Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht
Tenor
Die Vorlage ist unzulässig.
Tatbestand
A.
Die Vorlage betrifft die Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 WPflG) und der Strafbarkeit der Dienstflucht (§ 53 Abs. 1 ZDG).
I.
§ 1 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 Satz 1 des Wehrpflichtgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1995 (BGBl I S. 1756) lauten:
§ 1 Allgemeine Wehrpflicht
(1) Wehrpflichtig sind alle Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an, die Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind und
- ihren ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben oder
ihren ständigen Aufenthalt außerhalb der Bundesrepublik Deutschland haben und entweder
- ihren früheren ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatten oder
- einen Pass oder eine Staatsangehörigkeitsurkunde der Bundesrepublik Deutschland besitzen oder sich auf andere Weise ihrem Schutz unterstellt haben.
§ 3 Inhalt und Dauer der Wehrpflicht
(1) Die Wehrpflicht wird durch den Wehrdienst oder im Falle des § 1 des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes vom 28. Februar 1983 (BGBl I S. 203) durch den Zivildienst erfüllt. … § 53 Abs. 1 des Zivildienstgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. September 1994 (BGBl I S. 2811) hat folgenden Wortlaut:
§ 53 Dienstflucht
(1) Wer eigenmächtig den Zivildienst verlässt oder ihm fernbleibt, um sich der Verpflichtung zum Zivildienst dauernd oder für den Verteidigungsfall zu entziehen oder die Beendigung des Zivildienstverhältnisses zu erreichen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
II.
1. Der Angeklagte im Ausgangsverfahren wurde im Jahre 1969 in der DDR geboren und noch von der Nationalen Volksarmee als tauglich gemustert. Im September 1989 erklärte er schriftlich gegenüber dem Wehrkreiskommando Potsdam, er lehne die Anwendung von Waffen und militärischer Gewalt aus Glaubens- und Gewissensgründen ab und wolle seinen Wehrdienst in den „Baueinheiten” ableisten. Aufgrund dieser Erklärung galt er nach der Wiedervereinigung gemäß einer Verfügung des Bundesministers für Frauen und Jugend vom 26. Juni 1991 als anerkannter Kriegsdienstverweigerer.
Nach Ankündigung seiner Heranziehung zum Zivildienst erklärte der Angeklagte dem Bundesamt für den Zivildienst mit Schreiben vom 22. Januar 1992, er sei ein „erklärter, ungesetzlicher Totalverweigerer”. Das Bundesamt wertete dieses Schreiben als „Antrag auf Nichtheranziehung zum Zivildienst”, den es durch Bescheid vom 26. Februar 1993 ablehnte. Durch Bescheid vom 26. März 1993 wurde der Angeklagte zur Ableistung des Zivildienstes ab 1. September 1993 (Dienstende: 30. November 1994) einberufen. Beide Bescheide wurden unanfechtbar. Seinen Dienst trat der Angeklagte nicht an.
Das Amtsgericht Potsdam verurteilte ihn am 29. Mai 1998 wegen Dienstflucht nach § 53 ZDG zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 30,– DM. Gegen das Urteil legte er Berufung ein.
2. Das Landgericht Potsdam hat die Aussetzung des Verfahrens und die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung der Frage beschlossen, ob § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 WPflG und § 53 ZDG mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Kammer sei davon überzeugt, dass die allgemeine Wehrpflicht und die zu ihrer zwangsweisen Durchsetzung geschaffenen Strafnormen jedenfalls unter den veränderten politischen Bedingungen nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar seien.
a) Die Tatsache, dass sich das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht befasst habe, stehe einer erneuten Vorlage nicht entgegen. Es sei anerkannt, dass bei einem grundlegenden Wandel der Lebensverhältnisse, beim Vorliegen neuer Tatsachen oder neuer rechtlicher Gesichtspunkte die Gesetzeskraft älterer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts einer erneuten Vorlage nicht im Wege stehe. Das Bundesverfassungsgericht habe über die Rechtmäßigkeit, insbesondere die Verhältnismäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht seit dem Ende der Blockkonfrontation und des so genannten Kalten Krieges noch nicht entschieden. Die grundlegende Veränderung der verteidigungspolitischen Situation und der Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland lasse eine erneute Vorlage zu.
b) Die vorgelegten gesetzlichen Vorschriften seien entscheidungserheblich. Ein Freispruch komme nach Überzeugung der Kammer bei Gültigkeit der vorgelegten Vorschriften nicht in Betracht. Bei Ungültigkeit der Vorschriften müsse der Angeklagte hingegen freigesprochen werden.
c) Die allgemeine Wehrpflicht greife in die Grundrechte der Wehrpflichtigen ein. Sie sei zur Landesverteidigung nicht mehr erforderlich. Damit sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt.
Art. 12 a Abs. 1 GG eröffne zwar dem Gesetzgeber die Möglichkeit, Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband zu verpflichten. Die Wehrpflicht werde dadurch aber nicht zu einer „Grundpflicht”. Die Wehrpflicht sei entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch keine eigenständige verfassungsrechtliche Pflicht. Art. 12 a Abs. 1 GG sei nur eine Ermächtigungsnorm, die durch § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 WPflG begründete Wehrpflicht eine einfachgesetzliche Pflicht.
Der Gesetzgeber könne sein Ermessen nur im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausüben. Zwar habe das Bundesverfassungsgericht in einer sehr frühen Entscheidung (BVerfGE 12, 45 ≪52≫, ebenso BVerfGE 48, 127 ≪160 f.≫) die Auffassung vertreten, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit sei für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht kein adäquater Maßstab. Dies überzeuge jedoch nicht, weil die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes Leitregeln allen staatlichen Handelns seien und Verfassungsrang besäßen. Gesetze müssten daher geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erzielen.
Bei der Bestimmung des gesetzgeberischen Ziels der Wehrpflicht sei vom Friedensziel des Art. 26 Abs. 1 GG und vom Verteidigungsauftrag des Art. 87 a Abs. 1 Satz 1 GG auszugehen. Der sich aus der Verfassung allein ergebende Zweck der Einrichtung der Bundeswehr sei die Landesverteidigung. Es komme daher nur darauf an, ob die Wehrpflichtigenarmee zur Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig erforderlich sei. Dafür sei von entscheidender Bedeutung, ob die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig oder in absehbarer Zeit von äußeren Feinden bedroht werde. Die Kammer gehe von dem Grundsatz aus, dass Gerichte nicht ihre Einschätzung der sicherheitspolitischen Situation an die Stelle der Einschätzung der gewählten hierfür zuständigen staatlichen Organe setzen dürften. Der politischen Führung komme hier eine gerichtlich kaum überprüfbare Einschätzungsprärogative zu.
Alle Vertreter der politischen und militärischen Führung der Bundesrepublik Deutschland seien sich aber darin einig, dass im Zuge der weltpolitischen Veränderungen seit 1989 eine entscheidende Entspannung der Sicherheitslage eingetreten sei. Deutschland sei spätestens mit dem Abzug der letzten russischen Truppen im August 1994 keiner existenzgefährdenden Bedrohung mehr ausgesetzt. Von keinem politischen oder militärischen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland oder der NATO werde eine aktuelle oder absehbare zukünftige Bedrohung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland durch Angriffe von außen ernsthaft für möglich gehalten. Auch zahlreiche andere NATO-Staaten hätten die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft. Eine Berufs- oder Freiwilligenarmee könne die noch verbliebenen Verteidigungsaufgaben mindestens ebenso gut wahrnehmen wie eine Wehrpflichtigenarmee. Zur Sicherung des in Art. 20 Abs. 1 GG enthaltenen demokratischen Strukturprinzips sei eine Freiwilligenarmee ebenso gut geeignet.
III.
Zur Vorlage haben das Bundesverwaltungsgericht, das Bundesministerium der Verteidigung und der Strafverteidiger im Ausgangsverfahren Stellung genommen.
1. Der Vorsitzende des Sechsten Senats des Bundesverwaltungsgerichts hat ausgeführt, Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgericht gingen in ständiger Rechtsprechung von der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht aus. Auf veränderte Sicherheitsbedürfnisse zu reagieren sei Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers.
2. Das Bundesministerium der Verteidigung hält die Vorlage für unzulässig. Sie gehe nicht von der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, sondern ziele auf deren Änderung ab.
Die Vorlage könne keinen Erfolg haben. Die Wehrpflicht sei eine verfassungsrechtlich abgesicherte Pflicht. Der Einsatz von Wehrpflichtigen sei auch außerhalb der engen Grenzen der Landesverteidigung zulässig. Das Landgericht Potsdam stelle seine Einschätzung der sicherheitspolitischen Lage an die Stelle der des Gesetzgebers, ohne sie ausreichend zu begründen. Die Einschätzung des Gerichts sei zudem falsch. Zwar habe sich die sicherheitspolitische Lage in Europa im Vergleich zu der Situation während des Kalten Krieges grundlegend verbessert. Auf der anderen Seite seien aber neue Risiken für die Stabilität und den Frieden sichtbar geworden. Sie zeigten, dass Instabilitäten in und am Rande Europas nicht regional begrenzt blieben, sondern auch unmittelbar Einfluss auf die Stabilität des ganzen Kontinents hätten. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werde bereits dadurch Rechnung getragen, dass der Deutsche Bundestag die Dauer des Grundwehrdienstes den aktuellen sicherheitspolitischen Gegebenheiten angepasst und von 18 Monaten auf 10 Monate verkürzt habe.
3. Der Verteidiger des Angeklagten im Ausgangsverfahren hat ausgeführt, die allgemeine Wehrpflicht werde zunehmend selbst militärpolitisch für fragwürdig gehalten.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 11. Januar 2000 (NJW 2000, S. 497) über den Zugang von Frauen zur Bundeswehr habe indirekt Auswirkungen auf die Verfassungsmäßigkeit der Wehrpflicht. Denn nunmehr entfalle der tragende Grund der Beschränkung der allgemeinen Wehrpflicht auf Männer. Zudem sei die Wehrgerechtigkeit durch die jetzige Einberufungspraxis verletzt.
Entscheidungsgründe
B.
Die Vorlage ist unzulässig. Das Landgericht hat nicht hinreichend dargelegt, dass es für die von ihm zu treffende Entscheidung darauf ankomme, ob die allgemeine Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1 WPflG) in einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt verfassungswidrig geworden sei (I.). Die Vorlage genügt auch nicht den gesteigerten Anforderungen, die an die Begründung zu stellen sind, wenn eine Norm erneut zur Überprüfung vorgelegt wird, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz das Bundesverfassungsgericht bereits in einer früheren Entscheidung bejaht hat (II., III.).
I.
1. Gemäß Art. 100 Abs. 1 GG in Verbindung mit § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht darlegen, inwiefern seine Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt. Der Vorlagebeschluss muss mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass das vorlegende Gericht im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis kommen würde als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie das Gericht dieses Ergebnis begründen würde (seit BVerfGE 7, 171 ≪173 f.≫ stRspr, vgl. zuletzt BVerfGE 97, 49 ≪60≫; 98, 169 ≪199≫). Das Gericht muss sich dabei eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, die für die Auslegung der zur Prüfung vorgelegten Norm von Bedeutung sind (vgl. BVerfGE 97, 49 ≪60≫; stRspr).
Für die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit im Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern diese nicht offensichtlich unhaltbar ist (seit BVerfGE 2, 181 ≪190 ff.≫ stRspr). Das setzt jedoch voraus, dass der Vorlagebeschluss eine solche Rechtsauffassung mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lässt. Eine im Vorlagebeschluss lediglich im Ergebnis – jedoch ohne nähere Darlegung – zugrunde gelegte Auffassung bindet nicht. In einem solchen Falle ist es dem Bundesverfassungsgericht auch verwehrt, die fehlende Begründung der Überzeugung des vorlegenden Gerichts von der Entscheidungserheblichkeit der Vorlage durch eigene Erwägungen zu ersetzen. Denn diese müssen Aufgabe des Fachgerichts bleiben (vgl. BVerfGE 97, 49 ≪62≫).
2. Gemäß diesem Maßstab kann nicht festgestellt werden, dass die vom Landgericht zu treffende Entscheidung von der Vereinbarkeit der allgemeinen Wehrpflicht mit dem Grundgesetz abhängt. Das Landgericht legt zwar dar, dass der Angeklagte, wenn die allgemeine Wehrpflicht mit dem Grundgesetz vereinbar wäre, der Dienstflucht schuldig gesprochen werden müsste. Dem Vorlagebeschluss lässt sich jedoch nicht mit der erforderlichen Gewissheit entnehmen, dass und aus welchen Gründen der Angeklagte freigesprochen werden müsste, wenn die Wehrpflicht in einem nicht genau bezeichneten Zeitpunkt nach der Überwindung der Teilung Europas verfassungswidrig geworden wäre.
a) § 53 Abs. 1 ZDG setzt in objektiver Hinsicht lediglich ein eigenmächtiges Fernbleiben vom Zivildienst trotz bestehender Verpflichtung zum Zivildienst voraus. Der Vorlage liegt offenbar die Auffassung zugrunde, dass eine Verpflichtung zum Zivildienst sich allein aus § 1 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 WPflG ergeben könne. In der Literatur wird hingegen überwiegend die Auffassung vertreten, dass die Verpflichtung zum Zivildienst nicht unmittelbar durch die gesetzliche Wehrpflicht, sondern allein durch einen wirksamen und vollziehbaren Einberufungsbescheid begründet werde (vgl. Harrer/Haberland, Zivildienstgesetz, 4. Aufl. 1992, § 53 Anm. 2; LG Dortmund, Beschluss vom 15. Juli 1964, NJW 1964, S. 2028; für die ähnliche Vorschrift des § 16 Abs. 1 des Wehrstrafgesetzes: Schölz/Lingens, Wehrstrafgesetz, Kommentar, 4. Aufl. 2000, § 1 Rn 5 ff. und § 16 Rn 4; Herbert Arndt, JZ 1965, S. 775; Menger, DRiZ 1967, S. 381). Die Strafbewehrung eines Verwaltungsakts und die dadurch bedingte Bindung des Strafrichters an die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG; vgl. BVerfGE 80, 244 ≪256≫). Nach dieser Auffassung käme es für die Strafbarkeit des Verhaltens des Angeklagten auf die Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht nicht an. Denn der Angeklagte wurde durch unanfechtbaren Bescheid vom 26. März 1993 zum Zivildienst einberufen. Dass und gegebenenfalls aus welchen Gründen der Einberufungsbescheid gemäß § 44 VwVfG nichtig sein sollte, legt das Landgericht nicht dar.
Die Auffassung, dass sich eine Verpflichtung zum Zivildienst bereits aus einem wirksamen und vollziehbaren Einberufungsbescheid ergebe, ist allerdings nicht unbestritten (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 23. November 1990, NJW 1991, S. 935). Auch der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil vom 21. Februar 1967 (NZWehrR 1967, S. 173; ebenso OLG Nürnberg, Beschluss vom 28. April 1965, JZ 1965, S. 688) entschieden, dass wegen Fahnenflucht (§ 16 WStG) nicht bestraft werden könne, wer zum Wehrdienst einberufen werde, obwohl er nicht mehr der gesetzlichen Wehrpflicht unterliege, weil er seinen ständigen Aufenthalt aus dem Geltungsbereich des Wehrpflichtgesetzes hinaus verlegt habe.
Das Landgericht hätte sich – wenn es dieser Rechtsprechung hätte folgen wollen – mit der Vergleichbarkeit von § 16 WStG und § 53 ZDG sowie mit der grundlegenden Kritik an diesen Entscheidungen (vgl. Arndt, JZ 1965, S. 775; Menger, DRiZ 1967, S. 381) und dem neueren Schrifttum (Harrer/Haberland, a.a.O.; Schölz/Lingens, a.a.O.) auseinandersetzen müssen. Es hätte zudem prüfen müssen, ob ein rechtmäßiger Einberufungsbescheid vorliegt, der den Angeklagten zum Zivildienst verpflichtet. Maßgebend für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Einberufungsbescheids ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 62, 80 ≪86≫; Beschluss vom 22. Mai 1987, NVwZ-RR 1988, S. 34) der im Einberufungsbescheid festgesetzte Gestellungszeitpunkt, hier also der 1. September 1993. Das Landgericht legt nicht dar, dass die allgemeine Wehrpflicht bereits in diesem Zeitpunkt verfassungswidrig gewesen sei.
b) Selbst wenn die Verpflichtung zum Zivildienst neben einer wirksamen Einberufung auch das Bestehen der gesetzlichen Wehrpflicht voraussetzte, hätte das Landgericht zunächst darlegen müssen, welcher Zeitpunkt insoweit für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der allgemeinen Wehrpflicht maßgebend sei, und sodann, dass die allgemeine Wehrpflicht in diesem Zeitpunkt nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das Landgericht führt lediglich aus, dass die strafbewehrte Aufrechterhaltung einer allgemeinen Wehrpflicht „jedenfalls unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen” nicht mehr verfassungsgemäß sei (S. 11 der Vorlage); sie sei „unter den heutigen Bedingungen” ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechte der Wehrpflichtigen (S. 32 der Vorlage). Es meint zwar, einen Konsens darüber feststellen zu können, dass die Bundesrepublik Deutschland spätestens mit dem Abzug der letzten russischen Truppen im August 1994 nicht mehr einer existenzgefährdenden Bedrohung ausgesetzt sei. Wann die zuständigen Organe hieraus Konsequenzen für die allgemeine Wehrpflicht spätestens hätten ziehen müssen, führt es jedoch nicht aus. Dem liegt offenbar die Auffassung zugrunde, dass der Angeklagte vom Vorwurf der Dienstflucht freizusprechen sei, wenn die allgemeine Wehrpflicht im Zeitpunkt der strafgerichtlichen Entscheidung mit dem Grundgesetz nicht mehr vereinbar wäre.
Gemäß § 2 Abs. 1 StGB bestimmen sich die Strafe und ihre Nebenfolgen jedoch nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. Dass die allgemeine Wehrpflicht bereits in dem in Betracht kommenden Tatzeitraum vom 1. September 1993 bis 30. November 1994 verfassungswidrig gewesen sei, geht aus dem Vorlagebeschluss vom 19. März 1999 nicht mit hinreichender Deutlichkeit hervor. Gemäß § 2 Abs. 3 StGB ist zwar, wenn das Gesetz, das bei der Begehung der Tat gilt, vor der Entscheidung geändert wird, das mildeste Gesetz anzuwenden. § 1 Abs. 1 WPflG ist aber weder geändert noch aufgehoben worden. Ob § 2 Abs. 3 StGB auf einen Wandel der tatsächlichen Verhältnisse, der zur späteren Verfassungswidrigkeit eines im Zeitpunkt der Tat verfassungsmäßigen Gesetzes führt, entsprechend anzuwenden ist, hätte das Landgericht eingehend prüfen und erörtern müssen. Das hat es nicht getan.
II.
1. Hat das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit einer vorgelegten Norm mit dem Grundgesetz bereits in einer früheren Entscheidung bejaht, so ist eine erneute Vorlage nur zulässig, wenn tatsächliche oder rechtliche Veränderungen eingetreten sind, die die Grundlage der früheren Entscheidung berühren und deren Überprüfung nahe legen (vgl. BVerfGE 33, 199 ≪203 f.≫; 39, 169 ≪181≫; 65, 178 ≪181≫; 78, 38 ≪48≫; 87, 341 ≪346≫; 94, 315 ≪323≫). An die Begründung einer erneuten Vorlage sind gesteigerte Anforderungen zu stellen. Das vorlegende Gericht muss von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgehen und darlegen, inwiefern sich die für die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgebliche Lage verändert haben soll (vgl. BVerfGE 87, 341 ≪346≫ m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt die Vorlage nicht.
2. Das Landgericht nimmt zwar auf die Entscheidungen Bezug, in denen das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung die Vereinbarkeit der allgemeinen Wehrpflicht (§ 1 Abs. 1 WPflG) mit dem Grundgesetz bejaht hat (vgl. BVerfGE 12, 45 ≪49 ff.≫; 12, 311 ≪316≫; 28, 243 ≪261≫; 38, 154 ≪167≫; 48, 127 ≪159 ff.≫; 69, 1 ≪21 f.≫). Es setzt sich aber mit den Begründungen dieser Entscheidungen nicht auseinander.
a) Das gilt insbesondere für die Rechtsansicht des Bundesverfassungsgerichts, dass die allgemeine Wehrpflicht verfassungsrechtlich verankert (vgl. BVerfGE 12, 45 ≪50 f.≫; 28, 243 ≪261≫; 38, 154 ≪167≫; 48, 127 ≪161≫) und diese Pflicht daher nicht an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen ist.
In dem Vorlagebeschluss wird dagegen die Auffassung vertreten, dass Art. 12 a Abs. 1 GG eine bloße Eingriffsermächtigung darstelle und die durch das Wehrpflichtgesetz vom 21. Juli 1956 (BGBl I S. 651) eingeführte allgemeine Wehrpflicht eine nur einfachgesetzlich begründete Pflicht sei. Das Landgericht erörtert nicht die dem entgegenstehende Rechtsansicht des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 12, 45 ≪51≫; 38, 154 ≪167≫; 48, 127 ≪161≫), die weitgehend Zustimmung in der Literatur gefunden hat (vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 12 a Rn 16 – Stand März 2001; Gubelt, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 12 a Rn 1; Gornig, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 4. Aufl. 1999, Art. 12 a Rn 6, 7, 20; Heun, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 1996, Art. 12 a Rn 6; K. Ipsen/J. Ipsen, in: Dolzer/Vogel, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 12 a Rn 28 – Stand August 1976).
Darüber hinaus misst das Landgericht die allgemeine Wehrpflicht mit der schlichten Feststellung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die dem entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht überzeuge, da jener Grundsatz wie das Übermaßverbot Leitregel allen staatlichen Handelns sei. Die Frage, ob auch Verfassungsnormen am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips überprüft werden dürfen, stellt sich das Gericht nicht.
b) Zwar geht auch das Landgericht zunächst davon aus, dass dem Gesetzgeber eine weitgehende, „gerichtlich kaum überprüfbare” Einschätzungsprärogative zukomme. Doch schließt es aus einer vermeintlich einmütigen Analyse der Sicherheitslage durch die politische und militärische Führung darauf, dass dem Gesetzgeber keine andere Wahl bleibe, als die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen. Dabei lässt das Landgericht außer Acht, dass der Verfassungsgeber die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht – im Gegensatz zu den anderen in Art. 12 a Abs. 3, 4 und 6 GG geregelten Dienstpflichten – nicht von weiteren Voraussetzungen, insbesondere nicht vom Vorliegen einer bestimmten sicherheitspolitischen Lage abhängig gemacht hat.
c) Das Landgericht übersieht zudem, dass es weitere Gründe geben könnte, an der Wehrpflicht festzuhalten. Hier sei nur beispielhaft auf die bestehenden Bündnisverpflichtungen verwiesen (vgl. BVerfGE 48, 127 ≪160≫).
Die gegenwärtige öffentliche Diskussion für und wider die allgemeine Wehrpflicht zeigt sehr deutlich, dass eine komplexe politische Entscheidung in Rede steht. Die Fragen beispielsweise nach Art und Umfang der militärischen Risikovorsorge, der demokratischen Kontrolle, der Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses sowie nach den Kosten einer Wehrpflicht- oder Freiwilligenarmee sind solche der politischen Klugheit und ökonomischen Zweckmäßigkeit, die sich nicht auf eine verfassungsrechtliche Frage reduzieren lassen. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Urteil vom 13. April 1978 ausgeführt hat, ist die dem Gesetzgeber eröffnete Wahl zwischen einer Wehrpflicht- und einer Freiwilligenarmee eine grundlegende staatspolitische Entscheidung, die auf wesentliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt und bei der der Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten, auch allgemeinpolitische, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gründe von sehr verschiedenem Gewicht zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat (BVerfGE 48, 127 ≪160 f.≫). Darum obliegt es nach der gewaltenteilenden Verfassungsordnung des Grundgesetzes zunächst dem Gesetzgeber und den für das Verteidigungswesen zuständigen Organen des Bundes, diejenigen Maßnahmen zu beschließen, die zur Konkretisierung des Verfassungsgrundsatzes der militärischen Landesverteidigung erforderlich sind. Welche Regelungen und Anordnungen notwendig erscheinen, um gemäß der Verfassung und im Rahmen bestehender Bündnisverpflichtungen eine funktionstüchtige Verteidigung zu gewährleisten, haben diese Organe nach weitgehend politischen Erwägungen in eigener Verantwortung zu entscheiden.
3. Soweit § 3 Abs. 1 WPflG und § 53 ZDG zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellt werden, ist die Vorlage auf die als entscheidungserheblich in Betracht kommenden Teile der Normen zu beschränken (vgl. BVerfGE 18, 52 ≪58≫; 69, 373 ≪377≫; 80, 354 ≪357≫). Das sind allein Satz 1 des § 3 Abs. 1 WPflG, in dem Wehrdienst und Zivildienst unter dem Oberbegriff der Wehrpflicht zusammengefasst werden, und Absatz 1 des § 53 ZDG, der den Tatbestand der Dienstflucht enthält. Das Bundesverfassungsgericht hat die Vereinbarkeit beider Normen mit dem Grundgesetz bereits bejaht (vgl. BVerfGE 80, 354 zu § 3 Abs. 1 Satz 1 WPflG; BVerfGE 23, 127 ≪131≫ zu § 53 Abs. 1 ErsDiG in der Fassung vom 16. Juli 1965 (BGBl I S. 984), dem § 53 Abs. 1 ZDG entspricht). Das Landgericht hat nicht dargetan, warum sie neuerlich auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu prüfen sein sollten.
Unterschriften
Limbach, Sommer, Jentsch, Hassemer, Broß, Osterloh, Di Fabio, Mellinghoff
Fundstellen
Haufe-Index 743147 |
BVerfGE, 61 |
EuGRZ 2002, 200 |
NVwZ 2002, 575 |
NVwZ 2002, 982 |
ZAP 2002, 437 |
BWV 2002, 100 |
DÖV 2002, 663 |
NJ 2002, 241 |
NJ 2002, 362 |
VR 2003, 105 |
BayVBl. 2002, 524 |
DVBl. 2002, 769 |
NZWehrr 2002, 168 |