Verfahrensgang
OLG Nürnberg (Beschluss vom 13.06.2013; Aktenzeichen 15 W 1078/13 Th) |
LG Regensburg (Beschluss vom 14.01.2013; Aktenzeichen 7 O 2114/12 Th) |
Tenor
Dem Beschwerdeführer wird wegen der Versäumung der Frist zur Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 13. Juni 2013 – 15 W 1078/13 Th – und der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 14. Januar 2013 – 7 O 2114/12 Th – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Damit erledigen sich die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowie auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt G.
Tatbestand
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Fortdauer seiner Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz.
I.
1. Das Landgericht München I verurteilte den Beschwerdeführer im Dezember 1997 wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten und ordnete die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung an. Das Oberlandesgericht Nürnberg erklärte mit Beschluss vom 15. April 2011 die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung zum 30. Juni 2011 für erledigt. Seitdem befand sich der Betroffene im Vollzug der Unterbringung nach dem Therapieunterbringungsgesetz, aus dem er am 14. August 2013 aufgrund eines die Unterbringung aufhebenden Beschlusses des Landgerichts Regensburg vom selben Tag entlassen wurde. Das Landgericht führte in diesem Beschluss aus, bei Anlegung des strengen Maßstabs einer hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten könne die Unterbringung nicht mehr aufrechterhalten werden.
Zuvor hatte das Landgericht Regensburg im Verfahren nach dem Therapieunterbringungsgesetz mit angegriffenem Beschluss vom 14. Januar 2013 die Unterbringung des Beschwerdeführers mit Wirkung ab dem 21. Januar 2013 noch um 18 Monate verlängert. Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 13. Juni 2013 hatte das Oberlandesgericht Nürnberg die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschwerdeführers zurückgewiesen. In den Gründen des vom Oberlandesgericht in Bezug genommenen landgerichtlichen Beschlusses wird ausgeführt, dass der Beschwerdeführer infolge seiner psychischen Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit die sexuelle Selbstbestimmung anderer Personen erheblich beeinträchtigen werde. Daher habe die Unterbringung fortzudauern. Ob von dem Beschwerdeführer eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten ausgeht, wurde demgegenüber nicht geprüft.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 sowie von Art. 3 Abs. 1 GG.
Bei der Sicherungsverwahrung in Altfällen und bei der Therapieunterbringung handele es sich hinsichtlich ihrer Voraussetzungen sowie ihrer Ausgestaltung um identische freiheitsentziehende Maßnahmen. Eine Unterscheidung gebe es – abgesehen von Verfahrensordnungen und Zuständigkeiten – allein beim erforderlichen Grad der Gefahr. Während der Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG bereits eine erhebliche Beeinträchtigung bestimmter Rechtsgüter genügen lasse, sei in Altfällen der Sicherungsverwahrung eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten zu fordern. Es sei rechtsstaatlich – insbesondere aus Gründen des Vertrauensschutzes – nicht hinnehmbar und willkürlich, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung rechtskräftig beendet worden sei und er sich nun gleichwohl in einer identischen Unterbringung befinde.
3. Das Verfahren wurde dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und dem Generalbundesanwalt mit der Gelegenheit zur Stellungnahme zugestellt. Das Ministerium hat von einer Stellungnahme abgesehen. Der Generalbundesanwalt hält die Verfassungsbeschwerde für aussichtsreich. Der Beschwerdeführer sei in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt, weil in den angegriffenen Beschlüssen das Vorliegen einer hochgradigen Gefahr schwerster Sexual- oder Gewalttaten nicht festgestellt worden sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen – insbesondere die Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung von § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11 u.a. –, juris, Rn. 69 f.) bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
a) aa) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass die Beschlüsse nicht mehr die Grundlage für eine aktuelle Unterbringung bilden. Der Beschwerdeführer hat ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung, weil die Therapieunterbringung in der Zeit vom 21. Januar 2013 bis zum 14. August 2013 aufgrund der angegriffenen Beschlüsse einen tiefgreifenden Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht beinhaltet (vgl. dazu BVerfGE 9, 89 ≪92 ff.≫; 32, 87 ≪92≫; 53, 152 ≪157 f.≫; 104, 220 ≪234≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 31. Oktober 2005 – 2 BvR 2233/04 –, juris, Rn. 20 ff.).
bb) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht deshalb unzulässig, weil der Beschwerdeführer mehrere Anlagen – darunter die angegriffenen Beschlüsse – innerhalb der am 22. Juli 2013 endenden Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für die Erhebung und Begründung der Verfassungsbeschwerde nicht vollständig vorgelegt und die fehlenden Passagen auch nicht in einer Weise wiedergegeben hat, die eine Beurteilung erlaubten, ob die angegriffenen Entscheidungen mit dem Grundgesetz im Einklang stehen. Die Verfassungsbeschwerde genügte zwar zunächst nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG an eine hinreichend substantiierte Begründung (vgl. BVerfGE 88, 40 ≪45≫; 93, 266 ≪288≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 20. Dezember 2012 – 2 BvR 659/12 –, NStZ-RR 2013, S. 115 f.). Der Beschwerdeführer hat jedoch durch eidesstattliche Versicherung und Vorlage eines Telefaxsendeberichts glaubhaft gemacht, dass eine Mitarbeiterin seines Bevollmächtigten noch am 22. Juli 2013 die fehlenden Anlagen per Telefax übersandt hat, der Sendebericht die erfolgreiche Sendung sämtlicher Anlagen auswies und sein Bevollmächtigter erst durch einen am 29. Juli 2013 eingegangenen Hinweis des Bundesverfassungsgerichts darauf aufmerksam gemacht worden ist, dass es bei der Faxübermittlung zu Fehlern gekommen war und nicht sämtliche Anlagen vollständig übermittelt worden waren. Daraufhin hat der Beschwerdeführer am 12. August 2013 die vollständigen Beschlüsse zu den Akten gereicht und einen Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 93 Abs. 2 BVerfGG gestellt. Da er ohne eigenes oder gemäß § 93 Abs. 2 Satz 6 BVerfGG zu berücksichtigendes Verschulden seines Bevollmächtigten verhindert war, die Frist einzuhalten und der Antrag gemäß § 93 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG fristgerecht gestellt wurde, ist ihm gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
b) Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. In den angegriffenen Beschlüssen ist der Entscheidung über die Fortdauer der Therapieunterbringung ein falscher Maßstab zugrunde gelegt und der Beschwerdeführer dadurch in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
Mit Beschluss vom 11. Juli 2013 hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass § 1 Absatz 1 des Therapieunterbringungsgesetzes in der Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010 (BGBl I S. 2300) mit dem Grundgesetz mit der Maßgabe vereinbar ist, dass die Unterbringung oder deren Fortdauer nur angeordnet werden darf, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11 u.a. –, juris, Rn. 70).
Die mit der Verfassungsbeschwerde angefochtenen fachgerichtlichen Beschlüsse sind mit diesen Vorgaben nicht vereinbar. Das Landgericht hat lediglich festgestellt, dass von dem Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit die Beeinträchtigung der sexuellen Selbstbestimmung anderer Personen zu erwarten ist. Das Oberlandesgericht hat sich diese Feststellung zu Eigen gemacht. Damit übertragen die Gerichte den strengen Verhältnismäßigkeitsmaßstab der hochgradigen Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten, wie ihn das Bundesverfassungsgericht für die Vertrauensschutzbelange betreffende Sicherungsverwahrung verlangt (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪399≫) und wie er in gleicher Weise für die Therapieunterbringung Geltung beansprucht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Juli 2013 – 2 BvR 2302/11 u.a. –, juris, Rn. 69 f.), nicht auf den Tatbestand des § 1 Abs. 1 ThUG. Daher genügen die Beschlüsse den Anforderungen an eine verfassungskonforme Auslegung und Anwendung des § 1 Abs. 1 ThUG nicht und verletzen den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
Dabei kommt es für die Feststellung der Grundrechtsverletzung allein auf die objektive Verfassungswidrigkeit der angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an; unerheblich ist hingegen, ob die Grundrechtsverletzung den Fachgerichten vorwerfbar ist (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪407 f.≫).
c) Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG begründet ist, bedarf es keiner Entscheidung, ob darüber hinaus weitere Grundrechte verletzt sind.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 13. Juni 2013 ist daher aufzuheben. Die Sache ist zur Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers (vgl. BVerfGE 128, 326 ≪407≫) an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen