Verfahrensgang
Niedersächsisches OVG (Beschluss vom 05.05.2006; Aktenzeichen 11 ME 122/06) |
VG Göttingen (Beschluss vom 30.03.2006; Aktenzeichen 1 B 132/06) |
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die behördlich angeordnete sofortige Vollziehung eines Versammlungsverbots.
I.
Der Antragsteller ist stellvertretender Vorsitzender des Landesverbandes Niedersachsen der Nationaldemokratischen Partei Deutschland (NPD). Für Samstag, den 13. Mai 2006, meldete er eine öffentliche Veranstaltung unter freiem Himmel nebst Aufzug unter dem Thema “Sozialabbau, Rentenklau, Korruption – Nicht mit uns!” in der Göttinger Innenstadt an. Zeitlich parallel war ein weiterer Aufzug von einem Rechtsextremisten angemeldet worden, der sich mit dem vom Antragsteller angemeldeten später vereinigen sollte. Der Aufzug des Antragstellers sollte nach einer Auftaktkundgebung in der Nähe des Bahnhofsplatzes durch die Göttinger Innenstadt und nach Zwischenkundgebungen wieder zurück zu einer Abschlusskundgebung auf dem Bahnhofsplatz führen. Die Stadt Göttingen – Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens – untersagte dem Antragsteller den angemeldeten Aufzug und jede Form einer Ersatzveranstaltung und ordnete die sofortige Vollziehung der Verfügung an. Der Antragsteller erhob hiergegen Klage. Den gleichzeitig gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lehnte das Verwaltungsgericht durch den angegriffenen Beschluss ab. Die Beschwerde des Antragstellers war teilweise erfolgreich. Durch den gleichfalls angegriffenen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wurde die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Untersagungsverfügung der Stadt Göttingen vom 6. März 2006 mit folgenden Maßgaben wieder hergestellt:
1. Die für den 13. Mai 2006 in Göttingen angemeldete Versammlung des Antragstellers findet stationär auf dem Bahnhofsvorplatz in der Zeit von 12.00 Uhr bis 14.00 Uhr statt.
2. Der Antragsgegnerin bleibt es vorbehalten, dem Antragsteller weitere von ihr für erforderlich gehaltene Auflagen für die Durchführung der Versammlung zu erteilen.
Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt. Die weitergehende Beschwerde des Antragstellers wurde zurückgewiesen.
II.
Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) sind nicht gegeben.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Erfolgsaussichten eines möglichen Hauptsacheverfahrens grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Bei der Prüfung des Eilantrags legt das Bundesverfassungsgericht in aller Regel die Tatsachenfeststellungen und Tatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entscheidungen zugrunde. Etwas anderes gilt, wenn die Tatsachenfeststellungen offensichtlich fehlsam sind oder die Tatsachenwürdigung unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsnorm offensichtlich nicht trägt (vgl. BVerfGE 110, 77 ≪87 f.≫; 111, 147 ≪153≫; BVerfGK 3, 97 ≪99≫).
1. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen nicht auf der Annahme, dass die vom Antragsteller geplante Versammlung unfriedlich verlaufen werde, sind aber auf das Bevorstehen gewalttätiger Aktionen von Gegendemonstranten gestützt.
Der Staat ist durch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gehalten, die Grundrechtsausübung möglichst vor Störungen und Ausschreitungen Dritter zu schützen und behördliche Maßnahmen primär gegen die Störer zu richten, um die Durchführung der Versammlung zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪355 f., 360 ff.≫). Gegen die Versammlung selbst darf in solchen Fällen nur ausnahmsweise, und zwar nur unter den besonderen Voraussetzungen des so genannten polizeilichen Notstandes eingeschritten werden (dazu vgl. BVerfGE 69, 315 ≪355 f., 360 ff.≫ sowie die Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. April 1998 – 1 BvR 2311/94 –, NVwZ 1998, S. 834 ≪836≫, vom 14. Juli 2000 – 1 BvR 1245/00 –, NJW 2000, S. 3051 ≪3052 f.≫, vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 ≪3056≫, vom 24. März 2001 – 1 BvQ 13/01 –, NJW 2001, S. 2069 ≪2072≫ und vom 26. März 2001 – 1 BvQ 15/01 –, NJW 2001, S. 1411 ≪1412≫). Vorausgesetzt ist, dass die Gefahr auf andere Weise nicht abgewehrt und die Störung auf andere Weise nicht beseitigt werden kann und die Verwaltungsbehörde nicht über ausreichende eigene, eventuell durch Amts- und Vollzugshilfe ergänzte, Mittel und Kräfte verfügt, um die gefährdeten Rechtsgüter wirksam zu schützen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26. März 2001 – 1 BvQ 15/01 –, NJW 2001, S. 1411 ≪1412≫).
