Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts gem. §§ 2339 Nr. 1, 2345 BGB
Normenkette
BGB § 2339 Nr. 1, § 2345
Verfahrensgang
Tenor
Die Wirkung des Schlussurteils des Landgerichts Köln vom 8. Oktober 1998 – 15 O 411/95 – und des Urteils des Oberlandesgerichts Köln vom 30. März 2000 – 1 U 108/98 – wird für die Dauer von sechs Monaten, längstens für die Dauer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, ausgesetzt, falls der Beschwerdeführer Sicherheit in Höhe von 60.000 DM leistet. Die Sicherheitsleistung kann auch in Form einer selbstschuldnerischen Bürgschaft eines als Zoll- und Steuerbürge zugelassenen Kreditinstituts erbracht werden.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen des Pflichtteilsrechts.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist einer von zwei Söhnen der am 18. Februar 1994 verstorbenen Erblasserin. Die Erblasserin hatte ihn testamentarisch zu ihrem Alleinerben eingesetzt. Am 13. Januar 1994 griff der Bruder des Beschwerdeführers (im Folgenden: Kläger), der seit langem unter einer schizophrenen Psychose leidet, die Mutter zum wiederholten Male tätlich an. Daraufhin errichtete sie am 20. Januar 1994 ein weiteres Testament, in dem sie die Erbeinsetzung des Beschwerdeführers bestätigte und zusätzlich bestimmte:
„Meinen gewalttätigen Sohn N., geb. …, enterbe ich, weil er mich nachweislich oft mißhandelt (Faustschläge auf den Kopf) und dadurch meinen eventuellen plötzlichen Tod in Kauf nimmt.”
Am 18. Februar 1994 erschlug der Kläger seine Mutter, zerstückelte die Leiche und versteckte die Leichenteile im Wald. Aufgrund dieser – nach den Feststellungen der Strafkammer des Landgerichts im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen – Tat ordnete das Gericht in einem Sicherungsverfahren die Unterbringung des Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
2. Im Ausgangsverfahren nahm der Kläger, vertreten durch seinen Betreuer, den Beschwerdeführer auf Zahlung des Pflichtteils in Anspruch. Sowohl das Landgericht als auch in der Berufungsinstanz das Oberlandesgericht bejahten einen Pflichtteilsanspruch des Klägers gemäß § 2303 BGB, den das Oberlandesgericht auf 47.630,55 DM bezifferte.
Das Oberlandesgericht führte in der angegriffenen Entscheidung aus, der Pflichtteil sei dem Kläger weder von der Erblasserin wirksam entzogen worden, noch könne der Kläger gemäß § 2339 Nr. 1, § 2345 BGB als pflichtteilsunwürdig angesehen werden. Durch das Testament vom 20. Januar 1994 habe die Erblasserin dem Kläger zwar nicht nur den Erbteil, sondern auch den Pflichtteil entziehen wollen. Objektiv sei auch ein Grund zur Pflichtteilsentziehung im Sinne des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB gegeben gewesen. Die wirksame Pflichtteilsentziehung setze jedoch, wie sich aus dem Wortlaut und dem Sinn der Vorschriften ergebe, ein schuldhaftes Verhalten des Pflichtteilsberechtigten voraus. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger bei den in dem Testament erwähnten Misshandlungen ebenso wie bei der Tötung der Mutter selbst schuldunfähig gewesen sei und diese Schuldunfähigkeit nicht herbeigeführt habe. In den §§ 2333, 2339 BGB komme die Wertung zum Ausdruck, pflichtteilsunwürdig sei nur derjenige, der für sein eigenes Handeln verantwortlich sei; nur ihm könne wirksam der Pflichtteil entzogen werden. Diese Wertung erscheine verfassungsrechtlich unbedenklich.
3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 GG, Art. 3 GG, Art. 6 GG, Art. 14 GG und Art. 103 Abs. 1 GG. Hierzu trägt er unter anderem vor:
Die Rechtfertigung des Pflichtteilsrechts beruhe auf dem besonderen Schutz der Familie. Sofern jedoch ein Familienverbund zwischen Erblasser und Pflichtteilsberechtigtem nicht bestehe, sei die Voraussetzung für eine Einschränkung der durch Art. 14 GG geschützten Testierfreiheit nicht gegeben. Für die Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Nr. 1 und Nr. 2 BGB dürfe es nicht auf ein Verschulden ankommen, wenn wie im konkreten Fall der Pflichtteilsberechtigte über viele Jahre schwere Verfehlungen gegen den Erblasser begangen habe und dadurch den Familienverbund objektiv zerstört habe. Lasse man das Tatbestandsmerkmal Verschulden, das der Gesetzeswortlaut des § 2333 Nr. 1 BGB nicht fordere, bestehen, gebe es keine Grenze des Zumutbaren und der Billigkeit. Die Einschränkung der durch Art. 14 GG geschützten Testierfreiheit könne nicht durch Art. 6 GG gerechtfertigt werden. Aus dem Schutz von Ehe und Familie könne vielmehr umgekehrt eine besondere Pflicht zum Schutz der Erblasserin abgeleitet werden, die das Recht zum Ausschluss des Pflichtteils bei einem Tötungsversuch oder schweren Misshandlungen unabhängig von einem Verschulden erfordere.
4. Der Beschwerdeführer beantragt, durch einstweilige Anordnung die Vollstreckung aus den angegriffenen Urteilen auszusetzen. Es sei davon auszugehen, dass der Betreuer des Klägers nunmehr die Zwangsvollstreckung betreiben werde. Die Behörden würden den Pflichtteil vollständig zur Befriedigung ihrer Forderungen gegen den Kläger heranziehen. Es handle sich hierbei um die umfangreichen Kosten der Strafverfolgung und die Kosten der psychiatrischen Unterbringung, die den Pflichtteil deutlich übersteigen dürften. Es sei daher nicht daran zu zweifeln, dass der Kläger im Falle einer erfolgreichen Verfassungsbeschwerde bereits entreichert sein werde und für die Erfüllung der genannten Forderungen auch nichts als Ersatz erlangen werde.
5. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und der Betreuer des Klägers des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit, zu dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Stellung zu nehmen.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 Abs. 1 BVerfGG) hat Erfolg.
Nach vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage kann nicht festgestellt werden, dass die von dem Beschwerdeführer erhobene Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens richtet sich die Entscheidung darüber, ob eine einstweilige Anordnung ergeht, nach einer Folgenabwägung. Dabei müssen die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, mit den Nachteilen abgewogen werden, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 94, 334 ≪347≫; 96, 120 ≪128 f.≫; stRspr).
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, könnte der Kläger des Ausgangsverfahrens, vertreten durch seinen Betreuer, aus dem rechtskräftigen Urteil die Zwangsvollstreckung gegen den Beschwerdeführer betreiben. Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg und würden die angegriffenen Entscheidungen aufgehoben, stünde dem Beschwerdeführer gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens hinsichtlich des vollstreckten Betrages zwar ein Bereicherungsanspruch (§§ 812 ff. BGB) zu. Selbst wenn man davon ausgeht, dass sich der Kläger nicht auf den Wegfall der Bereicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) berufen könnte (vgl. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 95 Rn. 31), hat der Beschwerdeführer in nachvollziehbarer Weise dargelegt, dass der Kläger aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falles aller Voraussicht nach zur Rückzahlung des ihm einmal zugeflossenen Betrages nicht in der Lage sein würde. Für den Beschwerdeführer besteht somit die konkrete Gefahr, dass der für ihn durch die zivilgerichtliche Verurteilung eingetretene Nachteil auch im Falle des Erfolgs der Verfassungsbeschwerde nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte.
Ergeht hingegen die einstweilige Anordnung, ist der Kläger für die Dauer der verfassungsrechtlichen Prüfung gehindert, die Zwangsvollstreckung aus dem rechtskräftigen Urteil zu betreiben. Falls die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis keinen Erfolg haben sollte, träte für ihn also eine zeitliche Verzögerung bei der Durchsetzung seiner Pflichtteilsforderung ein.
Wägt man die Folgen miteinander ab, fallen die Nachteile, die dem Beschwerdeführer drohen, schwerer ins Gewicht als die nachteiligen Folgen für den Kläger des Ausgangsverfahrens. Dadurch, dass die Aussetzung der Vollstreckbarkeit der angegriffenen Entscheidungen von einer entsprechenden Sicherheitsleistung des Beschwerdeführers abhängig gemacht wurde, besteht für den Kläger insbesondere nicht die Gefahr, dass er nicht rückgängig zu machende Nachteile erleidet, falls die Verfassungsbeschwerde erfolglos sein sollte.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hoffmann-Riem
Fundstellen
Haufe-Index 565260 |
NJW 2001, 1484 |
FamRZ 2001, 277 |
ZNotP 2001, 33 |