Verfahrensgang
Sächsisches OVG (Beschluss vom 10.03.2011; Aktenzeichen 3 D 196/10) |
Tenor
Der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 10. März 2011 – 3 D 196/10 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Sächsische Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Klage auf rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
1. Der 31jährige Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger. Er reiste 2002 in das Bundesgebiet ein und beantragte erfolglos Asyl; anschließend wurde sein Aufenthalt wegen Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes geduldet. Im August 2008 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige, woraufhin ihm die Ausländerbehörde im September 2009 eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen erteilte.
2. Bereits vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis hatte der Beschwerdeführer deren Rückbewirkung auf den Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung, den 29. August 2008, beantragt. Die Ausländerbehörde lehnte diesen Antrag im Oktober 2009 ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg, wobei die Widerspruchsbehörde entscheidend darauf abstellte, dass der Beschwerdeführer für eine rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis kein Rechtsschutzbedürfnis habe.
3. Der Beschwerdeführer erhob Klage, die er im Wesentlichen damit begründete, dass ein Ausländer nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Erteilung eines Aufenthaltstitels habe, weil es für seine weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein könne, von welchem Zeitpunkt an er die Aufenthaltserlaubnis besitze. Im Falle des Beschwerdeführers hätten im Zeitpunkt der Antragstellung alle Erteilungsvoraussetzungen vorgelegen; Verzögerungen, die auf die zur Sachverhaltsklärung vorgenommene Beteiligung anderer Behörden zurückgingen, dürften sich nicht zu seinen Lasten auswirken. Hilfsweise ergebe sich mit Blick auf § 75 VwGO ein Rechtsschutzbedürfnis zumindest für die Zeit ab dem dritten Monat nach Antragstellung.
4. Für die Klage stellte der Beschwerdeführer Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, den das Verwaltungsgericht unter Verweis auf die Gründe des Widerspruchsbescheids ablehnte.
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht mit angegriffenem Beschluss vom 10. März 2011 zurück: Die Rechtsverfolgung biete keine hinreichende Erfolgsaussicht, da der Beschwerdeführer nicht habe darlegen können, dass er schon jetzt ein Rechtsschutzinteresse für die rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis habe. Zwar könne sich dieses Interesse daraus ergeben, dass es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sei, von welchem Zeitpunkt an der Ausländer einen Aufenthaltstitel besitze. Allerdings müsse sich die Bedeutung nach der Frage der Besitzdauer so konkretisiert haben, dass deren Klärung für eine anstehende Entscheidung über das weitere aufenthaltsrechtliche Schicksal des Betroffenen maßgeblich sei. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn der Beschwerdeführer nach seiner Auffassung zum jetzigen Zeitpunkt bereits die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erfüllt hätte; nicht ausreichend sei indes die theoretische Möglichkeit, dass die Besitzdauer irgendwann einmal Bedeutung erlangen könne. Dem Beschwerdeführer sei nicht verwehrt, zu einem späteren Zeitpunkt den Antrag erneut zu stellen, weil die Bestandskraft des mit der Klage angegriffenen Bescheids nicht die materielle Frage umfasse, ob und gegebenenfalls ab welchem Zeitpunkt die Aufenthaltserlaubnis rückwirkend zu erteilen wäre.
5. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verletzungen in Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG. Das Oberwaltungsgericht habe die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der Klage überspannt. Das Bundesverwaltungsgericht und andere Oberwaltungsgerichte hätten das schutzwürdige Interesse eines Ausländers an einer Aufenthaltserlaubnis für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach Antragstellung bejaht, wenn es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers erheblich sein könne, von welchem Zeitpunkt an er eine Aufenthaltserlaubnis besitze; das Rechtsschutzbedürfnis sei dabei weder vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine Aufenthaltsverfestigung abhängig gemacht worden noch davon, ob dem Betroffenen gravierende Nachteile durch die konkrete Antragsbearbeitung drohten. Das Oberverwaltungsgericht verlange als einziges Gericht zusätzlich, dass sich die Bedeutung nach der Frage der Besitzdauer konkretisiert habe.
6. Dem Sächsischen Staatministerium der Justiz und für Europa wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Zudem hat die Kammer zur Rechtsfrage, unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis haben kann, das Bundesverwaltungsgericht angehört.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der angegriffene Beschluss des Oberverwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
1. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll allerdings nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Dies bedeutet zugleich, dass Prozesskostenhilfe nur verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪356 f.≫; stRspr.).
Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn ein Fachgericht § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage – obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet – als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet (vgl. BVerfGE 81, 347 ≪359 f.≫). Entsprechendes gilt, wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Rechtsverfolgung in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2011 – 1 BvR 1403/09 –, juris Rn. 34 m.w.N.).
2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Das Oberverwaltungsgericht hat die Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit verkannt, indem es die entscheidungserhebliche Rechtsfrage nach dem Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses für die vom Beschwerdeführer begehrte Rechtsverfolgung bereits im Prozesskostenhilfeverfahren abschließend verneint hat.
a) Die Entscheidung in der Hauptsache hängt von der Beantwortung der Rechtsfrage ab, ob der Beschwerdeführer für die begehrte Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach Antragstellung ein schutzwürdiges Interesse hat. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beurteilung der Erfolgsaussicht der Klage ausschließlich in Bezug auf diese Sachurteilsvoraussetzung vorgenommen.
b) Diese Rechtsfrage ist weder im Sinne der vom Oberverwaltungsgericht vertretenen Auffassung höchstrichterlich geklärt noch lässt sie sich im Hinblick auf die einschlägigen gesetzlichen Regelungen oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen einfach beantworten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach Antragstellung beanspruchen, wenn er hieran ein schutzwürdiges Interesse hat. Ein solches Interesse hat das Bundesverwaltungsgericht insbesondere dann bejaht, wenn – wie beim Beschwerdeführer – die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers erheblich sein kann; dies gelte unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitpunkt bereits erteilt worden ist oder nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 – 1 C 14/97 –, juris Rn. 15; Urteil vom 9. Juni 2009 – 1 C 7/08 –, juris Rn. 13; Urteil vom 26. Oktober 2010 – 1 C 19/09 –, juris Rn. 13; Urteil vom 11. Januar 2011 – 1 C 22.09 –, juris Rn. 25). Hingegen hat das Bundesverwaltungsgericht bislang nicht verlangt, dass die begehrte Entscheidung für bereits konkret anstehende weitere aufenthaltsrechtliche Entscheidungen von Bedeutung sein muss.
Die Frage, ob die mögliche Erheblichkeit für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers in jedem Fall hinreicht, ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Erteilung eines Aufenthaltstitels zu begründen, oder ob die Bejahung eines Rechtsschutzbedürfnisses an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft werden kann, lässt sich auch nicht ohne Weiteres anhand der einschlägigen gesetzlichen Regelungen beantworten. Dies zeigt bereits der Umstand, dass die hierzu ergangene obergerichtliche Rechtsprechung uneinheitlich ist (vgl. Hamburgisches OVG, Beschluss vom 23. November 2009 – 3 Bf 111/08.Z –, juris Rn. 6; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 8. November 2010 – 11 S 1873/10 –, juris Rn. 20).
c) Indem das Oberverwaltungsgericht die Rechtsfrage gleichwohl bereits im Prozesskostenhilfeverfahren zum Nachteil des Beschwerdeführers beantwortet hat, hat es diesem den chancengleichen Zugang zum gesetzlich vorgesehenen Weg der Klärung (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 3, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) verwehrt. Damit hat das Gericht den Zweck der Prozesskostenhilfe und das mit ihr verfolgte Ziel der Rechtsschutzgleichheit deutlich verfehlt.
3. Der angegriffene Beschluss beruht auf diesem Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberverwaltungsgericht bei Beachtung der Anforderungen an die Rechtsschutzgleichheit zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den angegriffenen Beschluss auf und verweist die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurück. Auf das Vorliegen des weiterhin gerügten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG kommt es nicht an.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 ≪366 ff.≫).
Unterschriften
Gerhardt, Hermanns, Müller
Fundstellen
Haufe-Index 2997553 |
NJW 2012, 2722 |
NVwZ 2012, 1390 |
NVwZ 2012, 7 |
InfAuslR 2012, 317 |