Mit Art. 8 GG wäre es nicht zu vereinbaren, dass bereits mit dem Bevorstehen einer Gegendemonstration, deren Durchführung den Einsatz von Polizeikräften erfordern könnte, erreicht werden kann, dass dem Veranstalter der angemeldeten Versammlung die Möglichkeit genommen wird, sein Demonstrationsanliegen zu verwirklichen. Deshalb muss vorrangig versucht werden, den Schutz der Versammlung auf andere Weise durchzusetzen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 14. Juli 2000 – 1 BvR 1245/00 –, NJW 2000, S. 3051 ≪3052 f.≫). Der Staat darf insbesondere nicht dulden, dass friedliche Demonstrationen einer bestimmten politischen Richtung – hier von Rechtsextremisten – durch gewalttätige Gegendemonstrationen verhindert werden. Gewalt von “links” ist keine verfassungsrechtlich hinnehmbare Antwort auf eine Bedrohung der rechtsstaatlichen Ordnung von “rechts”. Drohen Gewalttaten als Gegenreaktion auf Versammlungen, so ist es Aufgabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung berufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit für alle Grundrechtsträger hinzuwirken (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 ≪3056≫). In diesem Zusammenhang kann gegebenenfalls zu prüfen sein, ob der Anlass für ein auf polizeilichen Notstand gestütztes Versammlungsverbot oder für beeinträchtigende Auflagen durch Modifikationen der Versammlungsmodalitäten, durch die der konkrete Zweck der Versammlung nicht vereitelt wird, entfallen kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 ≪3056≫).
Die Wahrung strikter Unparteilichkeit vorausgesetzt, sind die Ordnungsbehörden jedoch nicht dazu verpflichtet, Polizeikräfte ohne Rücksicht auf sonstige Sicherheitsinteressen in unbegrenztem Umfang bereitzuhalten. Das Gebot, vor der Inanspruchnahme von Nichtstörern eigene sowie gegebenenfalls externe Polizeikräfte gegen die Störer einer Versammlung einzusetzen, steht vielmehr unter dem Vorbehalt der tatsächlichen Verfügbarkeit solcher Kräfte (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2001 – 1 BvQ 13/01 –, NJW 2001, S. 2069 ≪2072≫, vom 26. März 2001 – 1 BvQ 15/01 –, NJW 2001, S. 1411 ≪1412≫ und vom 2. Dezember 2005 – 1 BvQ 35/05 – ≪juris≫). Eine Beschränkung der angemeldeten Versammlung kommt in Betracht, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die Versammlungsbehörde wegen der Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und gegebenenfalls trotz Heranziehung externer Polizeikräfte zum Schutz der angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre; eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht allerdings nicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 24. März 2001 – 1 BvQ 13/01 –, NJW 2001, S. 2069 ≪2072≫).
2. An diesen Maßstäben gemessen führt die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, durch welche die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die angegriffene Verbotsverfügung teilweise wieder hergestellt und dem Antragsteller die Durchführung zumindest einer stationären Versammlung ermöglicht wird, für den Antragsteller nicht zu einem schweren Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG.
a) Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die für die Annahme eines polizeilichen Notstands von dem Oberverwaltungsgericht im Anschluss an die verwaltungsgerichtliche Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachenfeststellungen über die sehr hohe Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Aktionen durch Gegendemonstranten offensichtlich fehlsam sind. Gleiches gilt für die Annahme, dass es auch beim Einsatz von mehreren Tausend Polizeikräften nicht gelingen kann, Gewaltfreiheit zu sichern. Das Oberverwaltungsgericht stützt sich unter anderem darauf, dass angesichts der Erfahrungen mit der Demonstration der NPD in Göttingen am 29. Oktober 2005 sowie neuerer Erkenntnisse auch bei massivem Einsatz von Polizeikräften schwerste Ausschreitungen durch gewalttätige Gegendemonstranten drohten, die auch durch vorbeugende Maßnahmen nicht wirkungsvoll verhindert werden könnten. Bei der damaligen Demonstration habe die Polizei trotz des Einsatzes von nahezu 4.000 Beamtinnen und Beamten den Demonstrationszug der NPD angesichts von 1.500 gewalttätigen Gegendemonstranten nicht ohne Gefährdung der etwa 230 Teilnehmer über die geplante, aber durch brennende Barrikaden blockierte Aufzugsstrecke führen können. Auch bei dem für die diesjährige Demonstration vorgesehenen Einsatz von 5.500 bis 6.000 Polizisten werde es angesichts von wiederum mindestens 1.500 zu erwartenden gewaltbereiten Gegendemonstranten erneut zu erheblichen Ausschreitungen und Gewalttaten kommen.
Nicht zu beanstanden ist auch, dass das Oberverwaltungsgericht die vom Antragsteller vorgesehenen Modalitäten der Versammlungsdurchführung in die Bewertung einbezogen hat. Dabei durfte es berücksichtigen, dass geplant war, zwei Aufzüge durch Rechtsextremisten über einen Zeitraum von sechs bis sieben Stunden zeitlich parallel und zum Teil örtlich verbunden durchzuführen, wodurch die potentielle Angriffsbereitschaft bei gewaltbereiten Gegendemonstranten noch erweitert und die Schwierigkeit der Polizei zur Beherrschung der Lage vergrößert würden. Zu berücksichtigen war auch, dass die gewählte Route sternmarschmäßig um die Innenstadt von Göttingen führte, so dass die Annahme der Polizei nachvollziehbar war, sie könne Gewaltfreiheit allenfalls bei einer großflächigen Absperrung der gesamten Innenstadt erreichen, wodurch die ebenfalls rechtlich geschützten Interessen vieler Bürger Göttingens beeinträchtigt werden könnten. Zum Gesamtbild gehört auch, dass der Antragsteller mit dem angemeldeten Aufzug hinsichtlich des gewählten Themas und der vorgesehenen Route an seinen im Jahr 2005 veranstalteten Aufzug anknüpft, der seinerzeit wegen der gewalttätigen Aktionen von Gegendemonstranten nicht hatte zu Ende geführt werden können. Nicht unplausibel ist die Annahme, dass dieser Wiederholungscharakter auch zur Wiederholung und gegebenenfalls Steigerung der Gewaltbereitschaft der Gegendemonstranten führen würde.
b) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Oberverwaltungsgericht in einer solchen außergewöhnlichen Situation eine zeitliche und örtliche Begrenzung der als Aufzug geplanten Veranstaltung auf eine stationäre Versammlung in der Zeit von 12.00 Uhr bis 14.00 Uhr als versammlungsrechtlich hinnehmbar bewertet (vgl. zur Möglichkeit eines mit einer derartigen Begrenzung einhergehenden geringeren polizeilichen Kräftebedarfs BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 ≪3056≫). Auf diese Weise bleibt die Durchführbarkeit einer öffentlichen Versammlung zu dem geplanten Thema auf einem zentralen Platz in Göttingen, dem Bahnhofsplatz, gewahrt, auf dem oder in dessen Nähe der Antragsteller ohnehin die Auftakt- und Abschlusskundgebung hatte durchführen wollen. Da das Versammlungsthema keinen spezifischen Bezug auf Göttingen oder gar auf die an der geplanten Route gelegenen Örtlichkeiten hatte, bedeutet die Beschränkung auf eine stationäre Versammlung zwar eine Begrenzung der Möglichkeit, Aufmerksamkeit an mehreren Orten zu erreichen, nicht aber eine Beeinträchtigung des inhaltlichen Anliegens der Versammlung. Daher ist ein schwerer Nachteil im Sinne des § 32 Abs. 1 BVerfGG nicht gegeben (vgl. auch BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Ersten Senats vom 18. August 2000 – 1 BvQ 23/00 –, NJW 2000, S. 3053 ≪3056≫ und vom 2. Dezember 2005 – 1 BvQ 35/05 – ≪juris≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen