Verfahrensgang
KG Berlin (Beschluss vom 21.09.2005; Aktenzeichen (4) Ausl. A. 279/04 (79/04)) |
KG Berlin (Beschluss vom 21.09.2005; Aktenzeichen (4) Ausl. A. 279/94 (79/94)) |
KG Berlin (Beschluss vom 12.05.2005; Aktenzeichen (4) Ausl. A. 279/94 (79/94)) |
KG Berlin (Beschluss vom 12.05.2005; Aktenzeichen (4) Ausl. A. 279/04 (79/04)) |
Tenor
Die Beschlüsse des Kammergerichts vom 12. Mai 2005 und vom 21. September 2005 – (4) Ausl. A. 279/94 (79/94) – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG. Sie werden aufgehoben und an das Kammergericht zurückverwiesen.
Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die durch die Verfassungsbeschwerde entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung der Beschwerdeführerin, einer vietnamesischen Staatsangehörigen, an die Sozialistische Republik Vietnam. Zwischen Vietnam und Deutschland gibt es kein Auslieferungsabkommen. Nach Angaben der Beschwerdeführerin und des Bundesministeriums der Justiz wäre dies die erste Auslieferung nach Vietnam.
1. Die Beschwerdeführerin kam 1994 nach Deutschland. In den Jahren 1995/96 soll sie die Geliebte eines Chefs des vietnamesischen Zigarettenschmugglerrings in Berlin gewesen sein. In dieser Zeit wurde sie u.a. wegen Diebstahls und Steuerhehlerei verurteilt. Im Sommer 1998 verließ sie Deutschland, kam aber im August 1998 zurück, um als Zeugin in Strafverfahren gegen Chefs der vietnamesischen Zigarettenbande auszusagen. Sie war der Staatsanwaltschaft als glaubwürdige und zuverlässige Belastungszeugin bekannt und nahm an einem Zeugenschutzprogramm teil. Nach einem Monat kehrte sie freiwillig nach Vietnam zurück. Im Jahre 2000 reiste sie wieder nach Deutschland ein. Zwei ihrer Kinder (geb. 1983 und 2002) leben in Deutschland.
2. Die vietnamesischen Behörden ersuchten mit Schreiben vom 5. Februar 2004 um die Auslieferung der Beschwerdeführerin aufgrund eines vietnamesischen Haftbefehls vom 4. August 2000 wegen des Kaufs von jeweils 350g Heroin in sieben Fällen zwischen Herbst 1998 und Sommer 1999. Die Beschwerdeführerin wurde am 17. Juni 2004 in Deutschland festgenommen.
3. Zu dem Verfahren wurden folgende behördliche Entscheidungen getroffen bzw. Stellungnahmen abgegeben:
- Aufgrund ihres Asylfolgeantrags stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 8. April 2003 fest, es liege ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 2 AuslG vor. Es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführerin in Vietnam aufgrund eines konstruierten Strafverfahrens die Todesstrafe drohe.
- Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin führte auf Nachfrage des Bundesministeriums der Justiz in einem Schreiben vom 8. Februar 2005 aus, die neuen Aussagen der Beschwerdeführerin zu weiteren Prozessen gegen Mitglieder der vietnamesischen Zigarettenmafia zeigten, dass sie über ein noch weitaus größeres Tatwissen zum organisierten Zigarettenhandel verfüge als bisher bekannt gewesen sei. Daher könne nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass in bestimmten kriminellen vietnamesischen Kreisen ein Interesse daran bestehe, die Beschwerdeführerin als Zeugin auszuschalten oder sich an ihr zu rächen. Der Behauptung der Beschwerdeführerin, die Vorwürfe seien konstruiert, solle daher nachgegangen werden. Die Generalstaatsanwaltschaft bat darum, die vietnamesischen Behörden zu ersuchen, zum Zwecke der Schuldverdachtsprüfung die Vorgänge, aus denen sich der Tatverdacht herleite, übersetzt den deutschen Behörden zur Verfügung zu stellen.
- Die Deutsche Botschaft Hanoi nahm mit Schreiben vom 31. März 2005 zu Fragen des Bundesministeriums der Justiz Stellung. Sie führte aus, auch in Vietnam bestehe grundsätzlich die Chance, seine Rechte vor Gericht wahrzunehmen. Einschränkungen der verfassungsrechtlich garantierten Rechtsausübung seien vor allem bei politisch sensiblen Straftaten zu erwarten, weniger bei einfacher Kriminalität.
- Das vietnamesische Außenministerium gab nacheinander auf Nachfragen folgende Zusicherungen: Es garantierte, im Falle einer Verurteilung zur Todesstrafe diese nicht zu vollstrecken und Haftbedingungen entsprechend den Mindeststandards der Vereinten Nationen zu gewährleisten. Es sicherte die Gegenseitigkeit und Spezialität zu. Es sagte zu, dass die Beschwerdeführerin in der Haft vor Vergeltungsmaßnahmen geschützt werde, und stimmte zu, dass deutsche Konsularbeamte die Beschwerdeführerin in der Haftanstalt besuchen dürften. Ein entsprechendes Ersuchen solle von dem zuständigen Konsularbeamten vorher auf diplomatischem Wege mitgeteilt werden, damit die zuständigen Stellen Vietnams dies nach dem vietnamesischen Recht arrangieren könnten.
4. Die Beschwerdeführerin trug in ihrem Antrag vom 8. November 2004, das Auslieferungsersuchen für unzulässig zu erklären, unter Berufung auf mehrere Auskünfte u.a. vor, das Strafverfahren in Vietnam sei nicht rechtsstaatlich. Verteidiger, die sich für die Rechte ihrer Mandanten einsetzten, würden abgelehnt. Bei Drogendelikten seien die Rechte des Verteidigers weiter eingeschränkt. Die belastenden Aussagen gegen die Beschwerdeführerin stammten allein von einem bereits hingerichteten Mitbeschuldigten. Der Verdacht liege nahe, dass das Geständnis nicht auf rechtsstaatlichem Wege gewonnen worden sei. Sie berief sich u.a. auf die Einschätzung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu ihrem Fall. Außerdem legte sie ein Gutachten einer Berliner Menschenrechtsorganisation vor, wonach die Verurteilungswahrscheinlichkeit in Vietnam bei über 95 % liege, was bei Drogendelikten und Auslandsbezug noch verstärkt gelte. Sie sei im Jahr 2000 wieder nach Deutschland gereist, da sie in ihrem Heimatort von Verwandten der Mitglieder der Zigarettenmafia bedroht worden sei.
In einer Haftentscheidung vom 22. Dezember 2004 befasste sich das Kammergericht mit der Frage, ob das Strafverfahren in Vietnam konstruiert sein könnte. Es stellte fest, Anlass für eine Tatverdachtsprüfung nach § 10 Abs. 2 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) bestehe nicht, da die Beschwerdeführerin nicht nachvollziehbar dargelegt habe, dass ein Zusammenhang zwischen den in Berlin Verurteilten und den Mitbeschuldigten in Vietnam bzw. den vietnamesischen Ermittlungsbehörden bestehe. Gegen eine unrechtmäßige Strafverfolgung als Racheakt spreche, dass die Beschwerdeführerin im Jahr 1998 nach ihrer Zeugenaussage in Berlin freiwillig nach Vietnam gereist und dort bis zu ihrer erneuten Ausreise im Jahre 2000 offensichtlich keinen Repressalien ausgesetzt gewesen sei. Eine mögliche lebenslange Freiheitsstrafe verstoße nicht gegen § 73 Satz 1 IRG. Denn nach dem vietnamesischen Strafrecht habe die Verurteilte nach zwölf Jahren die Aussicht, dass die Herabsetzung der Freiheitsstrafe erstmals geprüft werde.
Die Beschwerdeführerin reagierte mit Schriftsatz vom 17. Februar 2005 auf den Hinweis des Kammergerichts zur fehlenden Substantiierung, indem sie weiter vortrug, vor ihrer Ausreise nach Deutschland sei sie von den Familien der Verurteilten in Vietnam massiv bedroht worden. Ein Chef der Zigarettenschmuggler, der in Deutschland aufgrund ihrer Aussagen verurteilt worden sei, und der hingerichtete Belastungszeuge ihres Verfahrens in Vietnam seien befreundet gewesen. Der Belastungszeuge habe sich auch im Interesse des Mafiabosses an ihr rächen wollen. Außerdem seien belastende Aussagen ein zuverlässiges Mittel, um sich körperlichen Misshandlungen durch die Ermittlungsbeamten zu entziehen. Sie bezog sich auch auf die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 8. Februar 2005.
