Entscheidungsstichwort (Thema)
Strafvollzug bei nicht rechtskräftigem Ausweisungsbeschluss
Verfahrensgang
OLG Hamm (Beschluss vom 12.02.2002; Aktenzeichen 1 Ws 19/02) |
LG Arnsberg (Beschluss vom 14.11.2001; Aktenzeichen StVK 494/01) |
Tenor
1. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Hamm vom 12. Februar 2002 – 1 Ws 19/02 – und des Landgerichts Arnsberg vom 14. November 2001 – StVK 494/01 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Sie werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Landgericht Arnsberg zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Strafrestaussetzung zur Bewährung.
I.
Der Beschwerdeführer, marokkanischer Staatsangehöriger, wurde im Dezember 1999 als Ersttäter wegen Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Er hatte im Auftrag seines Bruders ca. 1 kg Haschisch sowie 1 kg Kokain als Kurier aus den Niederlanden nach Deutschland verbracht. Zwei Drittel der Strafe waren am 6. Dezember 2001 verbüßt; das Strafende wird am 7. April 2003 erreicht sein.
Im Mai 2001 wies die zuständige Ausländerbehörde den Beschwerdeführer gemäß § 47 AuslG aus dem Bundesgebiet aus und ordnete seine Abschiebung sowie die sofortige Vollziehung der Ausweisung an. Hiergegen legte er Widerspruch ein, über den jedenfalls bis zum Ergehen der angegriffenen Entscheidungen noch nicht entschieden worden ist.
Das Landgericht lehnte die bedingte Entlassung des Beschwerdeführers nach negativer Stellungnahme der Vollzugsanstalt ab. Er sei zwar Erstverbüßer, habe sich im Vollzug gut geführt und unterhalte regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie, bei der er nach der Entlassung wohnen könne. Andererseits seien Vollzugslockerungen bisher nicht gewährt worden und es liege eine nicht rechtskräftige Ausweisungsverfügung gegen ihn vor. Auch hätten sich seine sozialen Rahmenbedingungen in der Vergangenheit nicht als hinreichend stabil erwiesen, um ihn von der Begehung von Straftaten abzuhalten. Daher könne die bedingte Entlassung „ohne vorherige Bewährung unter vollzuglichen Lockerungen nicht gewagt werden”.
Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde verwarf das Oberlandesgericht aus den Gründen des angefochtenen Beschlusses. Es fügte hinzu, „insbesondere aufgrund der derzeit ungeklärten ausländerrechtlichen Situation” kämen „zum jetzigen Zeitpunkt Vollzugslockerungen und demzufolge auch eine bedingte Entlassung nicht in Betracht”.
Entscheidungsgründe
II.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 und Abs. 3, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die angegriffenen Entscheidungen enthielten unzureichende Tatsachenfeststellungen. Insbesondere sei nicht konkret überprüft und begründet worden, weshalb dem Beschwerdeführer keine Lockerungen gewährt werden könnten. Der pauschale Hinweis auf die „ungeklärte ausländerrechtliche Situation” reiche insoweit nicht aus. Auch hätten die Gerichte in unzulässiger Weise auf seine – an sich positiven – sozialen Rahmenbedingungen und sein Verhalten in der Vergangenheit abgestellt, ohne seine Läuterung durch jahrelangen Strafvollzug in Rechnung zu stellen.
III.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat in seiner Stellungnahme auf die Verwaltungsvorschrift Nr. 6 zu § 11 StVollzG verwiesen, nach der Gefangene von Vollzugslockerungen ausgeschlossen seien, gegen die eine vollziehbare Ausweisungsverfügung für den Geltungsbereich des Strafvollzugsgesetzes bestehe und die aus der Haft abgeschoben werden sollten. Daher entspreche es pflichtgemäßem Ermessen, bei der Entscheidung über Lockerungen die ausländerrechtliche Situation nach Maßgabe der erläuterten Verwaltungsvorschrift zu berücksichtigen.
IV.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Sie ist zur Sachentscheidung berufen, da die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§§ 93b Satz 1, 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, weil sie ausreichende Feststellungen sowie eine angemessene Würdigung der für die Prognose gemäß § 57 Abs. 1 StGB relevanten Tatsachen vermissen lassen.
1. Ob im Einzelfall die weitere Vollstreckung einer rechtskräftig ausgesprochenen Freiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung auszusetzen ist, ist zunächst eine Frage der Auslegung und Anwendung des Strafgesetzbuches und des Strafvollstreckungsrechts. Das Bundesverfassungsgericht prüft diese Entscheidung nicht in jeder Hinsicht nach. Es hat jedoch einzugreifen, wenn das zuständige Fachgericht bei der Sachverhaltsfeststellung und -würdigung die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite der Menschenwürde oder der Freiheitsgarantie verkannt hat (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1998 – 2 BvR 77/97 –, NStZ 1998, S. 373 ≪374≫). Insbesondere müssen Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (stRspr; vgl. BVerfGE 70, 297 ≪308≫ m.w.N.).
Demzufolge darf der Strafvollstreckungsrichter im Verfahren gemäß §§ 454, 462 StPO seine Entscheidung gemäß § 57 Abs. 1 StGB nicht alleine darauf stützen, dass die Vollzugsbehörde – etwa auf der Grundlage bloßer pauschaler Wertungen oder mit dem Hinweis auf eine abstrakte Flucht- oder Missbrauchsgefahr – die Gewährung von Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der Strafaussetzung versagt hat. Er hat vielmehr eigenständig zu prüfen, ob die Strafrestaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Der Erprobung eines Strafgefangenen im Rahmen von Vollzugslockerungen kann hierbei als Indiz zwar eine erhebliche Bedeutung zukommen. Vollzugslockerungen sind jedoch von Rechts wegen nicht notwendigerweise Voraussetzung für eine bedingte Entlassung. Gegebenenfalls kann das Gericht die Vollzugsbehörde im Aussetzungsverfahren darauf hinweisen, dass Vollzugslockerungen zur Vorbereitung der bedingten Entlassung geboten erscheinen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1998 – 2 BvR 77/97 –, a.a.O., S. 375).
Diesen Grundsätzen genügen die angegriffenen Entscheidungen nicht. Das Landgericht stellt die Tatsachen, die für und gegen die bedingte Entlassung sprechen, in knappster Form nebeneinander, ohne offen zu legen, welche Erwägung für die Annahme einer negativen Prognose maßgeblich war. Dies begegnet bereits Bedenken. Verfassungsrechtlich nicht mehr vertretbar ist jedenfalls die Art und Weise, in der die Fachgerichte ihre Ablehnung an das Fehlen von Vollzugslockerungen knüpfen. Denn die angegriffenen Entscheidungen setzen sich nicht bzw. unzureichend mit der Frage auseinander, ob die Vollzugsbehörde zu recht davon abgesehen hat, gemäß § 15 StVollzG Lockerungen zur Entlassungsvorbereitung anzuordnen.
Während das Landgericht die Frage nicht problematisiert, weist das Oberlandesgericht lediglich auf die „ungeklärte ausländerrechtliche Situation” als Grund für die Ablehnung von Lockerungsmaßnahmen und Strafaussetzung hin, ohne auf die konkrete Lage des Beschwerdeführers einzugehen. Damit widerspricht die Entscheidung bereits der herrschenden Rechtsprechung der Fachgerichte, der zufolge ein anhängiges Ausweisungsverfahren die Versagung von Lockerungen wegen Flucht- oder Missbrauchsgefahr nicht pauschal zu rechtfertigen vermag (vgl. OLG Frankfurt, ZfStrVO 1991, S. 372, NStZ 1983, S. 93, ZfStrVO 1983, S. 249; OLG Celle, ZfStrVO 1984, S. 251).
Verfassungsrechtlich erschiene der Verzicht der angegriffenen Entscheidungen auf eine konkrete Begründung allenfalls dann vertretbar, wenn nach den Umständen des Falles ein Missbrauch der Vollzugslockerung oder der Strafaussetzung mit Blick auf die drohende Abschiebung offensichtlich vorauszusehen wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Danach enthalten die angegriffenen Entscheidungen mangelhafte Feststellungen zum Einfluss der ausländerrechtlichen Situation des Beschwerdeführers auf die Möglichkeit einer Strafrestaussetzung. Damit basiert die gerichtliche Prognose auf einer rechtsstaatlich unzureichenden Tatsachengrundlage. Überdies ist bei einer derartigen Entscheidungspraxis die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass die Strafhaft in rechtsstaatlich unzulässiger Weise zur Abschiebehaft umfunktioniert und der Strafvollzug für ausländische Verurteilte zum bloßen „Verwahrvollzug” wird (vgl. OLG Braunschweig, StV 1983, S. 338 ≪339≫; Lesting, in: AK-StVollzG, 4. Aufl., Rz. 41 zu § 11).
2. Dieser Befund führt zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidungen und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Damit erübrigt sich eine Entscheidung über den Eilantrag.
3. Dem Beschwerdeführer sind gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Osterloh, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 771834 |
NStZ 2003, 592 |
NPA 2002, 0 |
StV 2003, 677 |
StraFo 2002, 412 |