherungsnehmer die Informationen „vor Abschluss des Versicherungsvertrages” mitzuteilen seien, sei keinesfalls zweifelsfrei. Nach dem Ziel der Richtlinie müssten dem Versicherungsnehmer die Informationen bereits vorliegen, bevor er eine Auswahlentscheidung treffe und er seine auf den Vertragsschluss gerichtete Willenserklärung abgebe. Dem damit verfolgten Zweck, dem Versicherungsnehmer die Auswahl eines seinen Bedürfnissen am besten entsprechenden Angebots zu ermöglichen, werde § 5a VVG a.F. nicht gerecht, weil hiernach Versicherer ihre vorvertraglichen Informationspflichten erst nach der Auswahlentscheidung des Versicherungsnehmers erfüllen müssten. Daran ändere auch die Einräumung eines Widerspruchsrechts nichts, weil dem Versicherungsnehmer die Widerspruchslast aufgebürdet werde, was einer effektiven Durchsetzung der vorvertraglichen Informationspflichten widerspreche. § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. stehe mit Unionsrecht nicht im Einklang, weil er im Ergebnis dazu führe, dass Versicherer auf Verbraucherinformationen gänzlich verzichten könnten, ohne negative Rechtsfolgen fürchten zu müssen. Dies widerspreche den Vorgaben der Richtlinie 92/96/EWG beziehungsweise der Richtlinie 2002/83/EG. Zu diesem Ergebnis sei auch die Europäische Kommission in einer Stellungnahme gekommen, die sie in einem von ihr im Jahr 2005 gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) abgegeben habe.
Die Berufungsgerichte seien in den angegriffenen Entscheidungen ihrer Vorlagepflicht willkürlich nicht nachgekommen. Sie hätten sich weder mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch mit dem gegen die Bundesrepublik Deutschland geführten Vertragsverletzungsverfahren befasst, sondern als Beleg für eine einhellige Rechtsprechung lediglich auf Entscheidungen mehrerer Oberlandesgerichte pauschal Bezug genommen. Außerdem hätten sie eine Terminsnachricht des Bundesgerichtshofs in einem anderen Verfahren und die darin in Erwägung gezogene Vorlage zur Frage der Unionsrechtskonformität der Regelung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. vollständig ignoriert.
III.
Die Verfassungsbeschwerden sind dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen sowie dem in dem jeweiligen Ausgangsverfahren beklagten Versicherer zugestellt worden.
Der Bundesgerichtshof, der Deutsche Versicherungs-Schutzverband e.V. (DVS), der Bund versicherter Unternehmer e.V. (BvU), der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV), die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) und der Bund der Versicherten e.V. (BdV) wurden in einem Parallelverfahren (1 BvR 2771/11) um die Abgabe einer Stellungnahme gebeten. Diese Äußerungen sind den Beteiligten der Ausgangsverfahren zur Kenntnis gegeben worden. Die Akten der Ausgangsverfahren liegen der Kammer vor.
1. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, der Deutsche Versicherungs-Schutzverband e.V. (DVS), der Bund versicherter Unternehmer e.V. (BvU) und die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und -gestaltung e.V. (GVG) haben von einer Äußerung abgesehen.
2. Der von der jeweiligen Ausgangsentscheidung begünstigte Versicherer hat zu der dagegen gerichteten Verfassungsbeschwerde Stellung genommen und die angegriffene Entscheidung verteidigt.
a) In dem Verfahren 1 BvR 1408/11 vertritt der Versicherer die Auffassung, das Berufungsgericht habe mit sachlich zutreffender Begründung die Unionsrechtswidrigkeit und eine Verpflichtung zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verneint. Willkür habe hierbei nicht vorgelegen, weil das Berufungsgericht sich nach eigenständiger Prüfung der herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung angeschlossen habe.
b) In dem Verfahren 1 BvR 1415/11 ist der Versicherer der Ansicht, die Verfassungsbeschwerde sei bereits unzulässig. Ihr fehle das Rechtsschutzbedürfnis, weil die von der Verfassungsbeschwerde aufgeworfene Frage nach der Richtlinienkonformität des § 5a VVG a.F. nicht entscheidungserheblich sei. Der Beschwerdeführer könne selbst aus einer unterstellten Unionsrechtswidrigkeit von § 5a VVG a.F. im vorliegenden Fall keine über den Rückkaufswert hinausgehenden Ansprüche herleiten. Die Jahresfrist für den Widerspruch bleibe auch im Falle ihrer Unionsrechtswidrigkeit maßgeblich, weil die daran geknüpfte Annahme eines unbefristeten Widerrufsrechts die Wortlautgrenze des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. überschreite und gegen das vom Gerichtshof der Europäischen Union statuierte Verbot einer richtlinienkonformen Auslegung contra legem verstoße.
Die Verfassungsbeschwerde sei außerdem unbegründet, weil die Vorlage der Frage nach der Vereinbarkeit des § 5a VVG a.F. mit dem Unionsrecht nicht willkürlich unterblieben sei. Das Berufungsgericht habe insbesondere den Beurteilungsrahmen, der ihm im Fall einer unvollständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bei Beurteilung der Notwendigkeit einer Vorlage einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts zukomme, nicht in unvertretbarer Weise überschritten. Eine Vorlagepflicht des Berufungsgerichts habe auch bei unterstellter Entscheidungserheblichkeit der von der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Frage nach der Unionsrechtskonformität des § 5a VVG a.F. nicht bestanden, weil ersichtlich ein Fall der durch den Gerichtshof der Europäischen Union geprägten „acte clair”-Doktrin gegeben sei; an der Antwort auf die Frage bestehe kein vernünftiger Zweifel. Das Unterbleiben einer Vorlage könne überdies deshalb nicht willkürlich sein, weil die Europäische Kommission das von ihr eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2008 eingestellt und von einer Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union abgesehen habe.
3. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat in dem Parallelverfahren (1 BvR 2771/11) eine Stellungnahme des stellvertretenden Vorsitzenden des IV. Zivilsenats übermittelt. Dieser hat mitgeteilt, der IV. Zivilsenat sei mit den im Verfassungsbeschwerdeverfahren aufgeworfenen Rechtsfragen bereits mehrmals befasst gewesen sei. Eine Vorlage in Bezug auf die Richtlinienkonformität des „Policenmodells” sei bislang nicht vorgesehen gewesen, sondern nur eine Vorlage zur Richtlinienkonformität der Regelung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. (Erlöschen des Widerspruchsrechts ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie).
4. Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) hat ausgeführt, die Unionsrechtskonformität der Regelung des § 5a VVG a.F. entspreche dem von der herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen und zutreffenden Standpunkt. Es sei daher verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn ein Gericht, das mit der herrschenden Meinung keine Zweifel an der Unionsrechtskonformität des § 5a VVG a.F. habe, von einer Vorlage der Rechtsfrage an den Gerichtshof der Europäischen Union absehe.
5. Der Bund der Versicherten e.V. (BdV) hat zu der Verfassungsbeschwerde in dem genannten Parallelverfahren Stellung genommen und teilt deren Standpunkt. Die dort angegriffene Entscheidung, die exemplarisch für die Entscheidungen vieler Berufungsgerichte sei, lasse eine unhaltbare Handhabung des Art. 267 AEUV durch das Berufungsgericht erkennen.
IV.
Die Kammer nimmt die zulässigen Verfassungsbeschwerden gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihnen statt, weil sie unter Berücksichtigung der bereits hinreichend geklärten Maßstäbe zu Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG offensichtlich begründet sind.
1. Die Beschlüsse der Berufungsgerichte über die Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO a.F. verletzen die Beschwerdeführer jeweils in ihrem Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
a) Die Begründung der Berufungsgerichte für ihre Annahme, eine Entscheidung durch Urteil sei nicht erforderlich, weil der Sache keine grundsätzliche Bedeutung (§ 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO a.F.) zukomme, ist nicht haltbar. Die den Beschlüssen zugrunde liegende Annahme, die Rechtsfrage nach der Richtlinienkonformität des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. sei offenkundig im Sinne eines „acte clair” zu beantworten und daher nicht klärungsbedürftig, entbehrt einer nachvollziehbaren und verfassungsrechtlich tragfähigen Begründung (eingehend zum verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab und zur fachgerichtlichen Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV im Zusammenhang mit der Frage der Richtlinienkonformität des „Policenmodells”: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2534/10 –, juris Rn. 19 ff. und Rn. 29 ff.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2083/11 –, juris Rn. 31 ff.). Denn eine vertretbare andere Ansicht zu dieser Frage des Unionsrechts, deren Klärungsbedürftigkeit das Außerkrafttreten der Regelung des § 5a VVG a.F. zum 1. Januar 2008 nicht entgegen stand (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2534/10 –, juris Rn. 32), erschien auf Grundlage der hier maßgebenden Richtlinien keinesfalls als ausgeschlossen oder auch nur fernliegend.
aa) Der durch die Berufungsgerichte zur Begründung ihres Standpunktes angeführte Hinweis auf eine einhellige Rechtsprechung mehrerer Oberlandesgerichte und die damit von ihnen unmittelbar und mittelbar in Bezug genommenen Entscheidungen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 5. Dezember 2000 – 4 U 32/00 –, VersR 2001, S. 837; OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 10. Dezember 2003 – 7 U 15/03 –, VersR 2005, S. 631; OLG Karlsruhe, Urteil vom 7. Mai 2009 – 12 U 241/08 –; OLG Stuttgart, Urteil vom 17. September 2009 – 7 U 75/09 –; OLG Köln, Beschluss vom 5. Februar 2010 – 20 U 150/09 –, VersR 2011, S. 245; OLG Köln, Beschluss vom 9. Juli 2010 – 20 U 51/10 –, juris; OLG Köln, Beschluss vom 29. Oktober 2010 – 20 U 100/10 –, VersR 2011, S. 248) sind vorliegend nicht geeignet, die richtige Anwendung des Unionsrechts als derart offenkundig erscheinen zu lassen, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt. Die Begründungen der in Bezug genommenen Entscheidungen greifen zu kurz.
(1) Die zitierten Oberlandesgerichte haben sich, soweit es ihnen nach der zeitlichen Abfolge möglich war, schon nicht mit den beachtlichen Argumenten der Europäischen Kommission in dem von ihr im Jahr 2005 gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren (Nr. 2005/5046) auseinandergesetzt. Dazu gehörte nicht nur die Erwägung, dass der Versicherungsnehmer nach der Zielsetzung der maßgeblichen Richtlinien bereits im Zeitpunkt seiner Auswahlentscheidung und damit vor Abgabe seiner zum Vertragsschluss führenden Willenserklärung umfassend informiert sein müsse, um einen seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auswählen zu können (dazu näher: BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2534/10 –, juris Rn. 41 f. sowie 1 BvR 2083/11 –, juris Rn. 42 f.). Die Europäische Kommission hat außerdem angemerkt, dass die in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. vorgesehene Befristung des Widerspruchsrechts (Erlöschen ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie) unabhängig davon, ob der Versicherungsnehmer über den Vertragsschluss unterrichtet und er über sein Recht zum Rücktritt belehrt worden sei, zur Anwendung gelange und damit dem Versicherungsnehmer faktisch nicht die Möglichkeit eingeräumt werde, sein Rücktrittsrecht auszuüben. Dies verstoße gegen die Vorgaben in Art. 35 Abs. 1, Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG (entspricht Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/916/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung [Lebensversicherung] und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG [ABl. EG Nr. L 330, S. 50-61 vom 29. November 1990] in der Fassung der Richtlinie 92/96/EWG und i.V.m. deren Art. 31 Abs. 1).
(2) Auch die Erwägung der Berufungsgerichte, die Richtlinien 92/96/EWG und 2002/83/EG machten ausschließlich Vorgaben für das Versicherungsaufsichtsrecht und strebten eine Harmonisierung des Versicherungsvertragsrechts gerade nicht an, vermag nicht zu überzeugen. Denn sie lässt unberücksichtigt, dass der Inhalt der in § 10a VAG a.F. aufsichtsrechtlich normierten Informationspflicht des Versicherers durch die versicherungsvertragsrechtliche Regelung des § 5a VVG a.F. geprägt war. Dementsprechend hätte die Bundesrepublik Deutschland, sollte die auf § 5a VVG a.F. gestützte Praxis des Vertragsschlusses nach dem „Policenmodell” einschließlich der in § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. geregelten Befristung des Widerspruchsrechts nicht den Richtlinienvorgaben entsprochen haben, im Ergebnis den genannten Richtlinien aufsichtsrechtlich keine praktische Wirksamkeit verschafft (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2534/10 –, juris Rn. 35 ff. und 1 BvR 2083/11, juris Rn. 36 ff.).
bb) Darüber hinaus haben die Berufungsgerichte nicht berücksichtigt, dass selbst die Gesetzesbegründung zu der am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Reform des Versicherungsvertragsgesetzes die Vereinbarkeit des – abzuschaffenden – „Policenmodells”, in dessen Rahmen die Vorschrift des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. die Lösung von Störungsfällen bezweckte (vgl. Lorenz, VersR 1997, S. 773 ≪780≫), aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben als „nicht zweifelsfrei” bezeichnet (vgl. BTDrucks 16/3945, S. 60).
cc) Dass die Richtlinienkonformität der Regelung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. nicht eindeutig war, kam nicht erst in der mit einer Terminsnachricht vom 1. Oktober 2010 verknüpften und den Berufungsgerichten bekannten Verfügung des Vorsitzenden des unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Versicherungsverhältnisse zuständigen IV. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zum Ausdruck, in der in einem anderen Verfahren darauf hingewiesen wurde, dass der Senat in Erwägung ziehe, das Verfahren auszusetzen und die Frage der Richtlinienkonformität des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen.
Die diesem Hinweis zugrunde liegenden Zweifel an der Richtlinienkonformität des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. fanden in dem von Anfang an gespaltenen Meinungsbild im Schrifttum ihre Bestätigung (die Richtlinienkonformität bezweifelten: Berg, VuR 1999, S. 335 ≪342≫; Döhmer, zfs 1997, S. 281 ≪282 f.≫; Ebers, in: Micklitz, Verbraucherrecht in Deutschland – Stand und Perspektiven, 2005, S. 253 ≪260 ff., 264 f., 267 ff.≫; ders., in: Schwintowski/Brömmelmeyer, Praxiskommentar zum Versicherungsvertragsrecht, 1. Aufl. 2008, § 8 Rn. 9 f.; Lenzing, in: Basedow/Fock, Europäisches Versicherungsvertragsrecht, Band I, 2002, S. 139 ≪165≫; Micklitz/Ebers, in: Basedow/Meyer/Rückle/Schwintowski, Verbraucherschutz durch und im Internet bei Abschluss von privaten Versicherungsverträgen – Altersvorsorgeverträge – VVG-Reform, 2003, S. 43 ≪82 f.≫; Rehberg, Der Versicherungsabschluss als Informationsproblem, 2003, S. 109 ff. ≪112 ff.≫; die Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben bejahten: Lorenz, VersR 1997, S. 773 ≪782≫; Prölss, in: Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 27. Aufl. 2004, VVG § 5a Rn. 8; Wandt, Verbraucherinformation und Vertragsschluss nach neuem Recht – Dogmatische Einordnung und praktische Handhabung –, 1995, S. 31 ff. ≪33≫, allerdings „nicht bedenkenfrei”).