In seinem Beschluss vom 11. März 2005 zur Haftfortdauer führte das Kammergericht aus, eine Tatverdachtsprüfung sei nach wie vor abzulehnen, da auch das weitere Vorbringen der Beschwerdeführerin dafür keine Anhaltspunkte biete, und verwies auf den Beschluss vom 22. Dezember 2004. Eine Prüfung der Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen sei der Beweisaufnahme in einer Hauptverhandlung vorbehalten.
Mit Schriftsatz vom 6. Mai 2005 vertiefte die Beschwerdeführerin nochmals ihren Vortrag zur Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens in Vietnam. Sie betonte, sie erwarte nach den vorgelegten Auskünften und entgegen dem Schreiben der Deutschen Botschaft Hanoi vom 31. März 2005 kein rechtsstaatliches Verfahren. Dies gelte insbesondere für Drogendelikte, da die Bekämpfung der Drogenkriminalität für die Regierung höchste politische Priorität habe.
5. Mit Beschluss vom 12. Mai 2005, zugestellt am 8. Juni 2005, erklärte das Kammergericht die Auslieferung für zulässig. Es führte aus, für eine Tatverdachtsprüfung bestehe nach wie vor kein Anlass. Gegen eine vorgeschobene Strafverfolgung spreche, dass die Beschwerdeführerin nach ihren Zeugenaussagen freiwillig nach Vietnam zurückgekehrt und dort keinen staatlichen Repressalien ausgesetzt gewesen sei. Im Übrigen verwies das Kammergericht dazu auf vorangegangene Beschlüsse. Die Strafe sei nicht unerträglich hart, da die vorgeworfenen Taten einen hohen Unrechtsgehalt aufwiesen. Aufgrund der Zusicherungen sei davon auszugehen, dass Vietnam die Grundsätze der Gegenseitigkeit und Spezialität sowie die Mindeststandards für die Haftbedingungen einhalte, die Beschwerdeführerin vor Vergeltung schütze und Besuche der deutschen Konsularbeamten zulasse. Art. 6 Abs. 1 GG schütze nicht vor Auslieferung.
6. Mit Schriftsatz vom 4. Juli 2005 erhob die Beschwerdeführerin Gegenvorstellung. Sie trug vor, das Kammergericht habe erheblichen Vortrag nicht berücksichtigt und sei seinen Nachforschungspflichten nicht nachgekommen. Sie stützte sich vor allem darauf, dass der Urkundenverkehr in Vietnam unzuverlässig sei. Außerdem trug sie weiter dazu vor, dass ihr in Vietnam ein unfaires Verfahren drohe. Dazu legte sie aktuelle Berichte von Menschenrechtsorganisationen und der EU vor sowie Schreiben des Instituts für Gesellschaftspolitik und der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte zu ihrem Fall.
Mit Schreiben vom 27. Juli 2005 bat das Kammergericht das Auswärtige Amt um Stellungnahme, ob die Zusicherungen Vietnams verlässlich seien. Das Auswärtige Amt teilte mit Schreiben vom 15. September 2005 mit, es bestünden keine konkreten Anhaltspunkte, an der Einhaltung der Zusicherungen Vietnams zu zweifeln.
7. Mit Beschluss vom 21. September 2005 wies das Kammergericht die Gegenvorstellung zurück mit der Begründung, die Zusicherungen seien verlässlich. Das übrige Vorbringen der Beschwerdeführerin enthalte keine neuen Tatsachen.
8. Mit der am 6. Juli 2005 erhobenen und am 1. Oktober 2005 erweiterten Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 1 Abs. 1 Satz 1, 2, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 102 und Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 6 EMRK durch die Entscheidungen des Kammergerichts zur Zulässigkeit der Auslieferung und zur Gegenvorstellung.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör sowie der Schutz vor Willkürentscheidungen nach Art. 3 Abs. 1 GG seien verletzt, da das Kammergericht nicht gemäß § 10 Abs. 2 IRG den Sachverhalt geprüft habe, obgleich die Beschwerdeführerin substantiiert dargelegt habe, dass der Tatvorwurf falsch und konstruiert sei.
Art. 103 Abs. 1, 101 Abs. 1, 20 Abs. 2, 2 Abs. 1 GG und Art. 6 EMRK seien verletzt, da die Beschwerdeführerin in Vietnam kein durchsetzbares Recht auf ein faires Verfahren habe. Das Kammergericht habe das tatsächlich und rechtlich erhebliche Vorbringen zur Rechtsstaatswidrigkeit des Verfahrens nicht berücksichtigt und damit den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Zur Möglichkeit der Verteidigung im vietnamesischen Strafverfahren hätte gegebenenfalls ein Sachverständigengutachten eingeholt werden müssen. Aufgrund der dem Kammergericht vorgelegten Auskünfte sei der Verdacht nahe liegend, dass in Drogenverfahren auch Folter eingesetzt werde.
Die Entscheidung des Kammergerichts verstoße gegen Art. 1 Abs. 1 GG, da der Beschwerdeführerin die Todesstrafe drohe. Die völkerrechtlichen Mindeststandards würden verletzt, da der Verhängung der Todesstrafe ein unfaires Verfahren vorausgehe. Es sei mit der Menschenwürde unvereinbar, mit einer verhängten Todesstrafe zu leben. Werde diese nicht vollstreckt, erwarte sie eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Perspektive auf Freiheit. Die Haftbedingungen in Vietnam seien unzumutbar.
Auch Art. 6 Abs. 1 GG stehe der Auslieferung entgegen.
9. Der Berliner Senatsverwaltung für Justiz und dem Bundesministerium der Justiz wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Das Bundesministerium der Justiz führte u.a. aus, im vorliegenden ersten Auslieferungsverfahren nach Vietnam habe es nahe gelegen, die Möglichkeit einer Tatverdachtsprüfung nach § 10 Abs. 2 IRG und die Frage, ob die Beschwerdeführerin die Freiheit wiedererlangen könne, besonders sorgfältig zu prüfen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt ist (§§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Das Kammergericht hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Es hat den Vortrag der Beschwerdeführerin zur Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens in Vietnam im Allgemeinen sowie zu Drogendelikten und zu ihrem Fall im Besonderen nicht hinreichend berücksichtigt. Dieser Vortrag war für die Entscheidung des Kammergerichts von zentraler Bedeutung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Entscheidung des Kammergerichts auf dem Gehörsverstoß beruht.
a) Dem Anspruch auf rechtliches Gehör entspricht die Pflicht des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 18, 380 ≪383≫). Art. 103 Abs. 1 GG zwingt das Gericht jedoch nicht dazu, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden (BVerfGE 5, 22 ≪24 f.≫). Auch kann daraus keine Pflicht der Gerichte erwachsen, den Rechtsansichten eines Beteiligten zu folgen (BVerfGE 87, 1 ≪33≫). So ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das Vorbringen eines Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör kann nur dann festgestellt werden, wenn besondere Umstände vorliegen, die den Schluss zulassen, das Gericht habe das Vorbringen der Beschwerdeführerin bei seiner Entscheidung entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (BVerfGE 86, 133 ≪146≫).
b) Diesen Anforderungen genügen die Entscheidungsgründe des Kammergerichts nicht.
Das Kammergericht hat in keiner Entscheidung zu der grundsätzlichen Frage Stellung genommen, ob Strafverfahren in Vietnam rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügen und inwiefern dies bei Drogendelikten zusätzlich problematisch ist. Die Beschwerdeführerin hatte dazu immer wieder aktuelle und umfangreiche Auskünfte anerkannter Menschenrechtsorganisationen und verschiedener Regierungen sowie Zeitungsartikel vorgelegt.
Die Frage, ob die Verbindungen der Beschwerdeführerin zur Zigarettenmafia und zum Ausland sowie der behauptete bisherige Gang des Verfahrens in Vietnam zu weiteren rechtsstaatlichen Bedenken Anlass geben, streifte das Kammergericht nur. In seinem Beschluss vom 22. Dezember 2004 stellte das Kammergericht zunächst fest, dass die Beschwerdeführerin nicht plausibel dargetan habe, dass die Strafverfolgung einen staatlichen oder privaten Racheakt darstellte. Nachdem die Beschwerdeführerin im Schriftsatz vom 17. Februar 2005 weitere Anhaltspunkte für einen privaten Racheakt genannt hatte, ging das Kammergericht in der Zulässigkeitsentscheidung vom 12. Mai 2005 jedoch nur noch darauf ein, ob der Staat (und nicht Private) den Strafvorwurf gegen die Beschwerdeführerin konstruiert habe. Zwar ist das Gericht, wie dargelegt, nicht gezwungen, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden. Doch das Kammergericht war in einen Dialog zur Beschwerdeführerin getreten, indem es Substantiierungslücken zum Vorliegen eines privaten Racheakts aufgezeigt hatte. Damit hatte es zu erkennen gegeben, dass die Lücken relevant seien. Dann wäre es aber folgerichtig gewesen, die daraufhin vertieften Ausführungen der Beschwerdeführerin zu beachten.
Hinzu kommt, dass das Kammergericht sich auch mit den drei Stellungnahmen von Organisationen zur Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens im Fall der Beschwerdeführerin nicht auseinandergesetzt hat. Selbst behördliche Äußerungen fanden keinen Niederschlag in den Entscheidungen. So hat das Kammergericht die Einschätzungen der Generalstaatsanwaltschaft vom 8. Februar 2005 zur Schuldverdachtsprüfung und die Stellungnahme der Botschaft Hanoi zur Frage der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens nicht erwähnt. Die Beschwerdeführerin hatte sich ausdrücklich auf die Stellungnahmen bezogen.
Dagegen ging das Kammergericht im Beschluss vom 11. März 2005 ohne weitere Begründung von einem rechtsstaatlichen Strafverfahren im Fall der Beschwerdeführerin aus. Indem es ausführte, die Glaubwürdigkeit von Belastungszeugen könne nur in einer Hauptverhandlung geprüft werden, setzte es eine ordnungsgemäße Hauptverhandlung voraus, in der sich die Beschwerdeführerin gegen eventuell konstruierte Vorwürfe ohne Probleme mit rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen könnte.
c) Die Ausführungen der Beschwerdeführerin zur Rechtsstaatlichkeit ihres Strafverfahrens sind unter zwei Gesichtspunkten maßgeblich für die Entscheidung:
Zum einen sind die deutschen Gerichte im Rahmen der Zulässigkeit der Auslieferung von Verfassungs wegen gehalten zu prüfen, ob die Auslieferung mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar ist. Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, niemanden zum bloßen Gegenstand eines Verfahrens zu machen. Insbesondere im Strafverfahren gilt das zwingende Gebot, dass der Beschuldigte im Rahmen der angemessenen Verfahrensregeln die tatsächliche Möglichkeit haben muss, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen und deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen. Der wesentliche Kern dieser Gewährleistungen gehört zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung und zum völkerrechtlichen Mindeststandard (vgl. grundlegend zum Abwesenheitsurteil BVerfGE 63, 332 ≪337 f.≫; im Einzelnen Grützner/Pötz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Band I, 2. Auflage, Stand Nov. 2004, § 73 IRG Rz. 67-81).
Zum andern ist der Vortrag für die Frage relevant, ob das Kammergericht in die Tatverdachtsprüfung nach § 10 Abs. 2 IRG eintreten muss. Eine solche Prüfung ist geboten, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Beschwerdeführerin in Vietnam ein Verfahren droht, das gegen unabdingbare, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard im Sinne des Art. 25 GG verstößt und die Tatverdachtsprüfung darüber Aufschluss geben kann (vgl. BGHSt 32, S. 314 ff.). Völkerrechtliche Mindeststandards können auch verletzt sein, wenn im Strafverfahren eine Aussage als Beweis verwendet wird, die unter Folter erpresst wurde (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1996 – 2 BvR 66/96 –, EuGRZ 1996, S. 324 ff.).
d) Eine gerichtliche Entscheidung kann nur dann wegen eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufgehoben werden, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Anhörung der Beteiligten zu einer anderen, für sie günstigeren Entscheidung geführt hätte (BVerfGE 7, 239 ≪241≫). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Kammergericht bei einer umfassenden Auswertung der Auskünfte unter Berücksichtigung des gesamten Vortrags der Beschwerdeführerin und anderer Behörden zu einem anderen Ergebnis kommt.
2. Im Übrigen ist die Entscheidung des Kammergerichts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen die tatsächlichen Einschätzungen des Kammergerichts wendet, sind die Entscheidungen am Willkürmaßstab des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen (vgl. BVerfGE 108, 129 ≪137≫). Das Bundesverfassungsgericht prüft danach nur, ob die Rechtsanwendung unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, die Entscheidung beruhe auf sachfremden Erwägungen (vgl. BVerfGE 80, 48 ≪51≫).
a) Das Kammergericht begründete nachvollziehbar, dass die Voraussetzungen der Auslieferung nach § 5 IRG (Gegenseitigkeit) und § 11 IRG (Spezialität) vorliegen und der Auslieferung kein Hindernis nach § 8 IRG (Todesstrafe) entgegensteht. Es verwies auf die Zusicherungen Vietnams und stellte, gestützt auf die Auskunft des Auswärtigen Amts vom 15. September 2005, fest, die Zusicherungen seien verlässlich.
b) Das Kammergericht legte plausibel dar, dass die Auslieferung ansonsten nicht gegen völkerrechtliche Mindeststandards und unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze verstoße (vgl. BVerfGE 59, 280 ≪282 ff.≫). Die unabdingbaren Grundsätze der verfassungsrechtlichen Ordnung würden verletzt, wenn der Beschwerdeführerin eine unerträglich harte Strafe drohte, die unter jedem denkbaren Gesichtspunkt als unangemessen erschiene oder wenn die Strafe als solche grausam, unmenschlich oder erniedrigend wäre (vgl. BVerfGE 75, 1 ≪16 ff.≫).
(1) Hinsichtlich der Haftbedingungen verwies das Kammergericht zu Recht auf die zuverlässigen Zusicherungen Vietnams in Bezug auf die Einhaltung der UN-Standards, den Schutz der Beschwerdeführerin vor Übergriffen der Mafia und das Besuchsrecht der deutschen Konsularbeamten. Es legte plausibel dar, dass der ergänzende Hinweis der vietnamesischen Behörden, vorher solle das Besuchsgesuch auf diplomatischem Wege mitgeteilt werden, das Besuchsrecht nicht entwerte.
(2) Hinsichtlich der drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe führte das Kammergericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise aus, dass die Strafe wegen des hohen Unrechtsgehalts der Drogendelikte nicht unverhältnismäßig sei (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. März 1994 – 2 BvR 2037/93 –, NJW 1994, S. 2884).
(3) Auch die Beurteilung des Kammergerichts zur Dauer der lebenslangen Haft steht mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen in Einklang. Diese sind gewahrt, wenn die Verurteilte jedenfalls eine praktische Chance hat, die Freiheit wieder zu erlangen (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 2005 – 2 BvR 2259/04 –, DVBl 2005, S. 1260 ff.). Das Kammergericht begründete das Vorliegen einer praktischen Chance willkürfrei mit § 58 Nr. 1 des vietnamesischen Strafvollstreckungsrechts, wonach das Gericht auf Antrag der zuständigen Behörde bei lebenslanger Freiheitsstrafe nach zwölf Jahren über eine Herabsetzung der Strafverbüßung entscheiden kann. Hinzu kommt, dass das Gericht nach § 59 des Gesetzes die Dauer der Strafverbüßung bei besonderen Milderungsgründen wie große Verdienste, hohes Alter und unheilbare Krankheit weiter verringern kann. Danach hat die Beschwerdeführerin eine – wenn auch gemessen an der deutschen Rechtslage möglicherweise geringere – Chance darauf, eine gegen sie verhängte lebenslange Freiheitsstrafe tatsächlich nicht bis zum Lebensende verbüßen zu müssen (vgl. Bundesverfassungsgericht, a.a.O.).
c) Auch die Begründung des Kammergerichts, Art. 6 Abs. 1 GG stehe der Auslieferung nicht entgegen, entspricht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. März 1994 – 2 BvR 2037/93 –, NJW 1994, S. 2884).
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Hassemer, Di Fabio, Landau
Fundstellen