Entscheidungsstichwort (Thema)
Duales System des Kinder- und Familienlastenausgleichs
Verfahrensgang
SG Köln (Entscheidung vom 17.08.1998; Aktenzeichen S 23 Kg 68/95) |
Tenor
Die Vorlage ist unzulässig.
Tatbestand
A.
Die Vorlage des Sozialgerichts betrifft die Frage, ob § 44 e BKGG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1992 vom 25. Februar 1992 (BGBl I S. 297) in Verbindung mit § 10 Abs. 2 BKGG in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (BGBl I S. 1857) für die Jahre 1983 bis 1985 mit Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist.
I.
1. Durch das Haushaltsbegleitgesetz 1983 wurde das so genannte duale System des Kinder- und Familienlastenausgleichs wieder eingeführt. Neben einem Kindergeld wurden Kinderfreibeträge bei der Einkommensteuer gewährt. Die Höhe des Kindergeldes war in § 44 e in Verbindung mit § 10 BKGG festgelegt, der Kinderfreibetrag ergab sich aus den §§ 32, 54 EStG. Die genannten Regelungen haben, soweit hier einschlägig, den folgenden Wortlaut:
§ 44 e BKGG
(1) Die Minderung des Kindergeldes für das zweite Kind nach § 10 Abs. 2 entfällt für die Jahre 1983 bis 1985 in den Fällen, in denen über die Minderung noch nicht bindend entschieden worden ist. … Die Sätze 1 und 2 gelten nicht für Jahre, für die bei dem Berechtigten für das Kind nach § 32 Abs. 8 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des … Steueränderungsgesetzes 1991 … ein Kinderfreibetrag von 2.432 Deutsche Mark … abgezogen werden kann.
(2) Für die Jahre 1983 bis 1985 erfolgt die Minderung des Kindergeldes nach § 10 Abs. 2 für das dritte, vierte oder fünfte Kind eines Berechtigten, dem für kein sechstes oder weiteres Kind Kindergeld zustand, in den Fällen, in denen über die Minderung noch nicht bindend entschieden worden ist, mit der Maßgabe, dass als Sockelbetrag für das jeweils jüngste dieser Kinder vorbehaltlich des § 10 Abs. 2 Satz 2
- 200 Deutsche Mark, wenn dieses Kind das dritte ist,
- 180 Deutsche Mark, wenn dieses Kind das vierte ist,
- 155 Deutsche Mark, wenn dieses Kind das fünfte ist,
zu berücksichtigen sind. … Satz 1 sowie Absatz 1 Satz 2, soweit dieser nach Satz 2 anzuwenden ist, gelten nicht für ein Jahr, für das dem Berechtigten Kindergeld
- für ein drittes, nicht aber ein weiteres Kind zustand…;
- …;
- für ein fünftes Kind zustand und bei ihm für eines der Kinder, für die ihm Kindergeld zustand, einer der in Absatz 1 Satz 4 genannten Kinderfreibeträge abgezogen werden kann.
§ 10 BKGG
(1) Das Kindergeld beträgt für das 1. Kind 50 Deutsche Mark, für das 2. Kind 100 Deutsche Mark, für das 3. Kind 220 Deutsche Mark und für das 4. und jedes weitere Kind je 240 Deutsche Mark monatlich.
(2) Das Kindergeld für das 2. und jedes weitere Kind wird nach dem in Satz 4 genannten Maßstab stufenweise bis auf einen Sockelbetrag von
- 70 Deutsche Mark für das 2. Kind,
- 140 Deutsche Mark für jedes weitere Kind
gemindert, wenn das Jahreseinkommen des Berechtigten und seines … Ehegatten den für ihn maßgeblichen Freibetrag um wenigstens 480 Deutsche Mark übersteigt. … Der Freibetrag setzt sich zusammen aus
25.920 Deutsche Mark für Berechtigte, die verheiratet sind …,
…
sowie 7.800 Deutsche Mark für jedes Kind, für das dem Berechtigten Kindergeld zusteht …. Für je 480 Deutsche Mark, um die das Jahreseinkommen den Freibetrag übersteigt, wird das Kindergeld um 20 Deutsche Mark monatlich gemindert; kommt die Minderung des für mehrere Kinder zu zahlenden Kindergeldes in Betracht, wird sie beim Gesamtkindergeld vorgenommen.
