Entscheidungsstichwort (Thema)
Verspätete Zustellung von Berufungsentscheidungen
Beteiligte
Rechtsanwälte Dr. Thomas Simons und Koll. |
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 9. September 1999 – 3 Sa 419/99 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Es wird aufgehoben.
Damit wird der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 7. Juni 2001 – 7 AZN 1057/00 – gegenstandslos.
Die Sache wird an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 20.000 DM (in Worten: zwanzigtausend Deutsche Mark) festgesetzt.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren sowie gegen die Berufungsentscheidung eines Landesarbeitsgerichts, die der Beschwerdeführerin in vollständiger Fassung erst 16 Monate nach der Verkündung zugestellt worden ist.
I.
1. Die Beschwerdeführerin, eine italienische Staatsangehörige, schloss im November 1990 mit der Beklagten des Ausgangsverfahrens, einem in Italien ansässigen Unternehmen in italienischer Rechtsform, einen Arbeitsvertrag als Angestellte über eine Tätigkeit in Turin. Zugleich vereinbarte sie mit der Beklagten für den Zeitraum von drei Jahren mit Verlängerungsmöglichkeit eine „Wartestandsregelung”, die das Arbeitsverhältnis zum Ruhen brachte, um eine Arbeitsstelle bei einem in Deutschland ansässigen Unternehmen in München anzutreten, an dem die Beklagte 21 % der Gesellschaftsanteile hält.
Die Beschwerdeführerin arbeitete mehrere Jahre bei dem Unternehmen in München und wohnte auch in Deutschland. Im November 1995 teilte die Beklagte der Beschwerdeführerin mit, dass ihre „Wartestellung” mit Ablauf des Monats Februar 1996 ende und sie ab März 1996 ihre Tätigkeit bei der Beklagten in Turin aufnehmen solle. Da die Beschwerdeführerin aus persönlichen Gründen eine Tätigkeit in Rom bevorzugte, vereinbarten die Parteien auf Wunsch der Beschwerdeführerin eine mehrfache Verlängerung der „Wartestellung” in München, zuletzt bis zum 30. Juni 1998. Schließlich forderte die Beklagte die Beschwerdeführerin auf, am 1. Juli 1998 die Tätigkeit in Turin aufzunehmen, wo die Beschwerdeführerin aber nicht erschien. Nach einer Abmahnung und einer weiteren „Disziplinarmaßnahme” kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 7. September 1998 außerordentlich fristlos.
Das Arbeitsgericht wies die Kündigungsschutzklage der Beschwerdeführerin durch unechtes Versäumnisurteil ab. Die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes sei nicht erkennbar, weil der gekündigte Arbeitsvertrag mit einer in Italien ansässigen italienischen Firma abgeschlossen worden sei und die tatsächliche Tätigkeit der Beschwerdeführerin in Deutschland auf einem anderen, eigenständigen Arbeitsvertrag beruhe, dessen Bestand nicht in Frage stehe.
2. Das Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Beschwerdeführerin durch Urteil vom 9. September 1999 zurück; die Revision ließ es nicht zu. Die zulässige Berufung sei unbegründet, weil bereits die Klage unzulässig gewesen sei. Die deutschen Arbeitsgerichte seien international nicht zuständig. Die Beschwerdeführerin habe für die Beklagte in Italien auch dort arbeiten sollen. Ihre Tätigkeit in München beruhe auf einem eigenständigen Arbeitsverhältnis mit einem anderen Unternehmen. Für das in Italien bestehende Arbeitsverhältnis würden aber die dortigen Regeln gelten. Das vollständig abgefasste Urteil des Landesarbeitsgerichts wurde den Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin mehr als 16 Monate nach der Verkündung, am 22. Januar 2001, zugestellt.
Das Bundesarbeitsgericht verwarf die auf einen Verfassungsverstoß gestützte Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin als unzulässig. Das Arbeitsgerichtsgesetz kenne keine Verfahrensbeschwerde, wie sie die Beschwerdeführerin mit der Geltendmachung eines Verfassungsverstoßes betreibe. Der Beschluss des Bundesarbeitsgerichts wurde der Beschwerdeführerin nicht vor dem 19. Juni 2001 zugestellt.
II.
Mit ihrer am 10. Mai 2001 eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) durch das Urteil des Landesarbeitsgerichts. Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 – 1 BvR 383/00 – (NZA 2001, S. 982).
Mit einem am 23. Juni 2001 eingegangenen Schreiben erweitert die Beschwerdeführerin ihre Verfassungsbeschwerde auf den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts über die Zurückweisung ihrer Nichtzulassungsbeschwerde. Auch dieser Beschluss verletze sie in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Bei einer derart eklatanten Grundrechtsverletzung, wie sie das Landesarbeitsgericht begangen habe, sei das Revisionsgericht verpflichtet, die Revision zuzulassen.
III.
Zur Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen sowie das Bundesarbeitsgericht Stellung genommen.
Das Bundesministerium hat mitgeteilt, dass es derzeit die Regelungen der Revisionszulassung im Arbeitsgerichtsgesetz (§§ 72, 72 a ArbGG) überprüfe. Es bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Es werde überlegt, zumindest in gewissem Umfang auch bei Vorliegen von Verfahrensfehlern sowie bei Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung, bei denen es sich nicht um tarifvertrags- oder koalitionsrechtliche Streitigkeiten handele, eine Zulassung der Revision zu ermöglichen. Die Gesetzesänderung müsse sowohl den Interessen der Recht suchenden Bürger gerecht werden als auch eine zu starke Belastung des Bundesarbeitsgerichts als Revisionsinstanz vermeiden. Allerdings werde das Vorhaben wegen seiner Bedeutung und Komplexität in der laufenden Legislaturperiode voraussichtlich nicht mehr abgeschlossen.
Das Bayerische Staatsministerium hat sich dahin geäußert, dass alleiniger Grund für die verspätete Zustellung des Urteils des Landesarbeitsgerichts der Gesundheitszustand des Kammervorsitzenden gewesen sei. Die Verzögerung werde außerordentlich bedauert.
Der Neunte und der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts haben darauf hingewiesen, dass das Bundesarbeitsgericht im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren bei Verstößen gegen Verfahrensgrundrechte nicht abhelfen könne (vgl. BAG, Beschluss vom 26. Juni 2001 – 9 AZN 132/01 –; NZA 2001, S. 1036).
Entscheidungsgründe
B.
I.
Die Kammer nimmt gemäß § 93 b BVerfGG die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist nach Maßgabe der Gründe stattzugeben. Die für die Beurteilung wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich des Urteils des Landesarbeitsgerichts zulässig und begründet.
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bereits entschieden.
Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 ≪25 f.≫; 69, 381 ≪385≫). Gleichzeitig gebietet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und zur Herstellung von Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 60, 253 ≪269≫; 88, 118 ≪124≫).
2. Nach diesem Maßstab verletzt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).
Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung, in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach Verkündung unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind, kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Ein Landesarbeitsgericht, das ein Urteil in vollständiger Fassung erst so spät absetzt, erschwert damit für die unterlegene Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise.
Wegen der weiteren Begründung wird verwiesen auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. März 2001 – 1 BvR 383/00 –, AP Nr. 33 zu Art. 20 GG = NZA 2001, S. 982.
II.
Die angegriffene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und die Sache – zur Vermeidung weiterer Verzögerungen – an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückzuverweisen.
Die ebenfalls angegriffene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wird damit gegenstandslos, sodass es keines weiteren Eingehens auf die insoweit erhobenen Rügen bedarf.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten, weil sich die Verfassungsbeschwerde als begründet erwiesen hat (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
Unterschriften
Jaeger, Hömig, Bryde
Fundstellen