Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Beschluss vom 04.10.2006; Aktenzeichen 18 A 3084/06) |
Tenor
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Oktober 2006 – 18 A 3084/06 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes.
Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Prüfung der Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO durch das Oberverwaltungsgericht.
1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Er wurde 1977 im Bundesgebiet geboren, wo sein Vater als Arbeitnehmer beschäftigt war. Von 1992 an wurden gegen den Beschwerdeführer strafrechtliche Maßnahmen verhängt. Durch Urteil vom 23. September 2002 verurteilte ihn das Amtsgericht Mönchengladbach wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in neun Fällen, wegen unerlaubter Abgabe und wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten.
2. Der Beschwerdeführer beantragte 2003 die Verlängerung seiner seit 1995 innegehabten und zuletzt 2001 verlängerten Aufenthaltserlaubnis. Die Bürgermeisterin der Stadt Viersen lehnte den Antrag durch Ordnungsverfügung vom 19. Dezember 2003 ab, drohte und ordnete die Abschiebung des Beschwerdeführers an und wies ihn aus.
Nach einer weiteren strafgerichtlichen Verurteilung wurde der Widerspruch gegen die Ordnungsverfügung durch Bescheid vom 4. März 2005 zurückgewiesen. Eine zwingende Ausweisung komme aufgrund des Aufenthaltsrechts des Beschwerdeführers nach Art. 7 ARB 1/80 nicht zum Tragen, es liege jedoch ein besonders schwerer Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung vor und das Ausweisungsermessen werde zu Lasten des Beschwerdeführers ausgeübt.
3. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Klage. Es bestehe eine positive Sozialprognose. Die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 3 Buchstabe a der Richtlinie 2004/38/EG (im folgenden: Unionsbürgerrichtlinie), die auf den Beschwerdeführer anwendbar sei, seien nicht erfüllt. Die Ausweisung verletze das Recht aus Art. 8 EMRK.
Das Verwaltungsgericht Düsseldorf wies die Klage durch Urteil vom 20. Juni 2006 ab. Die auf § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG beruhende Ausweisung sei rechtmäßig. Der Beschwerdeführer besitze ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80. Das Ausweisungsermessen sei rechtmäßig ausgeübt worden. Auch in Zukunft bestehe die Gefahr, dass der Beschwerdeführer weitere Straftaten begehe. Ob die Unionsbürgerrichtlinie auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar sei, könne dahinstehen. Notwendige Voraussetzung der Anwendung der Anforderungen an eine Ausweisung nach zehnjährigem Aufenthalt in Art. 28 Abs. 3 Buchstabe a der Unionsbürgerrichtlinie sei, dass die Ausweisungsgründe im nationalen Recht im Einzelnen gesetzlich bestimmt seien; daran fehle es gegenwärtig. Der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne dieser Vorschrift sei auch nicht auf die Sicherheit des Staates zu beschränken. Die Ausweisung sei mit Art. 8 EMRK vereinbar. Die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis sei demnach rechtmäßig.
4. Der Beschwerdeführer beantragte die Zulassung der Berufung. Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts sei der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Sicherheit des Staates auszulegen. Das ergebe sich aus der Auslegung des Art. 39 Abs. 3 EG und sei von einer anderen Kammer desselben Gerichts so entschieden worden. Die Frage der Anwendbarkeit der Unionsbürgerrichtlinie sei dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt worden. Im Hinblick auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zu Art. 8 EMRK bestünden Zweifel an der Richtigkeit des Urteils.
Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen lehnte den Antrag durch Beschluss vom 4. Oktober 2006 ab. Es bedürfe keiner grundsätzlichen Klärung, welcher Begriff der öffentlichen Sicherheit anzulegen sei für die Frage, ob ein assoziations-freizügigkeitsberechtigter türkischer Staatsbürger ausgewiesen werden dürfe. Offen bleiben könne, ob die Unionsbürgerrichtlinie assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige erfasse. Aus Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie könne nicht hergeleitet werden, dass eine Ausweisung solcher Personen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit des Staates verfügt werden dürfe. Das habe der Senat bereits grundsätzlich geklärt. Der Hinweis auf eine nach Ansicht des Beschwerdeführers gegenläufige Rechtsprechung einer Kammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf begründe keine weitere Klärungsbedürftigkeit, zumal in Art. 30 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie ausdrücklich zwischen Gründen der öffentlichen Sicherheit und Gründen der Sicherheit des Staates unterschieden werde. Im Hinblick auf Art. 8 EMRK seien keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils begründet.
5. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Grundrechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Oberverwaltungsgericht habe seine Pflicht, die aufgeworfene Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen, verletzt.
6. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer ist für die Entscheidung zuständig, da das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Sie nimmt die Verfassungsbeschwerde an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere genügt sie dem Begründungserfordernis gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG. Mit der Verfassungsbeschwerde ist der Inhalt des fachgerichtlichen Verfahrens noch ausreichend wiedergegeben worden. Allerdings ist in vielen Fällen die Vorlage der gegen die Nichtzulassung eines Rechtsmittels gerichteten Beschwerdeschrift erforderlich, um dem Bundesverfassungsgericht die Beurteilung der mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Grundrechtsrügen zu ermöglichen (vgl. BVerfGK 3, 207 ≪208≫). Nichts anderes gilt für den Antrag auf Zulassung der Berufung. Die Begründung seines Antrags auf Zulassung der Berufung vorzulegen, hat der Beschwerdeführer versäumt. Die Prüfung der erhobenen Rügen ist hier aber anhand der Wiedergabe des Zulassungsantrags in der angegriffenen Entscheidung ausreichend möglich.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil das Oberverwaltungsgericht die Notwendigkeit einer Vorlage der Sache an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften missachtet hat.
a) Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 ≪366 f.≫). Diesem gesetzlichen Richter kann ein Beteiligter dadurch entzogen werden, dass das mit der Sache befasste Gericht der Pflicht zur Vorlage gemäß Art. 234 Abs. 3 EG nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪195≫).
aa) Die Möglichkeit, dass eine Vorlageverpflichtung besteht, wirkt sich auch auf die Entscheidung über die Zulassung von Rechtsmitteln aus. Die Vorlagepflicht kann hier nur bei dem Gericht eintreten, das letztinstanzlich über die Zulassung des Rechtsmittels entscheidet. Für die Zwecke des Zulassungsverfahrens ist dieses Gericht letztinstanzliches Gericht im Sinne des Art. 234 Abs. 3 EG; dass sich nach erfolgter Rechtsmittelzulassung – insbesondere nach Zulassung der Berufung – eine weitere Instanz anschließen kann, ändert daran nichts (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 124 Rn. 137). Wird das Rechtsmittel nicht zugelassen, so ist diese Entscheidung an den vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäben für die Handhabung des Art. 234 Abs. 3 EG zu messen (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪196≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Dezember 1992 – 2 BvR 557/88 –, NVwZ 1993, S. 883; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 16. Dezember 1993 – 2 BvR 1725/88 –, NJW 1994, S. 2017).
Das gilt auch für die Ablehnung der Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 1. Oktober 2004 – 1 BvR 2221/03 –, NJW 2005, S. 737 ≪738≫; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 6. Mai 2008 – 2 BvR 1830/06 –, FamRZ 2008, S. 1321). Eine Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, wenn die aufgeworfene Frage die Auslegung von Gemeinschaftsrecht betrifft und sich für das letztinstanzliche Gericht deswegen voraussichtlich die Notwendigkeit ergeben würde, eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzuholen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. Januar 1996 – BVerwG 3 NB 2.94 –, Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 111; Seibert, in: Sodan/Ziekow, VwGO, § 124 Rn. 137; Roth, in: BeckOK VwGO, § 124 Rn. 57 f.).
bb) Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung des Art. 234 EG, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 82, 159 ≪195 f.≫; BVerfGK 3, 355 ≪364≫; 8, 401 ≪404 f.≫).
Die Vorlagepflicht nach Art. 234 EG wird insbesondere in denjenigen Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der – seiner Auffassung nach bestehenden – Entscheidungserheblichkeit der gemeinschaftsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den Rahmen seiner fachgerichtlichen Beurteilung in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind.
b) Das Oberverwaltungsgericht hat die Vorlageverpflichtung in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt. Der Beschwerdeführer hatte eine gemeinschaftsrechtliche Frage dargelegt, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften ungeklärt ist und die das Oberverwaltungsgericht im Zulassungsverfahren als entscheidungserheblich behandelt hat. Die Erwägungen, mit denen das Gericht die Klärungsbedürftigkeit und damit das Vorliegen des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO verneint hat, überschreiten den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen.
aa) Die Frage, wie der Begriff der öffentlichen Sicherheit in Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie auszulegen ist, insbesondere, ob damit – wie in dem Antrag auf Zulassung der Berufung vorgetragen – unter Ausschluss gemeinkrimineller Akte allein die Sicherheit des Staates gemeint ist, war (und ist) ungeklärt. Das Tatbestandsmerkmal wird in der Richtlinie nicht definiert. In der deutschsprachigen Kommentarliteratur wird die öffentliche Sicherheit im Sinne des Art. 39 Abs. 3 EG vielfach als innere und äußere Sicherheit des Staates verstanden (vgl. Franzen, in: Streinz EUV/EGV, Art. 39 EGV Rn. 138; Schneider/Wunderlich, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 39 EGV Rn. 130; Windisch-Graetz, in: Mayer, EU- und EG-Vertrag, Art. 39 EGV Rn. 119; zu Art. 30 Satz 1 EG auch Leible, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 30 EGV Rn. 15; Müller-Graff, in: von der Groeben/ Schwarze, Kommentar zum EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003, Art. 30 EG Rn. 55). Die hierfür herangezogenen Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften beschäftigen sich mit der inneren und äußeren Sicherheit des Staates, ohne jedoch die allgemeine Kriminalität ausdrücklich aus dem Begriff auszuscheiden oder überhaupt eine erschöpfende Definition zu versuchen (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Juli 1984, Rs. 72/83 – Campus Oil –, Slg. 1984, S. 2727, Abs.-Nr. 33-35; Urteil vom 4. Oktober 1991, Rs. C-367/89 – Richardt –, Slg. 1991, S. I-4621, Abs.-Nr. 22-23; Urteil vom 17. Oktober 1995, Rs. C-70/94 – Werner Industrie-Ausrüstungen –, Slg.1995, S. I-3189, Abs.-Nr. 25-27; Urteil vom 14. Januar 1997, Rs. C-124/95 – Centro-Com –, Slg. 1997, S. I-81, Abs.-Nr. 44-45; Urteil vom 25. Oktober 2001, Rs. C-398/98 – Kommission ./. Griechenland –, Slg. 2001, S. I-7915, Abs.-Nr. 29-32). In der Literatur wird auch ausgeführt, der Begriff der öffentlichen Sicherheit sei weder auf die äußere militärische Sicherheit noch auf die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in dem Mitgliedstaat beschränkt, auch wenn er diese Gesichtspunkte umfasse (Defalque, in: Commentaire Megret, Le droit de la CEE, Bd. 1, 2. Aufl. 1992, S. 280).
bb) Die Beantwortung der aufgeworfenen Frage war für die Berufungszulassung entscheidungserheblich. Das Oberverwaltungsgericht hat offen gelassen, ob die Unionsbürgerrichtlinie assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige in gleicher Weise erfasst wie Unionsbürger. Damit hat es die grundsätzliche Anwendbarkeit der Bestimmungen der Richtlinie auf den Beschwerdeführer unterstellt. Dies ist jedenfalls vertretbar und gibt dem Bundesverfassungsgericht keinen Anlass zu abweichender Beurteilung.
cc) Die Gründe, aus denen das Oberverwaltungsgericht die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Frage des Gemeinschaftsrechts verneint hat, sind nicht tragfähig und überschreiten den Beurteilungsrahmen, der den Fachgerichten zukommt.
(1) Soweit sich das Oberverwaltungsgericht auf seinen Beschluss vom 2. Dezember 2005 – 18 B 1529/05 – (NVwZ 2006, S. 1304) bezieht, stützt es sich auf eine Entscheidung, die ihrerseits auf die im vorliegenden Verfahren als klärungsbedürftig aufgeworfene Frage führt und die daher nicht geeignet ist, einen Klärungsbedarf zu verneinen. In diesem Beschluss war ausgeführt worden, Voraussetzung der Anwendung von Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie sei, dass im nationalen Recht im Einzelnen die Gründe gesetzlich bestimmt seien, aufgrund deren ausnahmsweise auch die dort genannten privilegierten Unionsbürger ausgewiesen werden könnten. Der Beschwerdeführer hatte mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung vorgetragen, Straftaten der allgemeinen Kriminalität – zu denen er offenbar die von ihm begangenen Taten rechnete – könnten aus Gründen des Gemeinschaftsrechts keinen Ausweisungsanlass bieten, der den Anforderungen des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie genüge. Er behauptete damit einen gemeinschaftsrechtlichen Mindestinhalt des Begriffs der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit. Ist es möglich, anhand einer Richtlinienbestimmung trotz eines Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten Mindestrechte zu bestimmen, so kann die Vorschrift insoweit die für eine unmittelbare Wirkung erforderliche Genauigkeit und Unbedingtheit aufweisen (EuGH, Urteil vom 19. November 1991, Verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 – Francovich –, Slg. 1991, S. I-5357, Abs.-Nr. 17-22; Urteil vom 2. August 1993, Rs. C-271/91 – Marshall II –, Slg. 1993, S. I-4367, Abs.-Nr. 37; Urteil vom 14. Juli 1994, Rs. C-91/92 – Faccini Dori –, Slg. 1994, S. I-3325, Abs.-Nr. 17; Urteil vom 3. Oktober 2000, Rs. C-303/98 – Simap –, