Verfahrensgang
LG Saarbrücken (Beschluss vom 26.03.2013; Aktenzeichen 5 W 34/13) |
Saarländisches OLG (Beschluss vom 27.02.2013; Aktenzeichen 5 O 59/11 Th) |
Tenor
1. Der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 26. März 2013 – 5 W 34/13 – und der Beschluss des Landgerichts Saarbrücken vom 27. Februar 2013 – 5 O 59/11 Th – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das Saarländische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
3. Das Saarland hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen zu erstatten.
4. Der Wert der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 45.000 EUR (in Worten: fünfundvierzigtausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
Der Beschwerdeführer wendet sich unmittelbar gegen die vorläufige Verlängerung seiner Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz (ThUG) um drei Monate. Mittelbar ist die Verfassungsbeschwerde gegen die Vorschriften des Therapieunterbringungsgesetzes selbst gerichtet.
I.
1. a) Das Landgericht Saarbrücken verurteilte den bereits wegen Mordes vorbestraften Beschwerdeführer im September 1989 wegen vorsätzlichen Vollrauschs zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten; zugleich ordnete es wegen nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit gemäß § 63 StGB seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Nach Entweichung aus dem Landeskrankenhaus im Jahre 1990 – nur etwa vier Monate nach dem Beginn der Unterbringung – griff der Beschwerdeführer in alkoholisiertem Zustand im Zimmer eines Bordells eine Prostituierte von hinten an, hielt ihr den Mund zu und würgte sie. Aufgrund wiederum nicht auszuschließender Schuldunfähigkeit ordnete das Landgericht Trier wegen dieser Tat erneut seine Unterbringung gemäß § 63 StGB an.
Mit Beschluss vom 28. November 2005 erklärte das Landgericht Saarbrücken die beiden Anordnungen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 6 StGB für erledigt, weil der Beschwerdeführer zwar noch gefährlich, aber nicht mehr erheblich in seiner Schuldfähigkeit beeinträchtigt sei. Ab dem 23. Dezember 2005 wurde der Beschwerdeführer zur Vollstreckung der noch ausstehenden Reststrafe in Strafhaft umgesetzt, die er bis zum 22. Juni 2007 vollständig verbüßte.
b) Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete das Landgericht Saarbrücken mit Urteil vom 4. April 2007 die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66b Abs. 3 StGB in der bis zum 17. April 2007 geltenden Fassung vom 23. Juli 2004 (BGBl I S. 1838) an. Auf die Revision des Beschwerdeführers hob der Bundesgerichtshof am 10. Februar 2009 das Urteil des Landgerichts vom 4. April 2007 auf und verwies die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts zurück (BGH, Beschluss vom 10. Februar 2009 – 4 StR 391/07 –, juris). Mit Urteil vom 17. Juli 2009 ordnete das Landgericht Saarbrücken erneut die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen den Beschwerdeführer an. Die hiergegen gerichtete Revision hatte wiederum Erfolg: Mit Beschluss vom 12. Mai 2010 hob der Bundesgerichtshof vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch dieses Urteil auf, wies den Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung zurück und ordnete die sofortige Freilassung des Beschwerdeführers an, die noch am selben Tag erfolgte (BGH, Beschluss vom 12. Mai 2010 – 4 StR 577/09 –, juris.).
Im Rahmen der auf fünf Jahre festgelegten Führungsaufsicht wurden dem Beschwerdeführer gerichtlich verschiedene Auflagen und Weisungen erteilt. Nach seiner Entlassung unterlag er polizeilicher Begleitung und Überwachung.
c) Mit Beschluss vom 2. September 2011 ordnete das Landgericht Saarbrücken auf Antrag der Stadt Saarbrücken die vorläufige Therapieunterbringung des Beschwerdeführers für die Dauer von drei Monaten an. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde wies das Saarländische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 30. September 2011 als unbegründet zurück. Das Landgericht verlängerte mit Beschluss vom 1. Dezember 2011 die vorläufige Unterbringung bis längstens zum 29. Februar 2012. In der Hauptsache ordnete das Landgericht mit Beschluss vom 17. Februar 2012 die Unterbringung des Beschwerdeführers bis zum 1. März 2013 an. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wies das Saarländische Oberlandesgericht mit Beschluss vom 14. Mai 2012 zurück.
Gegen beide Entscheidungen legte der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerden ein (2 BvR 2302/11 und 2 BvR 1279/12), denen mit Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 – soweit diese sich unmittelbar gegen die gerichtlichen Beschlüsse richteten – stattgegeben wurde. Soweit der Beschwerdeführer sich mittelbar gegen die Vorschriften des Therapieunterbringungsgesetzes selbst wendete, wurden seine Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen.
d) Noch vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ordnete das Landgericht Saarbrücken mit im vorliegenden Verfahren angegriffenem Beschluss vom 27. Februar 2013 im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Verlängerung der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Therapieunterbringung bis zum 31. Mai 2013 an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers wies das Saarländische Oberlandesgericht mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 26. März 2013 zurück. In den Entscheidungsgründen des Landgerichts heißt es, dass der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung einer anderen Person erheblich beeinträchtigen werde. Es bestünden Gründe für die Annahme, dass von dem Beschwerdeführer weiterhin die Gefahr schwerwiegender Gewalt- und/oder Sexualdelikte ausgehe. Das Saarländische Oberlandesgericht stellte daran anknüpfend fest, dass die psychische Störung des Beschwerdeführers zu jedem nicht vorhersehbaren Zeitpunkt in einen Kontrollverlust mit der Folge massiver Sexual- und Gewalttaten umschlagen könne. Daher sei die Unterbringung vorläufig zu verlängern.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104, Art. 19 Abs. 1 Satz 1 und Art. 103 Abs. 2 GG sowie von Art. 5 und Art. 7 EMRK. Dem Bundesgesetzgeber fehle die Gesetzgebungskompetenz für das Therapieunterbringungsgesetz. Dieses verstoße darüber hinaus gegen das Rückwirkungsverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG. Durch die nicht weiter eingegrenzte Voraussetzung der „psychischen Störung” in § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG seien außerdem die Bestimmtheitsanforderungen aus Art. 103 Abs. 2 GG verletzt. Das Therapieunterbringungsgesetz stelle ferner – vor allem aufgrund der Neuregelung in Art. 316e Abs. 4 EGStGB – ein unzulässiges Einzelfallgesetz dar. Schließlich begründe die konkrete Anwendung des Therapieunterbringungsgesetzes eine Verletzung des Freiheitsrechts.
3. Den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat die Kammer mit Beschluss vom 28. Mai 2013 abgelehnt.
4. Das Verfahren wurde dem Ministerium der Justiz des Saarlandes mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde – soweit sie gegen den Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 26. März 2013 – 5 W 34/13 – und den Beschluss des Landgerichts Saarbrücken vom 27. Februar 2013 – 5 O 59/11 Th – gerichtet ist – zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen – insbesondere die Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11 u.a. –, juris, Rn. 69 ff.) bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
a) Die Verfassungsbeschwerde ist – soweit die Kammer sie zur Entscheidung annimmt – zulässig und begründet.
aa) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung in der Zeit vom 2. März 2013 bis zum 31. Mai 2013 aufgrund der angegriffenen Beschlüsse einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht beinhaltet (vgl. dazu BVerfGE 9, 89 ≪92 ff.≫; 32, 87 ≪92≫; 53, 152 ≪157 f.≫; 104, 220 ≪234≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04 –, juris, Rn. 20 ff.; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2013 – 2 BvR 1797/13 –, juris, Rn. 9).
bb) In dem bezeichneten Umfang ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. In den angegriffenen Beschlüssen ist der Entscheidung über die vorläufige Verlängerung der Therapieunterbringung ein falscher Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 ist § 1 Absatz 1 des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11 u.a. –, juris, Rn. 70).
Diesen Vorgaben tragen die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen Beschlüsse nicht hinreichend Rechnung. Weder das Landgericht noch das Oberlandesgericht überträgt den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange berührende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪399≫) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11 u.a. –, juris, Rn. 69 f.), auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪407 f.≫).
cc) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.
b) Der Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 26. März 2013 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪407≫) an das Saarländische Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Hinsichtlich des mittelbaren Angriffs auf das Therapieunterbringungsgesetz wird auf den Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11 u.a. – verwiesen und im Übrigen von einer Begründung abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen