Verfahrensgang
LG Wuppertal (Beschluss vom 15.10.2006; Aktenzeichen 23 Qs 366/06) |
AG Remscheid (Beschluss vom 13.09.2006; Aktenzeichen 10 Gs 85/06) |
Tenor
1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Remscheid vom 13. September 2006 – 10 Gs 85/06 – und des Landgerichts Wuppertal vom 15. Oktober 2006 – 23 Qs 366/06 – verletzen die Rechte des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Remscheid zurückverwiesen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Körperzellenentnahme und der molekulargenetischen Untersuchung bei einem Jugendlichen zum Zwecke der Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters nach § 81g StPO vor dem Hintergrund des in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
A.
I.
Das Amtsgericht hatte den am 11. Januar 1990 geborenen Beschwerdeführer wegen gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB zu zwei Freizeitarresten verurteilt und ihm aufgegeben, 100 Stunden für gemeinnützige Zwecke zu arbeiten. Den der Verurteilung zugrunde liegenden Sachverhalt schilderte das Gericht wie folgt:
“Am 16.09.2005 gegen 13.45 Uhr schlug der anderweitig Verfolgte A… auf dem Schulgelände der Sophie-Scholl-Gesamtschule in Remscheid den Zeugen F… ins Gesicht und schubste ihn, so dass er zu Boden fiel. Den am Boden liegenden Zeugen trat der Angeklagte S… mit dem beschuhten Fuß, so dass dieser jedenfalls eine schmerzhafte Prellung erlitt.”
Im Rahmen der Festsetzung der Rechtsfolgen führte das Jugendgericht weiter wörtlich aus:
“Die Angeklagten mögen das alles für eine jugendtümliche und nicht sonderlich schwerwiegende Tat gehalten haben, gleichwohl ist das Gericht der Meinung, dass hier mittels zweier Freizeitarreste für Ü… und S…, die sich einer Körperverletzung schuldig gemacht haben, und einer nicht unempfindlichen Arbeitsauflage von jeweils 100 Stunden nachhaltig darauf hingewiesen werden müssen, dass auf diese Weise keine Auseinandersetzungen zu führen sind … Die Angeklagten haben nunmehr erstmalig mit dem Gericht Bekanntschaft gemacht. Dies sollte auch das letzte Mal sein. Wenn sie mit vergleichbaren Straftaten in absehbarer Zeit erneut in Erscheinung treten sollten, können sie sich mindestens auf einen längeren Dauerarrest gefasst machen.”
Der Beschwerdeführer, der strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten war, hat die Freizeitarreste verbüßt und die Arbeitsstunden ohne Verzögerung geleistet.
1. Am 5. September 2006 beantragte die Staatsanwaltschaft die Anordnung der Körperzellenentnahme und der molekulargenetischen Untersuchung zum Zwecke der Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters des Beschwerdeführers nach § 2 DNA-IfG in Verbindung mit § 81g StPO. Das Amtsgericht erließ am 13. September 2006 antragsgemäß einen entsprechenden Beschluss. Zur Begründung verwies es auf die Verurteilung vom 16. August 2006 wegen gefährlicher Köperverletzung, die den nach § 81g StPO erforderlichen Tatverdacht begründe. Aufgrund der Persönlichkeit des Verurteilten und seiner strafrechtlichen Vorbelastungen bestehe Grund zu der Annahme, dass gegen ihn auch zukünftig Strafverfahren wegen einschlägiger oder anderer schwerwiegender Straftaten zu führen sein werden. Die Wiederholungsprognose setze nicht die überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Ausführung solcher Straftaten durch den Verurteilten voraus. Es reiche vielmehr, dass der dem Urteil zugrunde liegende festgestellte Sachverhalt nach kriminalistischer Erfahrung und der Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles, insbesondere Art und Ausführung der festgestellten Tat und der Persönlichkeit des Verurteilten, Anhaltspunkte dafür biete, den Verurteilten hinsichtlich aufzuklärender oder zukünftig in Betracht kommender strafbarer Handlungen der vorgenannten Art in den Kreis möglicher Täter einzubeziehen. Das Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung könne den Verurteilten im Rahmen der dann zu führenden Ermittlungen schließlich überführen oder auch entlasten. Diese Voraussetzungen seien vorliegend aufgrund der Urteilsfeststellungen gegeben.
2. Anlässlich seiner Beschwerde gegen die Entscheidung des Amtsgerichts verwies der Beschwerdeführer auf verfassungsrechtliche Anforderungen an “DNA-Beschlüsse” sowie darauf, dass er strafrechtlich – entgegen der Annahme des Amtsgerichts in seinem Beschluss – noch nicht in Erscheinung getreten sei. Das Landgericht verwarf die Beschwerde am 15. Oktober 2006 aus den “zutreffenden Gründen” des angefochtenen Beschlusses. Das Beschwerdevorbringen und die erneute Überprüfung des Sachverhalts rechtfertigten keine andere Entscheidung. Insbesondere handele es sich bei der abgeurteilten gefährlichen Körperverletzung durch einen Tritt mit dem beschuhten Fuß auf den am Boden liegenden, zuvor von dem anderweitig verfolgten A… in das Gesicht geschlagenen und zu Boden geschubsten Geschädigten um eine Straftat von erheblicher Bedeutung. Der Verurteilte zeichne sich durch eine brutale Vorgehensweise aus.
II.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
Amts- und Landgericht hätten die Erheblichkeit der Straftat im Sinne von § 81g StPO nicht konkret geprüft. Es handle sich bei der Tat des jugendlichen, noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getretenen Beschwerdeführers um keine Straftat, die mindestens im Bereich der mittleren Kriminalität anzusiedeln sei, sondern um eine “Schulhofkeilerei”, als deren Folge beim Geschädigten nicht mehr als eine “schmerzhafte Prellung” festzustellen gewesen sei. Über die fehlerhafte Annahme der Erheblichkeit der Tat hinaus hätten die Gerichte bei der Prüfung der so genannten Negativprognose auch nicht die vom Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen zu § 81g StPO als erforderlich erachtete Sorgfalt walten lassen. Dies beweise schon die unzutreffende Annahme des Amtsgerichts, der Beschuldigte sei strafrechtlich vorbelastet. Das Amtsgericht hätte dies unschwer der Anklage der Staatsanwaltschaft und dem Urteil entnehmen können, wenn es die Strafakte beigezogen hätte. Der Fehler deute darauf hin, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Das Landgericht habe diese mangelhafte Begründung aufrechterhalten, indem es auf die “zutreffenden Gründe” des amtsgerichtlichen Beschlusses verwiesen habe.
Die Ausführungen des Landgerichts zur “brutalen Vorgehensweise” anlässlich der Tat entsprächen im Übrigen nicht den Tatsachen. Der Beschuldigte sei nicht nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB, sondern unter Anwendung von § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB verurteilt worden. Es handle sich mithin nicht um eine gefährliche Körperverletzung aufgrund des vom Landgericht angeführten “Tritts mit dem beschuhten Fuß”, sondern wegen der vom Tatgericht angenommenen gemeinschaftlichen Begehung. Die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Umstände – dieser habe sich beim Geschädigten entschuldigt, seine Verfehlung vor Gericht uneingeschränkt eingeräumt, das Urteil durch Rechtsmittelverzicht akzeptiert und sich mit seinem Fehlverhalten auseinandergesetzt – fänden keinen Niederschlag im Beschluss des Landgerichts. Ausführungen zur Negativprognose lasse dieser gänzlich vermissen.
2. a) Die Bundesregierung und das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen haben von einer Stellungnahme abgesehen.
b) Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat ebenfalls keine Stellungnahme abgegeben.
c) Die Generalbundesanwältin beim Bundesgerichtshof ist der Ansicht, dass die Maßnahme auf einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage angeordnet worden sei. Dabei sei die Erstellung und Speicherung eines DNA-Identifizierungsmusters auch gegen einen Jugendlichen zulässig. Ob die Tatgerichte bei der Anordnung die sich aus den einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergebenden Grundsätze beachtet hätten, sei ohne Kenntnis der Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und zu den näheren Umständen der Tat nicht abschließend zu beurteilen.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b, § 93a Abs. 1 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit sie sich gegen die Anwendung und Auslegung von § 81g StPO durch die Fachgerichte wendet, und sie ist – in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer begründenden Weise – auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Gerichte des Ausgangsverfahrens haben bei der Anwendung von § 81g StPO Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 65, 1 ≪41 ff.≫) verkannt.
I.
Die Feststellung, Speicherung und (künftige) Verwendung des DNA-Identifizierungsmusters greift in das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein. Dieses Recht gewährleistet die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfGE 65, 1 ≪41 ff.≫; 78, 77 ≪84≫). Diese Verbürgung darf nur in überwiegendem Interesse der Allgemeinheit und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden; die Einschränkung darf nicht weiter gehen als es zum Schutz des öffentlichen Interesses unerlässlich ist.
Dem Schrankenvorbehalt für Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trägt die gesetzliche Regelung des § 81g StPO Rechnung (vgl. BVerfGE 103, 21 ff. noch zu § 2 DNA-IfG i.V.m. § 81g StPO). Die Gerichte sind allerdings bei Anwendung und Auslegung des § 81g StPO gehalten, Bedeutung und Trageweite des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, in das die Feststellung, Speicherung und Verwendung des DNA-Identifizierungsmusters eingreifen, hinreichend zu berücksichtigen. Notwendig für die Anordnung der Maßnahme nach § 81g Abs. 4 StPO, die als Anlass eine Straftat von erheblicher Bedeutung beziehungsweise eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung voraussetzt, ist, dass wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Die Prognoseentscheidung setzt von Verfassungs wegen voraus, dass ihr eine zureichende Sachaufklärung (vgl. BVerfGE 70, 297 ≪309≫), insbesondere durch Beiziehung der verfügbaren Straf- und Vollstreckungsakten, des Bewährungsheftes und zeitnaher Auskünfte aus dem Bundeszentralregister vorausgegangen ist und die für sie bedeutsamen Umstände nachvollziehbar abgewogen werden. Dabei ist eine auf den Einzelfall bezogene Entscheidung, die auf schlüssigen, verwertbaren und in der Entscheidung nachvollziehbar dokumentierten Tatsachen beruht und die richterliche Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung belegt, erforderlich; die bloße Bezugnahme auf den Gesetzeswortlaut reicht nicht aus (vgl. nur BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2000 – 2 BvR 1741/99 u.a. –, BVerfGE 103, 21 ≪36 f.≫; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Februar 2006 – 2 BvR 561/03 –).
II.
Diesem Maßstab genügen die fachgerichtlichen Entscheidungen nicht.
1. Es ist schon zweifelhaft, ob die Annahme einer Straftat von erheblicher Bedeutung – auch mit der vom Landgericht gegebenen Begründung – verfassungsrechtlicher Nachprüfung Stand hält. Der Beschwerdeführer ist wegen einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB zu zwei Freizeitarresten verurteilt worden; zusätzlich wurde ihm aufgegeben, hundert Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. Schon die am unteren Rand des Sanktionenspektrums liegende Rechtsfolge weckt Zweifel, ob es sich tatsächlich – wie erforderlich – um eine Straftat aus dem Bereich der mittleren Kriminalität handelt. Diese Zweifel werden noch verstärkt, wenn man den Anlass der Straftat – offenbar eine Streitigkeit zwischen Jugendlichen auf dem Schulhof – und die im Ergebnis wenig weitreichenden Folgen, eine schmerzhafte Prellung, berücksichtigt. Dem gegenüber gewinnen die vom Landgericht erwähnten Umstände, das Treten mit dem beschuhten Fuß, das nicht zu einer Verurteilung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB geführt hat, und eine “brutale Vorgehensweise” des Beschwerdeführers, die in den knappen Urteilsgründen der Anlassverurteilungen keine tatsächliche Grundlage findet, keine Bedeutung. Letztendlich kann aber dahinstehen, ob die Annahme einer Straftat von erheblicher Bedeutung bereits Verfassungsrecht verletzt, weil jedenfalls die Negativprognose der Fachgerichte verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht Stand hält.
2. Die Beschlüsse von Amtsgericht und Landgericht entsprechen nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, welche an die Begründung der Gefahr neuer erheblicher Straftaten zu stellen sind. Sowohl der Prognosemaßstab wie auch die konkrete Begründung einer von dem Beschwerdeführer ausgehenden Wiederholungsgefahr begegnen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.
a) Das Amts- wie auch das Landgericht, das insoweit allein auf die “zutreffenden Gründe” der Ausgangsentscheidung verweist, wollen es im Rahmen der Prognoseentscheidung genügen lassen, dass der Beschwerdeführer wegen einer in § 81g Abs. 1 StPO genannten Straftaten in den Kreis der Verdächtigen einbezogen werden könnte. Dieser Maßstab wird – wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 15. März 2001 – 2 BvR 1841/00 u.a. –, NJW 2001, S. 2320 ≪2321≫) – der Bedeutung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht gerecht. Ein Verurteilter kann nach § 81g Abs. 4 in Verbindung mit § 81g Abs. 1 StPO nur in Anspruch genommen werden, wenn er in seiner Person genügenden Anlass für die Annahme bietet, das es zu künftigen Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung kommen wird, nicht dagegen schon dann, wenn er in Strafverfahren verwickelt wird, ohne dass eine Wahrscheinlichkeit für die Begehung von Straftaten durch ihn besteht. Die Inanspruchnahme einer Person, die voraussichtlich keine Straftaten begehen wird, wird im Übrigen auch dadurch nicht gerechtfertigt, dass die Feststellung und Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters gegebenenfalls als Entlastungsbeweis dienen könnte.
b) Die auf der Grundlage dieses verfassungsrechtlich bedenklichen Maßstabs angeführte Begründung für die Negativprognose zeigt, dass die Gerichte weder die von Verfassungs wegen geforderte Sachverhaltsaufklärung vorgenommen noch sämtliche für den notwendigen Abwägungsvorgang bedeutsamen Umstände in ihre Überlegungen einbezogen haben.
aa) Die Annahme “strafrechtlicher Vorbelastungen”, die an sich einen wichtigen Gesichtspunkt bei der Negativprognose darstellen könnten, geht fehlt. Der Beschwerdeführer ist strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten. Die Berücksichtigung einer nicht vorliegenden Verurteilung zu Lasten des Beschwerdeführers belegt eine nachlässig fehlerhafte Sachaufklärung, die der gebotenen sorgfältigen Vorgehensweise im Rahmen einer Entscheidung nach § 81g StPO nicht gerecht wird. Im Übrigen lässt auch die amtsgerichtliche Bestimmung der Rechtsgrundlage der angeordneten Maßnahme keinen Zweifel an der Annahme mangelnder oder fehlerhafter Aufklärung der für die Entscheidung maßgeblichen sachlichen und rechtlichen Umstände zu: Die im angefochtenen Beschluss genannten §§ 2, 3 Identitätsfeststellungsgesetz (DNA-IfG) waren mit Ablauf des 31. Oktober 2005 außer Kraft getreten und hätten nicht mehr als Rechtsgrundlage herangezogen werden dürfen.
bb) Weder die amts- noch die landgerichtliche Entscheidung lassen eine Abwägung der für die erforderliche Negativprognose erheblichen Umstände erkennen. Der formelhafte Hinweis des Amtsgerichts auf die Persönlichkeit des Beschwerdeführers und seine strafrechtlichen Vorbelastungen kann die von Verfassungs wegen gebotene auf den Einzelfall bezogene und auf schlüssigen und nachvollziehbar dokumentierten Tatsachen beruhende Entscheidung nicht ersetzen. Auffallend ist nicht nur, dass es an einer Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Jugendrichters in seiner Rechtsfolgeentscheidung fehlt, in der deutlich zum Ausdruck kommt, dass dieser jedenfalls nicht von der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Tatbegehung ausgeht. Von Bedeutung ist vor allem, dass die besonderen Umstände der Jugendlichkeit des Beschwerdeführers und der Art des von ihm begangenen jugendtypischen Delikts ohne jede Berücksichtigung bleiben. Eine erkennbare Beachtung dieser Faktoren wäre aber erforderlich gewesen, da sie geeignet sind, maßgeblich die Prognoseentscheidung zu beeinflussen.
(1) § 81g StPO gelangt im Hinblick auf den zum Tatzeitpunkt 15-jährigen Beschwerdeführer über § 2 JGG zur Anwendung. Jugendliche im pubertären Alter unterliegen anlässlich des natürlichen Selbstfindungsprozesses erheblichen Integrations- und Anpassungskonflikten. Dies drückt sich vielfach in Verhaltsunsicherheit und gesteigerten Abweichungspotenzial aus (vgl. Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 51 Rn. 2 m.w.N.). Ihre Verhaltensunsicherheit kann zur Unfähigkeit führen, Aggressionen und Bedürfnissen sozialadäquat Ausdruck zu verleihen. Die Ausübung körperlicher Gewalt wird oft zur einzigen Möglichkeit, diese zu artikulieren. Sie lässt sich zudem als Mittel deuten, dem jugendlichen Streben nach Anerkennung und Selbstbehauptung – zumindest physisch – gerecht zu werden. Körperverletzungsdelikte können mithin als “jugendtypisch” beschrieben werden (dazu siehe Schwind, Kriminologie, 11. Aufl. 2001, § 28 Rn. 20). Schließlich ist das subjektive Bedürfnis nach Anbindung an eine Gruppe – im Vergleich zu Erwachsenen – bei Jugendlichen gesteigert. Zugleich verringern sich in der Gruppe Hemmungen gegenüber delinquentem Verhalten und Verantwortungsgefühl gegenüber Dritten. Die Begehung einer Straftat unterliegt vermehrt dem Einfluss gruppendynamischer Prozesse (dazu siehe nur Brunner/Dölling, Jugendgerichtsgesetz, 11. Aufl. 2002, Einführung I, Rn. 37). All das führt dazu, dass jugendliche Delinquenz typischerweise vorübergehend ist. Die Mehrzahl jugendlicher Täter tritt lediglich einmal strafrechtlich in Erscheinung (vgl. Brunner/Dölling, a.a.O., Einführung I, Rn. 13).
Diese allgemein in der Jugendlichkeit eines Täters begründeten Umstände hätten sowohl im Hinblick auf die Beurteilung der Tat als auch der Persönlichkeit des Beschwerdeführers erkennbar in die Prognoseentscheidung der Gerichte einfließen müssen. Die Möglichkeit lediglich passageren delinquenten Verhaltens liegt beim Beschwerdeführer als Ersttäter nahe. Es handelt sich – soweit ersichtlich – bei der von ihm begangenen Tat um eine Auseinandersetzung im schulischen Bereich, der das Verhalten eines weiteren Angehörigen der Gruppe um den Beschwerdeführer vorausgegangen ist. Sie mündete in ein jugendtypisches Delikt einer Körperverletzung, die ohne weit reichende oder bleibende Folgen geblieben ist. Mit diesen Prognosefaktoren hätten sich die Gerichte in Beantwortung der Frage, ob es sich bei der Tat des Beschwerdeführers – prognostisch gesehen – nicht um eine einmalige Verfehlung gehandelt haben könnte, genauso wie mit seinem Nachtatverhalten auseinander setzen müssen.
Das Verhalten nach der Tat ist aus erzieherischer Sicht von besonderer Bedeutung (vgl. Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 7. Aufl. 2007, § 5 Rn. 13) und für die Prognoseentscheidung des § 81g StPO im Hinblick auf die zu erwartende persönliche Entwicklung des Jugendlichen von Relevanz. Ob die Gerichte das Geständnis des Beschwerdeführers, seine Entschuldigung gegenüber dem Geschädigten, seinen für Einsicht in das eigene Fehlverhalten sprechenden Rechtsmittelverzicht und die sofortige Erfüllung der Auflagen bei ihrer Entscheidung berücksichtigt haben, ist nicht ersichtlich.
(2) Schließlich lassen die angegriffenen Entscheidungen auch nicht erkennen, ob die möglichen Auswirkungen der Anordnung einer Erfassung und Speicherung von Genmerkmalen auf die weitere Entwicklung des jugendlichen Beschwerdeführers Gegenstand der den Gerichten obliegenden Abwägung war. Dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts wohnt das Verfassungsrang beanspruchende Ziel möglichst weitgehender sozialer Integration (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1673/04 –, NJW 2006, S. 2093 ≪2095≫) inne. Die Einwirkung exekutiver Maßnahmen auf Jugendliche ist aufgrund derer noch andauernden Labilität sowie ihrer erhöhten subjektiven “Eindrucksfähigkeit” gravierender als auf Erwachsene. Abhängig von den konkreten Umständen kann durch die dauerhafte Speicherung eines unverwechselbaren Erkennungsmerkmals eines Jugendlichen eine “Brandmarkung” drohen, welche als determinierendes Element die Möglichkeit andauernder Straffreiheit als Grundvoraussetzung sozialer Integration einschränken kann (vgl. Eisenberg, Jugendgerichtsgesetz, 11. Aufl. 2006, § 2 Rn. 6).
III.
Die Entscheidungen des Amts- und des Landgerichts sind gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben. Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
Gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG hat das Land Nordrhein-Westfalen die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers zu tragen.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 1815343 |
NJW 2008, 281 |
JA 2008, 394 |
NStZ-RR 2008, 215 |
Kriminalistik 2008, 97 |
NJW-Spezial 2007, 585 |
NPA 2009 |
StRR 2008, 19 |
StV 2009, 80 |
StraFo 2007, 503 |