Verfahrensgang
Tenor
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Gemünden am Main vom 11. Juli 2002 – 5 Ds 227 Js 14540/98 – und des Landgerichts Würzburg vom 30. August 2002 – 1 Qs 239/02 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Gemünden am Main zurückverwiesen.
Der Beschluss des Landgerichts Würzburg vom 6. August 2002 – 1 Qs 239/02 – ist gegenstandslos.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die im Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft ein strafrechtliches Wiederaufnahmeverfahren.
A. – I.
1. Der Beschwerdeführer wurde am 17. März 1999 vom Amtsgericht Würzburg wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Er habe am 22. März 1998 seiner von ihm innerhalb der gemeinsamen Wohnung getrennt lebenden Ehefrau in der Speisekammer ein Stück gefrorenes Bratenfleisch (1 – 1,5 kg) auf den Hinterkopf geschlagen, als sie vor der Tiefkühltruhe gestanden habe. Dadurch habe er zwei stark blutende, parallel verlaufende, 4 bzw. 8 cm lange Platzwunden und eine Gehirnerschütterung verursacht.
Den Aussagen des Beschwerdeführers und der Geschädigten seien drei mögliche Varianten des Geschehensablaufs zu entnehmen, nämlich dass entweder die Geschädigte sich am Kühltruhendeckel gestoßen habe, oder der Beschwerdeführer ein Fleischstück über sie hinweg in die Kühltruhe zurückgeworfen und sie dabei gestreift habe oder der Beschwerdeführer sie geschlagen habe, wie es das Gericht schließlich festgestellt hat.
Das Amtsgericht hielt im Rahmen der Beweiswürdigung fest, dass die Zeugenaussage der Geschädigten allein nicht dazu ausreiche, den Beschwerdeführer zu verurteilen. Bei ihr liege vor dem Hintergrund der Zerrüttung der Ehe eine eindeutige Belastungstendenz vor, die ihre Glaubwürdigkeit in Frage stelle. Entscheidende Beweisgrundlage des Urteils seien der durchgeführte Augenschein und das Sachverständigengutachten des Rechtsmediziners Dr. T. Dieser habe als Voraussetzung für die Entstehung der Platzwunden eine erhebliche Gewalteinwirkung auf den Hinterkopf des Opfers angenommen, die mit einem Stoßen am Kühltruhendeckel und einem Streifen durch ein in die Truhe zurückgeworfenes Stück Fleisch nicht erklärbar sei. Hingegen sei ein Hieb mit dem gefrorenen Fleischstück ohne Weiteres mit dem von der Geschädigten beschriebenen Ablauf vereinbar. Auch ein Sturz der Geschädigten zu Boden erkläre die Wunden nicht.
Das Urteil wurde nach wechselseitiger Berufungsrücknahme durch die Staatsanwaltschaft und den Beschwerdeführer in der Berufungshauptverhandlung vom 7. Oktober 1999 rechtskräftig.
2. Mit Schriftsatz vom 29. März 2001 beantragte der Beschwerdeführer zum zweiten Mal die Wiederaufnahme des Verfahrens. Zur Erzeugung einer Kopfplatzwunde mit einem harten, gegenüber dem menschlichen Schädel unnachgiebigen Gegenstand sei eine kinetische Energie von mindestens 50 Newtonmeter erforderlich; die maximal mit der Hand zu erzielende Geschwindigkeit im Falle des Schlages mit einem 1 bis 1,5 kg schweren gefrorenen Fleischstück liege bei 5 bis 6 Meter pro Sekunde; die bei einem derartigen Schlag entwickelte kinetische Energie erreiche maximal 24 Newtonmeter. Der Wiederaufnahmeantrag stützt sich auf ein Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München vom 15. Februar 2001.
3. Das Amtsgericht Gemünden am Main verwarf diesen Wiederaufnahmeantrag mit Beschluss vom 13. August 2001 als unzulässig. Auf sofortige Beschwerde hin hob das Landgericht Würzburg mit Beschluss vom 7. Dezember 2001 den Beschluss des Amtsgerichts auf und erklärte den Wiederaufnahmeantrag für zulässig.
4. Das Amtsgericht führte die Beweisaufnahme entsprechend dem Beweisbeschluss vom 11. Januar 2002 am 12. März 2002 in nicht öffentlicher Sitzung durch. Die Verteidigung äußerte sich mit Schriftsatz vom 6. Mai 2002 zum Beweisergebnis.
5. Mit Beschluss vom 11. Juli 2002 verwarf das Amtsgericht den Wiederaufnahmeantrag als unbegründet. Der Sachverständige Prof. Dr. B. halte eine Verursachung der Kopfschwartendurchtrennung durch einen horizontal geführten Schlag für ausgeschlossen. Das Erstgericht sei aber nicht von einem horizontal geführten Schlag ausgegangen. Bezüglich anderer Schlagrichtungen habe der Sachverständige keine Ausführungen bezüglich der Kraftaufwendung und Kraftentfaltung gemacht. Es seien in der Begründetheitsprüfung nur die Beweise vom Wiederaufnahmegericht zu würdigen, die bereits in erster Instanz erhoben und aufgrund des zulässigen Wiederaufnahmeantrags erbracht worden seien. In den Wiederaufnahmeanträgen vorgebrachte Vermutungen und Schlussfolgerungen stellten keine Beweise im Sinne des Wiederaufnahmeverfahrens dar. Die Urteilsfeststellungen, die von einem Schlag, der also auch vertikal oder aus anderer Richtung geführt werden könne, ausgingen, seien durch die Behauptungen des Beschwerdeführers im Wiederaufnahmeantrag zur Kausalität zwischen Schlag und Verletzung nicht erschüttert.
6. Die von der Verteidigung fristwahrend ohne Begründung eingelegte sofortige Beschwerde verwarf das Landgericht mit Beschluss vom 6. August 2002, der der Verteidigung am 8. August 2002 zuging, als unbegründet.
7. Der Beschwerdeführer erhob Gegenvorstellung. Der Tatrichter sei im Anschluss an die Ausführungen des Sachverständigen Dr. T. davon ausgegangen, dass die Verletzung am Hinterkopf eine möglichst senkrechte Gewalteinwirkung erfordere. Er habe letztlich die Aussage der Geschädigten unterstellt, wonach sie gestanden sei und gerade habe die Truhe schließen wollen, als sie einen Schlag bekommen habe. Daraus ergebe sich notwendig, dass der Schlag des Beschwerdeführers mit ausgestrecktem Arm horizontal zum Boden geführt sein müsse, um senkrecht (radial) den Hinterkopf der Geschädigten zu treffen. Deshalb habe bei der Anhörung der insgesamt vier Sachverständigen vor dem Amtsgericht Gemünden am Main die Frage, ob neben einer horizontalen auch eine vertikale oder schräge Schlagrichtung in Betracht komme und wie sich hierdurch das Bild einer Verletzung verändern könne, keinerlei Rolle gespielt. Aus dem Sitzungsprotokoll ergebe sich, dass weder der Richter noch der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft noch die übrigen Verfahrensbeteiligten Alternativen einer schrägen oder vertikalen Schlagrichtung angesprochen, geschweige denn zum Gegenstand einer klärenden Nachfrage gemacht hätten. Der Sachverständige Prof. Dr. B. hätte ansonsten klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass seine Einschätzungen über die erforderliche kinetische Energie auch für einen in vertikaler oder schräger Richtung geführten Schlag gelten, wie seine beigefügte ergänzende gutachterliche Äußerung vom 3. August 2002 belege. Das Amtsgericht habe eine Überraschungsentscheidung getroffen, die den Überlegungen des Landgerichts im Beschluss vom 7. Dezember 2001 Hohn spreche.
8. Das Landgericht wies die Gegenvorstellung mit Beschluss vom 30. August 2002 zurück. Soweit die Verteidigung auf Ausführungen des Zulassungsbeschlusses des Landgerichts Bezug nehme, gehe es davon aus, dass ihr die unterschiedlichen Prüfungsmaßstäbe im Aditions- und Probationsverfahren bekannt seien. Im Übrigen verschweige sie, dass die weiteren gehörten Sachverständigen Dr. T. und Prof. Dr. P. durchaus anderer Meinung gewesen seien als die Sachverständigen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München. Soweit Ausführungen zur Schlagrichtung gemacht würden, genüge der Hinweis, dass nach den Urteilsfeststellungen die Nebenklägerin stehend getroffen worden sei, so dass die von den Sachverständigen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München herangezogene horizontale Schlagrichtung von vornherein – ohne medizinische oder physikalische Spezialkenntnisse – ausscheide. Weiterhin habe der Sachverständige Prof. Dr. B. nach der Niederschrift des Amtsgerichts Gemünden am Main vom 12. März 2002 selbst angegeben: „Wir haben nur die horizontale Bewegung gemessen”.
II.
Mit der rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG.
Das Landgericht versuche den Eindruck zu vermitteln, die Sachverständigen hätten einen zentralen Punkt schlicht übersehen, nämlich dass nach den Feststellungen des Amtsgerichts die Geschädigte gestanden habe, als sie vom Schlag getroffen worden sei. Aus diesem Grund scheide nach Auffassung des Landgerichts die von den Sachverständigen angenommene horizontale Schlagrichtung „ohne medizinische oder physikalische Spezialkenntnisse” von vornherein aus. Diese Überlegung offenbare, dass das Gericht sich mit dem Vorbringen der Verteidigung im Schriftsatz vom 11. August 2002 und der beigefügten Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. B. offenbar überhaupt nicht befasst habe. Darin sei nochmals nachdrücklich auseinander gesetzt worden, weshalb die aufrechte Stellung der Zeugin zwangsläufig zur Annahme einer horizontalen Schlagrichtung führe. Vom Landgericht werde richtig gesehen, dass nach den Feststellungen des Amtsgerichts die Geschädigte stehend getroffen worden sei. Dies wiederum offenbare die Willkür der vorausgegangenen Entscheidung des Amtsgerichts, das behaupte, im Urteil sei über eine Schlagrichtung – zumal über eine horizontale – nichts gesagt worden. Die geleugnete horizontale Schlagrichtung ergebe sich zwangsläufig, weil die Platzwunden nur bei einem senkrechten Auftreffen (senkrecht bezogen auf die Seite des Kopfes, damit aber horizontal zum Boden) herbeigeführt werden könnten, während die vom Amtsgericht nunmehr ins Spiel gebrachte schräge oder vertikale Schlagrichtung nur zu einer tangentialen Berührung der Kopfschwarte führe und damit auch weniger kinetische Energie auf den Verletzungspunkt einwirke.
Es widerspreche jedem richterlichen Verhaltenskodex und bringe den Beschwerdeführer um seinen Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz, dass sich der Amtsrichter über mehrere Stunden die Sachverständigen anhöre, ohne ein einziges Mal die von ihm ins Auge gefasste Variante vertikaler oder schräger Schlagrichtung überhaupt anzusprechen, diese Variante stattdessen erstmals und überraschend vier Monate nach der Anhörung zu Papier bringe.
III.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2002 Stellung genommen. Es hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§§ 93b Satz 1, 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist, da die Gegenvorstellung als Antrag auf nachträgliche Gewährung rechtlichen Gehörs im Sinne des § 33a StPO gewertet werden kann (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 9. September 1997 – 2 BvQ 23/97 – JURIS), zulässig und – in einer die Entscheidungszuständigkeit der Kammer eröffnenden Weise – auch offensichtlich begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
I.
1. Das Gebot rechtlichen Gehörs soll unter anderem gewährleisten, dass der Einzelne nicht bloßes Objekt des Verfahrens ist, sondern vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommt, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 7, 275 ≪279≫; 55, 1 ≪5 f.≫; 57, 250 ≪275≫). Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten in einem gerichtlichen Verfahren die Gelegenheit, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern (vgl. BVerfGE 1, 418 ≪429≫; stRspr). An einer solchen Gelegenheit fehlt es nicht erst dann, wenn ein Beteiligter gar nicht zu Wort gekommen ist oder wenn das Gericht seiner Entscheidung Tatsachen zugrunde legt, zu denen die Beteiligten nicht Stellung nehmen konnten (vgl. BVerfGE 10, 177 ≪182 f.≫; 19, 32 ≪36≫; stRspr). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährung rechtlichen Gehörs setzt auch voraus, dass der Verfahrensbeteiligte bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt zwar grundsätzlich nicht, dass das Gericht vor der Entscheidung auf seine Rechtsauffassung hinweist; ihm ist auch keine allgemeine Frage- und Aufklärungspflicht des Richters zu entnehmen (vgl. BVerfGE 66, 116 ≪147≫). Es kommt jedoch im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis Anforderungen an den Sachvortrag stellt, mit denen auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 ≪190≫).
2. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Gerichte brauchen sich dabei jedoch nicht mit jedem Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich auseinander zu setzen. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Beteiligtenvorbringen auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Damit das Bundesverfassungsgericht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG feststellen kann, müssen deshalb im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 22, 267 ≪274≫; 96, 205 ≪216 f.≫; stRspr). Geht das Gericht allerdings auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133 ≪146≫).
II.
Diesem verfassungsrechtlichen Maßstab werden die Beschlüsse des Amtsgerichts Gemünden am Main vom 11. Juli 2002 und des Landgerichts Würzburg vom 30. August 2002 nicht gerecht.
1. Die Auffassung des Amtsgerichts, zu anderen Schlagrichtungen als der horizontalen hätten die Sachverständigen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München keine Ausführungen gemacht, war für den Beschwerdeführer nicht voraussehbar. Ebenso wenig konnte er erkennen, dass das Amtsgericht die Kausalität zwischen Schlag und Verletzung als nicht erschüttert betrachtete, zumal bei der Begründetheitsprüfung im Wiederaufnahmeverfahren nur die Beweise zu würdigen seien, die bereits in erster Instanz erhoben und aufgrund des zulässigen Wiederaufnahmeantrags erbracht worden seien. Das zeigt sich zunächst daran, dass der Verteidiger in der Erklärung nach Schluss der Beweisaufnahme (vgl. § 369 Abs. 4 StPO) aus dem Protokoll die Aussagen dieser Sachverständigen zitiert hat, ohne Passagen zur untersuchten Schlagrichtung wegzulassen. Zwar durfte der Beschwerdeführer, auch wenn der Wiederaufnahmeantrag für zulässig erachtet worden war, mangels Bindungswirkung von Zulassungsbeschlüssen nicht darauf vertrauen, dass das Gericht auch weiterhin das vorgelegte rechtsmedizinische Gutachten für geeignet halten würde, das angegriffene Urteil zu erschüttern. Jedenfalls aber war das Amtsgericht verpflichtet, die angetretenen Beweise auszuschöpfen. Ungeachtet des Streits um Geltung und Umfang der Offizialmaxime im Probationsverfahren (vgl. z.B. Gössel in Löwe-Rosenberg, 25. Auflage, 1998, Rn. 3 zu § 369 StPO; Schmidt in Karlsruher Kommentar, 4. Auflage, 1999, Rn. 2 zu § 369 StPO; Krehl in Heidelberger Kommentar, 3. Auflage, 2001, Rn. 2 zu § 369 StPO) ergibt sich aus dem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren, dass auch für die außerhalb des prozessualen Hauptverfahrens zu treffenden Entscheidungen die Ermittlung des wahren Sachverhalts von zentraler Bedeutung bleibt, weil sonst das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann (vgl. BVerfGE 57, 250 ≪257≫; 86, 288 ≪317≫). Zur Ausschöpfung der angetretenen Beweise wären Nachfragen an die Sachverständigen bezüglich anderer als horizontaler Schlagrichtungen nötig gewesen, die ausweislich des Protokolls über die Beweisaufnahme nicht erfolgt sind.
2. Dieser Mangel rechtlichen Gehörs ist auch nicht durch die Entscheidung des Landgerichts über die Gegenvorstellung geheilt worden. Das Landgericht hat in seiner die Gegenvorstellung zurückweisenden Entscheidung die Auffassung vertreten, es genüge der Hinweis, dass nach den Urteilsfeststellungen die Nebenklägerin stehend getroffen worden sei, so dass die von den Sachverständigen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München herangezogene horizontale Schlagrichtung von vornherein – ohne medizinische oder physikalische Spezialkenntnisse – ausscheide. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, worauf das Gericht diesen Schluss gründet, ergibt sich daraus eindeutig, dass es die ergänzende Stellungnahme des Gutachters vom 3. August 2002 nicht in Erwägung gezogen hat, wonach die Feststellungen des Gutachtens vom 15. Februar 2001 auch für andere als horizontale Schlagrichtungen Gültigkeit besitzen. Dieses Vorbringen war für die Beurteilung des Wiederaufnahmeantrags wesentlich und musste auch nach der Rechtsauffassung des Landgerichts von zentraler Bedeutung sein. Wenn auch andere als horizontale Schlagrichtungen die verursachten Verletzungen nicht erklären können, bleibt die Begründung des Landgerichts ohne tragfähige tatsächliche Grundlage.
3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der festgestellten Verletzung des Prozessgrundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG. Es lässt sich nicht ausschließen, dass das Amtsgericht bei entsprechenden Nachfragen an die Sachverständigen im Anhörungstermin des Probationsverfahrens und das Landgericht bei Berücksichtigung der ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme im Sinne des Beschwerdeführers entschieden hätten. Die Erwägungen des Landgerichts, die weiteren gehörten Sachverständigen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Würzburg seien durchaus anderer Meinung gewesen als die Sachverständigen des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München, tragen seine Entscheidung nicht, zumal diese Gutachter ausgeführt haben, die Verursachung der Verletzung sei, so wie sie im Urteil zugrunde gelegt worden sei, ihrer Meinung nach zwar nicht ausgeschlossen; „nicht ausgeschlossen” sei dabei aber die unterste Stufe der Wahrscheinlichkeitsleiter.
III.
1. Die Beschlüsse des Amtsgerichts Gemünden am Main vom 11. Juli 2002 und des Landgerichts Würzburg vom 30. August 2002 sind deshalb aufzuheben, ohne dass es einer Entscheidung über die weiteren Grundrechtsrügen bedarf. Die Sache ist an das Amtsgericht Gemünden am Main zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Damit ist der ebenfalls angegriffene Beschluss des Landgerichts Würzburg vom 6. August 2002 gegenstandslos.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Jentsch, Broß, Lübbe-Wolff
Fundstellen
Haufe-Index 1267253 |
NPA 2003, 0 |
StV 2003, 223 |