Verfahrensgang
OLG Oldenburg (Oldenburg) (Beschluss vom 15.04.2008; Aktenzeichen 4 WF 87/08) |
Tenor
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 15. April 2008 – 4 WF 87/08 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Oldenburg zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Streitwertfestsetzung in einer Ehesache, in der beiden Parteien Prozesskostenhilfe bewilligt wurde.
1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt. In einem Ehescheidungsverfahren, in dem beiden Parteien Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt worden war, wurde er dem Ehemann beigeordnet.
2. Ausgehend vom monatlichen Nettogehalt der Parteien des Scheidungsverfahrens in Höhe von insgesamt 2.940 EUR setzte das Amtsgericht den Streitwert für die – einverständliche – Ehescheidung gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes (GKG) auf 8.820 EUR fest. Gegen diese Wertfestsetzung erhob der Bezirksrevisor namens der Landeskasse mit der Begründung Beschwerde, unter Berücksichtigung von Umfang und Bedeutung der Sache sei der Streitwert auf lediglich 2.000 EUR festzusetzen.
In dem hierauf ergangenen Nichtabhilfebeschluss führte das Amtsgericht aus, gemäß § 48 GKG sei das dreifache monatliche Nettoeinkommen der Eheleute Ausgangspunkt für die Wertbemessung. Der Umstand, dass es sich vorliegend um eine einfach gelagerte, einverständliche Scheidung gehandelt habe, erlaube keinen generellen Wertabschlag, weil Scheidungen im Regelfall einvernehmlich erfolgten. Die tatsächliche und rechtliche Bedeutung einer Ehescheidung sei grundsätzlich erheblich. Aus verfassungsrechtlichen Gründen dürfe die Bewilligung von Prozesskostenhilfe keinen Einfluss auf die Bemessung des Streitwerts haben.
Das Oberlandesgericht änderte die Festsetzung des Streitwerts für das Ehescheidungsverfahren auf 2.000 EUR ab. Auch nach der neueren verfassungsrechtlichen Rechtsprechung halte der Senat an seiner ständigen Rechtsprechung fest, wonach der Streitwert in einfach gelagerten Scheidungsverfahren auf 2.000 EUR festzusetzen sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begegne es keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, neben den Vermögensverhältnissen alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere auch den Umfang der Sache zu berücksichtigen. Daran gemessen handele es sich vorliegend um eine denkbar einfach gelagerte Ehesache. Für eine „Erhöhung” des Streitwerts für die Scheidungssache bestehe auch nicht wegen des im Vermögen der Parteien vorhandenen Hausgrundstücks Veranlassung, weil das Haus hoch belastet sei. Der Umstand, dass beiden Parteien Prozesskostenhilfe gewährt worden sei, habe bei der Streitwertfestsetzung keine Rolle gespielt.
3. Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung des Art. 12 Abs. 1 und des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot.
Das Oberlandesgericht habe bei seiner Entscheidung die für die Festsetzung des Streitwerts maßgeblichen Normen nicht im Lichte der durch Art. 12 Abs. 1 GG garantierten Berufsfreiheit ausgelegt. Insbesondere werde das Oberlandesgericht dem Gebot der Einzelfallbetrachtung nicht gerecht; die Einkommens- und Vermögenssituation der Eheleute, der gemäß § 48 Abs. 2 und 3 GKG erhebliches Gewicht zukomme, sei bei der Streitwertfestsetzung nicht berücksichtigt worden. Der Umstand, dass die vorliegende Scheidung einvernehmlich erfolgt sei, könne nicht als Argument für eine Herabsetzung des Streitwerts herangezogen werden.
Die angegriffene Entscheidung verletze auch das allgemeine Willkürverbot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG, weil das Oberlandesgericht den Streitwert für die Ehescheidung unter bloßer Berufung auf seine ständige Rechtsprechung auf den gesetzlichen Mindestwert festgesetzt habe, ohne die vom Gesetz geforderte Einzelfallbetrachtung unter Berücksichtigung aller Umstände – insbesondere der Einkommensverhältnisse der Parteien des Scheidungsverfahrens – vorzunehmen. Die Rechtsanwendung durch das Oberlandesgericht sei mit der Gesetzeslage nicht vereinbar, unter keinem denkbaren Aspekt vertretbar und damit willkürlich.
4. Das Niedersächsische Justizministerium und die Parteien des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪13 f.≫; 96, 189 ≪203≫). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
1. Die Streitwertfestsetzung durch das Oberlandesgericht verletzt das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Willkürverbot.
Willkürlich ist ein Richterspruch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Schuldhaftes Handeln des Richters ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt, der Inhalt einer Norm in krasser Weise missverstanden oder sonst in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird (vgl. BVerfGE 89, 1 ≪13 f.≫; 96, 189 ≪203≫).
Dies ist vorliegend der Fall. Zwar geht das Oberlandesgericht mit dem Gesetzeswortlaut zunächst formal davon aus, dass bei der Streitwertfestsetzung nach § 48 Abs. 2 Satz 1 GKG neben den Vermögensverhältnissen alle Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Umfang und die Bedeutung der Sache bei der Bestimmung des Streitwerts zu berücksichtigen sind. Grundsätzlich bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen ein Abweichen vom einzusetzenden dreifachen Monatsnettoeinkommen, wenn der Streitwert für eine einverständliche Scheidung (§ 630 der Zivilprozessordnung ≪ZPO≫) mit deswegen geringem Umfang festzusetzen ist. Insbesondere ist es aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden, wenn unter Abwägung aller Umstände mit vertretbarer Begründung angenommen wird, dass eine Festsetzung des Streitwerts auf das dreifache monatliche Nettoeinkommen im konkreten Fall nicht berechtigt ist; der Streitwertbemessung darf es jedoch nicht an einer nachvollziehbaren Grundlage fehlen.
Daran gemessen ist die angegriffene Entscheidung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar und damit willkürlich. Bereits der Ausgangspunkt des Oberlandesgerichts, den Streitwert für Ehesachen in einfach gelagerten Fällen grundsätzlich auf den Mindeststreitwert festzusetzen, begegnet erheblichen Bedenken, weil es sich bei dem in § 48 Abs. 3 Satz 2 GKG vorgesehenen Mindestwert gerade nicht um einen Regelstreitwert handelt. Der Streitwert muss vielmehr gemäß § 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 GKG unter Berücksichtigung aller und nicht nur einer der dort genannten Umstände bestimmt und auf mindestens 2.000 EUR festgesetzt werden. Insbesondere ist jedoch die konkrete Argumentation des Oberlandesgerichts zur Streitwertbemessung nicht nachvollziehbar und unter keinem denkbaren Aspekt vertretbar. Das Oberlandesgericht begründet die Festsetzung auf den Mindeststreitwert im Wesentlichen mit dem geringen Umfang des Verfahrens; die Einkommensverhältnisse der Parteien des Scheidungsverfahrens werden hingegen entgegen den Vorgaben des § 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 GKG nicht konkret berücksichtigt. Trotz der bereits in den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 2007 (1 BvR 1678/07) und vom 11. Dezember 2007 (1 BvR 3032/07) zum Ausdruck gekommenen verfassungsrechtlichen Bedenken an der Argumentation des Oberlandesgerichts wird nicht nachvollziehbar erläutert, warum unter Berücksichtigung des Einkommens der Parteien des Scheidungsverfahrens, das sich bei Ansatz des gemäß § 48 Abs. 3 Satz 1 GKG maßgeblichen Dreimonatsbetrags auf immerhin 8.820 EUR beläuft, die Festsetzung des Mindeststreitwerts von nur 2.000 EUR angemessen oder auch nur vertretbar sein könnte. Die Argumentation des Oberlandesgerichts, es habe sich um ein einfaches, wenig arbeitsintensives Scheidungsverfahren gehandelt, vermag die erhebliche Differenz von dreifachem Nettomonatseinkommen zu festgesetztem Streitwert in Höhe von 6.820 EUR nicht nachvollziehbar zu begründen. Es ist mit der gesetzlichen Regelung schlechthin unvereinbar, Vermögens- und Einkommensverhältnisse der Parteien bei der Streitwertfestsetzung deshalb völlig außer Betracht zu lassen, weil diese nur durchschnittliche Beträge erreichen.
Zu erklären wäre die Festsetzung eines Streitwerts von lediglich 2.000 EUR im vorliegenden Fall nur dann, wenn der Umstand der Prozesskostenhilfebewilligung eine maßgebliche Rolle gespielt hätte. Dies ist jedoch ausweislich der Gründe der angegriffenen Entscheidung nicht der Fall. Eine Berücksichtigung der Prozesskostenhilfebewilligung bei der Streitwertfestsetzung wäre auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unzulässig, weil eine solche Auslegung der gesetzlichen Regeln zur Streitwertberechnung (§ 48 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 und 2 GKG) in Verbindung mit den Vorschriften über die Maßgeblichkeit des festgesetzten Streitwerts für die Höhe der Vergütung von Rechtsanwälten (§ 32 Abs. 1 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ≪Rechtsanwaltsvergütungsgesetz – RVG≫) zu einer im Ergebnis willkürlichen, unverhältnismäßigen Beschränkung der Berufsfreiheit des Beschwerdeführers führen würde (vgl. BVerfGK 6, 130 ≪132 ff.≫). Hiernach begründet die Berücksichtigung der Prozesskostenhilfebewilligung bei der Streitwertfestsetzung eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG, weil dem legitimen Ziel der Schonung öffentlicher Kassen bereits durch die Reduzierung der Vergütungssätze der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwälte in § 45 Abs. 1, § 49 RVG umfassend Rechnung getragen wurde (vgl. BVerfGK 6, 130 ≪132 ff.≫).
2. Nachdem die angegriffene Entscheidung jedenfalls das Willkürverbot gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, kann offen bleiben, ob daneben auch eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG gegeben ist.
3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts ist hiernach gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, ohne dass es noch auf die weiter erhobene Rüge ankommt. Die Sache selbst ist an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Hohmann-Dennhardt, Gaier, Kirchhof
Fundstellen
FamRZ 2009, 491 |
FF 2009, 176 |
RVGreport 2009, 196 |