Entscheidungsstichwort (Thema)
Umsatzsteuerhinterziehung durch Vortäuschen steuerfreier innergemeinschaftlicher Lieferungen mittels Scheingeschäften
Leitsatz (redaktionell)
Die Vollstreckung der Freiheitsstrafen aus dem Urteil des Landgerichts München II vom 28.11.2007, W5 KLs 68 Js 11618/06 - wird im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesetzt, weil eine Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG durch die angefochtenen Beschlüsse des Bundesgerichtshofs jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Der Bundesgerichtshof gelangt zur Begründung einer Umsatzsteuerpflicht und in deren Folge zu einer strafbaren Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO durch eine Auslegung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG, die Fragen nach der Grenze des möglichen Wortsinns der Norm aufwirft.
Normenkette
UStG § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Abs. 1 Buchst. b, §§ 6a, 13 Abs. 1 Nr. 1, § 13a Abs. 1 Nr. 1; UStDV § 17a Abs. 1, § 17c Abs. 1; AO § 370 Abs. 1 Nr. 1; EWGRL 388/77 Art. 13 Teil B Buchst. F; GG Art. 103 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafen aus dem Urteil des Landgerichts München II vom 28. November 2007, W5 KLs 68 Js 11618/06, wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer – längstens für die Dauer von sechs Monaten (§ 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG) – ausgesetzt.
2. Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern jeweils die notwendigen Auslagen für das Verfahren der einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Tatbestand
I.
1. Wegen Steuerhinterziehung in vierzehn Fällen und wegen versuchter Steuerhinterziehung in zwei Fällen wurden die Beschwerdeführer mit Urteil des Landgerichts München II vom 28. November 2007 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten beziehungsweise drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Beschwerdeführer, welche mit Kraftfahrzeugen handelten, erwarben im Inland gegen Rechnung mit offen ausgewiesener Umsatzsteuer hochwertige Personenkraftwagen, die sie sodann an ihre in Italien gewerblich tätigen Kunden verkauften. In Absprache mit ihren Abnehmern stellten sie ihre Ausgangsrechnungen auf italienische Scheinkäufer aus, die ihrerseits die Fahrzeuge zum Schein an Zwischenhändler verkauften. In einem weiteren Scheingeschäft verkauften diese Zwischenhändler die Fahrzeuge an die tatsächlichen Abnehmer der Beschwerdeführer und wiesen in den diesbezüglichen Ausgangsrechnungen die italienische Umsatzsteuer offen aus. Hierdurch sollte dem Endabnehmer der Vorsteuerabzug in Italien ermöglicht werden, während die Aussteller der Scheinrechnungen zu keiner Zeit die bei ihnen anfallende Umsatzsteuer abführten. In ihren eigenen Umsatzsteuerjahreserklärungen gaben die Beschwerdeführer die Umsätze aus den Geschäften mit den italienischen Scheinkäufern als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung nach § 6a UStG an.
Das Landgericht legte den Beschwerdeführern zur Last, Umsatzsteuer in Höhe von 3,6 Mio. Euro hinterzogen zu haben. Dies durch folgende Vorgehensweisen:
Der erste Komplex betraf den Erwerb der Fahrzeuge durch die Beschwerdeführer. Ihnen wird vorgeworfen, in ihrer Umsatzsteuer-Jahreserklärung 2004 und in ihren Umsatzsteuer-Voranmeldungen für die Jahre 2005 und 2006 Vorsteuererstattungen geltend gemacht zu haben, die ihnen nicht zustanden. Hierzu seien Rechnungen einer Lieferfirma vorgelegt worden, die nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprochen hätten. Es habe an der Unternehmereigenschaft der Rechnungsausstellerin gefehlt, da es sich hierbei um ein so genanntes Strohmanngeschäft gehandelt habe.
Der zweite Komplex betraf die Veräußerung der Fahrzeuge. Durch die Beschwerdeführer seien Fahrzeuglieferungen als Lieferungen im innergemeinschaftlichen Verkehr im Sinne von § 6a UStG deklariert worden, obwohl dessen Voraussetzungen nicht vorgelegen hätten. Nach Ansicht des Landgerichts hatte es an einem ordnungsgemäßen formellen Nachweis der Lieferung an den Rechnungsempfänger nach § 6a Abs. 3 Satz 1 UStG gefehlt.
Durch Beschluss vom 20. November 2008 verwarf der Bundesgerichtshof die Revisionen. Im Gegensatz zur Auffassung des Landgerichts sei jedoch das Fehlen eines ordnungsgemäßen Nachweises nicht maßgebend. Die in § 6a Abs. 3 Satz 1 UStG normierten Nachweispflichten seien keine materielle Voraussetzung für die Befreiung von der Umsatzsteuer, mit der Folge, dass bei objektivem Vorliegen der Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 UStG die Steuerbefreiung zu gewähren sei. Jedoch stelle die Lieferung von Gegenständen an einen Abnehmer im übrigen Gemeinschaftsgebiet dann keine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung im Sinne des § 6a UStG dar, wenn der inländische Unternehmer (hier die Beschwerdeführer) in kollusivem Zusammenwirken mit dem Abnehmer die Lieferung an einen Zwischenhändler vortäusche, um dem Abnehmer die Hinterziehung von Steuern zu ermöglichen. Die als innergemeinschaftliche Lieferung bezeichneten Warensendungen an die Zwischenhändler hätten vorliegend nicht stattgefunden. Es habe sich vielmehr um Scheingeschäfte gehandelt, so dass es bereits an einer Lieferung im Sinne von § 6a UStG fehle. Hinsichtlich der Lieferungen an die tatsächlichen Erwerber fehle es am Vorliegen der Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG (Anfallen der italienischen Umsatzsteuer). Bei der Auslegung dieser Vorschrift sei Gemeinschaftsrecht, auf dessen Umsetzung die Norm beruhe, zu beachten. Diese greife dann nicht ein, wenn die im Bestimmungsland (Italien) vorgesehene Erwerbsbesteuerung der konkreten Lieferung nach dem übereinstimmenden Willen von Unternehmer und Abnehmer durch Verschleierungsmaßnahmen und falsche Angaben gezielt umgangen werden solle, um dem Unternehmer oder dem Abnehmer einen ungerechtfertigten Steuervorteil zu verschaffen. Vorliegend sei sämtlichen Beteiligten des Kettengeschäfts klar gewesen, dass in Italien keine Umsatzsteuer abgeführt werde. Die Beteiligten hätten sich so unter Ausnutzung der formalen Vorgaben der einschlägigen Bestimmungen Wettbewerbsvorteile verschafft, die von dem gemeinsamen Umsatzsteuersystem nicht bezweckt würden. Aufgrund des Vorliegens einer gesicherten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs habe keine Vorlagepflicht bestanden.
Durch Beschluss vom 5. Februar 2009 wurden die Anhörungsrügen zurückgewiesen.
2. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 20 GG, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 103 Abs. 1 und Abs. 2 GG. Sie beantragen, die Vollziehung der im Tenor genannten Entscheidung im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung liegen vor. Der zulässige Antrag ist begründet.
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 103, 41 ≪42≫; stRspr). Bei offenem Ausgang muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 99, 57 ≪66≫; stRspr).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch in Gänze offensichtlich unbegründet. Nach dem Vorbringen der Beschwerdeführer ist insbesondere eine Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG durch die angefochtenen Beschlüsse des Bundesgerichtshofs jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen. Der Bundesgerichtshof gelangt zur Begründung einer Umsatzsteuerpflicht und in deren Folge zu einer strafbaren Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO durch eine Auslegung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG, die Fragen nach der Grenze des möglichen Wortsinns der Norm aufwirft.
3. Im Rahmen der somit erforderlichen Abwägung überwiegen die Gründe für den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, könnten die Freiheitsstrafen in der Zwischenzeit vollstreckt werden. Dies wäre ein erheblicher, irreparabler Eingriff in das besonders gewichtige (vgl. BVerfGE 65, 317 ≪322≫) Recht auf die Freiheit der Person (vgl. BVerfGE 22, 178 ≪180≫; 104, 220 ≪234≫).
Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später jedoch als unbegründet, wögen die damit verbundenen Nachteile deutlich weniger schwer. Zwar könnte dann der noch zur Vollstreckung ausstehende Rest der rechtskräftig erkannten Freiheitsstrafen vorübergehend nicht vollstreckt werden. Angesichts der nur sehr geringen Strafreste von einem Monat beziehungsweise 74 Tagen ist jedoch nicht ersichtlich, dass durch das Zurücktreten des öffentlichen Interesses an einer nachdrücklichen und beschleunigten Vollstreckung rechtskräftig verhängter Freiheitsstrafen (vgl. § 2 Abs. 1 und 2 StVollstrO) ein erheblicher Nachteil für das Wohl der Allgemeinheit zu besorgen wäre.
4. Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Landau
Fundstellen
Haufe-Index 2194394 |
BFH/NV 2009, 1767 |
HFR 2009, 1031 |
UR 2009, 898 |