Es fügt sich in das Gesamtbild, dass der Bundesgerichtshof – nach den hier angegriffenen Entscheidungen der Berufungsgerichte – in einem anderen Verfahren den Gerichtshof der Europäischen Union mit der Frage nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Inhalt des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. mit Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG (ABl. EG Nr. L 330, S. 50-61 vom 29. November 1990) in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG befasst hat (vgl. BGH, Beschluss vom 28. März 2012 – IV ZR 76/11 –, VersR 2012, S. 608) und der Gerichtshof der Europäischen Union die Vereinbarkeit einer solchen nationalen Regelung mit den Richtlinienvorgaben verneint hat (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2013, Endress, C-209/12, NJW 2014, S. 452 ≪452 f.≫ Rn. 19 ff., 32).
b) Unter diesen Umständen haben die Berufungsgerichte das Vorliegen der Anwendungsvoraussetzungen des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO a.F. mit einer verfassungsrechtlich nicht tragfähigen Begründung angenommen. Eine Entscheidung über die Berufungen durch Beschluss kam daher schlechterdings nicht in Betracht. Die Berufungsgerichte hätten vielmehr durch Urteil unter Zulassung der Revision (gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) entscheiden müssen, wenn sie nicht selbst zur Klärung der für entscheidungserheblich befundenen Frage der Richtlinienkonformität der Regelung des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einholen und das Verfahren aussetzen wollten.
c) Die angegriffenen Beschlüsse der Berufungsgerichte über die Zurückweisung der Berufung beruhen jeweils auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil die Gerichte ihre Entscheidungen in der Sache allein auf ihre oben dargestellte Rechtsauffassung gestützt haben. Beim derzeitigen Verfahrensstand kann auch nicht angenommen werden, dass bei Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen und Zurückverweisung der Sache an das jeweilige Berufungsgericht kein anderes, für die Beschwerdeführer günstigeres Ergebnis in Betracht kommt (vgl. dazu BVerfGE 90, 22 ≪25 f.≫). Die im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren 1 BvR 1415/11 durch den Versicherer thematisierte fachrechtliche Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Beschwerdeführer im Falle einer unterstellten Unionsrechtswidrigkeit des § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a.F. einen über den Rückkaufswert hinausgehenden Anspruch auf Prämienrückerstattung hat, bleibt hiernach einer fachgerichtlichen Überprüfung vorbehalten und ist nicht geeignet, der Verfassungsbeschwerde das Rechtsschutzbedürfnis zu entziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 – 1 BvR 2083/11 –, juris Rn. 47 ff.).
2. Danach liegen die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung vor; die Annahme ist zur Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte der Beschwerdeführer angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 93b Satz 1, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die angegriffenen Beschlüsse über die Zurückweisung der Berufungen sind hiernach aufzuheben und die Sachen an die Berufungsgerichte zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1 und 2 BVerfGG). Damit wird im Verfahren 1 BvR 1408/11 der zugehörige Beschluss des Berufungsgerichts über die Anhörungsrüge gegenstandslos.
Ob zugleich eine Verletzung weiterer, als verletzt gerügter verfassungsmäßiger Rechte der Beschwerdeführer im Sinne von § 90 Abs. 1 BVerfGG gegeben ist, bedarf danach keiner Entscheidung mehr.
V.
1. Die Anordnung der Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
2. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG in der gemäß § 60 Abs. 1 RVG vor dem 1. August 2013 geltenden Fassung und den durch das Bundesverfassungsgericht für die Festsetzung des Gegenstandswerts im Verfahren der Verfassungsbeschwerde entwickelten und fortgeltenden Maßstäbe (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Juni 2013 – 1 BvR 2952/08 –, NJW 2013, S. 2738 Rn. 6).
Unterschriften
Gaier, Schluckebier, Paulus
Fundstellen
Haufe-Index 6980288 |
WM 2014, 1270 |