§ 32 Abs. 8 EStG
Für jedes Kind des Steuerpflichtigen … wird ein Kinderfreibetrag von 432 Deutsche Mark gewährt. …
§ 54 Abs. 1 EStG
§ 32 Abs. 8 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 … ist für die Veranlagungszeiträume 1983 bis 1985 in der folgenden Fassung anzuwenden, wenn die betreffende Steuerfestsetzung am 28. Juni 1991 noch nicht bestandskräftig ist:
„(8) Bei Kindern des Steuerpflichtigen … wird ein Kinderfreibetrag von 2.432 Deutsche Mark für das erste Kind, von 1.832 Deutsche Mark für das zweite Kind und von 432 Deutsche Mark für jedes weitere Kind gewährt. …”
2. Mit dem Gesetz zur Familienförderung vom 22. Dezember 1999 (BGBl I S. 2552) wurde die Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes für nicht bestandskräftige Entscheidungen aus den Jahren 1983 bis 1995 neu geregelt. In das Einkommensteuergesetz wurde § 53 neu eingefügt. Die Vorschrift lautet:
Sondervorschrift zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes in den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1985
In den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1995 sind in Fällen, in denen die Einkommensteuer noch nicht formell bestandskräftig oder hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge vorläufig festgesetzt ist, für jedes bei der Festsetzung berücksichtigte Kind folgende Beträge als Existenzminimum des Kindes steuerfrei zu belassen:
1983 |
3.732 Deutsche Mark, |
1984 |
3.864 Deutsche Mark, |
1985 |
3.924 Deutsche Mark, |
… .
… das dem Steuerpflichtigen im jeweiligen Veranlagungszeitraum zustehende Kindergeld (ist) mit dem auf das bisherige zu versteuernde Einkommen des Steuerpflichtigen in demselben Veranlagungszeitraum anzuwendenden Grenzsteuersatz in einen Freibetrag umzurechnen; …. Erreicht die Summe aus dem bei der bisherigen Einkommensteuerfestsetzung abgezogenen Kinderfreibetrag und dem … berechneten Freibetrag nicht den … maßgeblichen Betrag, ist der Unterschiedsbetrag vom bisherigen zu versteuernden Einkommen abzuziehen und die Einkommensteuer neu festzusetzen. …
In das Bundeskindergeldgesetz wurde § 21 BKGG eingefügt, der folgenden Wortlaut hat:
Sondervorschrift zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes in den Veranlagungszeiträumen 1983 bis 1985 durch Kindergeld
In Fällen, in denen die Entscheidung über die Höhe des Kindergeldanspruchs für Monate in dem Zeitraum zwischen dem 1. Januar 1983 und dem 31. Dezember 1995 noch nicht bestandskräftig geworden ist, kommt eine von den §§ 10 und 11 … abweichende Bewilligung von Kindergeld nur in Betracht, wenn die Einkommensteuer formell bestandskräftig und hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge nicht vorläufig festgesetzt sowie das Existenzminimum des Kindes nicht unter der Maßgabe des § 53 des Einkommensteuergesetzes steuerfrei belassen worden ist. … die Familienkasse (hat) den vom Finanzamt ermittelten Unterschiedsbetrag zwischen der festgesetzten Einkommensteuer und der Einkommensteuer, die nach § 53 Satz 6 des Einkommensteuergesetzes festzusetzen gewesen wäre, wenn die Voraussetzungen nach § 53 Satz 1 und 2 des Einkommensteuergesetzes vorgelegen hätten, als zusätzliches Kindergeld zu zahlen.
II.
1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens bezog in den Jahren 1983 bis 1985 für sechs beziehungsweise ab August 1985 für fünf Kinder Kindergeld. Dem Kläger wurde gemindertes Kindergeld mit Beträgen zwischen 540 DM und 910 DM monatlich gezahlt, da sein Einkommen den Freibetrag von 72.720 DM überstieg. Ohne die Minderung hätte das Kindergeld monatlich 850 DM beziehungsweise 1.090 DM betragen.
2. Mit seiner gegen den Kindergeldbescheid erhobenen Klage beim Sozialgericht begehrt der Kläger die Zahlung des Kindergeldes in ungekürzter Höhe. Das Sozialgericht hat das Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage eingeholt, ob § 44 e BKGG in Verbindung mit § 10 Abs. 2 BKGG mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die genannten Vorschriften seien entscheidungserheblich, weil die darin genannten Voraussetzungen für eine Minderung des Kindergeldes beim Kläger vorlägen. Sie seien jedoch mit Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar. Der Staat müsse dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt werde. Das folge aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). Art. 6 Abs. 1 GG gebiete zudem, bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei zu lassen. Kindesunterhalt dürfe dabei auch deshalb nicht unberücksichtigt bleiben, weil sonst Steuerpflichtige mit Kindern gegenüber kinderlosen Steuerpflichtigen unter Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG benachteiligt würden. Dem Kindergeld komme insoweit eine steuerliche Entlastungsfunktion zu. Rechne man das gekürzte Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag um, so ergebe sich zusammen mit den für die Jahre 1983 bis 1985 maßgeblichen Kinderfreibeträgen eine Summe, die den durchschnittlichen jährlichen Sozialhilfebedarf nicht erreiche und damit unter dem Existenzminimum liege.
Entscheidungsgründe
B.
Die Vorlage ist unzulässig.
Eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur zulässig, wenn es für die im Ausgangsverfahren zu treffende Entscheidung auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift ankommt und das vorlegende Gericht von deren Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Denn das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist allein dann gerechtfertigt, wenn die Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage zur abschließenden Beurteilung des Falles unerlässlich ist (vgl. BVerfGE 78, 201 ≪203 f.≫; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993, 1 BvL 12/92, SozVers 1994, S. 110).
Die Entscheidungserheblichkeit der zur Prüfung gestellten Norm muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegeben sein (vgl. BVerfGE 51, 161 ≪163 f.≫; 82, 156 ≪158≫; 85, 191 ≪203≫). Dies gilt auch im Hinblick auf Gesetzesänderungen während des Vorlageverfahrens, insbesondere wenn die Änderungen rückwirkend in Kraft getreten sind. Das vorlegende Gericht muss in einem solchen Fall die geänderte Fassung ausdrücklich zum Gegenstand der Vorlage machen. Zwischenzeitliche, entscheidungserhebliche Gesetzesänderungen, mit denen sich das vorlegende Gericht nicht auseinandergesetzt hat, sind nur dann durch das Bundesverfassungsgericht von Amts wegen in die Prüfung einzubeziehen, wenn die Begründung des Vorlagebeschlusses gleichermaßen für die neue Gesetzesfassung zutrifft, wenn also der sachliche Gehalt der vom Gericht zur Prüfung vorgelegten Vorschriften wesentlich erhalten geblieben ist (vgl. BVerfGE 67, 256 ≪273≫; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 13. Dezember 1993, 1 BvL 12/92, SozVers 1994, S. 110).
Nach diesen Maßstäben hätte das vorlegende Gericht die Sondervorschriften zur Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes für den hier maßgeblichen Veranlagungszeitraum im Gesetz zur Familienförderung nachträglich zum Gegenstand der Vorlage machen müssen. Die zur Prüfung gestellten Normen sind nicht mehr entscheidungserheblich. Die Neuregelung ist eigens geschaffen worden, um eine Steuerfreistellung des Existenzminimums eines Kindes herbeizuführen. Die Verbesserungen gegenüber der Rechtslage, von der der Vorlagebeschluss ausgeht, sind mit einer Erhöhung des Kinderfreibetrags von ursprünglich 432 DM pro Kind auf 3.732 DM für 1983, 3.864 DM für 1984 und 3.924 DM für 1985 so nachhaltig, dass das Bundesverfassungsgericht die geänderte Norm nicht von Amts wegen in die verfassungsrechtliche Prüfung einbeziehen kann. Das Sozialgericht ist auf diesen Gesichtspunkt hingewiesen worden, hat eine Überprüfung seines Beschlusses aber nicht vorgenommen. Eine solche erneute Überprüfung war nicht schon deswegen entbehrlich, weil der nunmehr geltende Kinderfreibetrag nach der im Vorlagebeschluss dargelegten Auffassung des vorlegenden Gerichts ebenfalls nicht dem Existenzminimum des Kindes entspricht; denn der Gesetzgeber hat mit seiner Neuregelung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 246 ≪262 ff.≫) Rechnung getragen, in der die Berechnungsmethoden für das steuerfrei zu belassende Existenzminimum in bindender Weise (§ 31 Abs. 1 BVerfGG) festgelegt werden. Inwieweit die zur Prüfung vorgelegte Norm mit dem vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Maßstab nicht im Einklang stehen soll, bedarf einer eingehenden Begründung.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Kühling, Jaeger, Hömig
Fundstellen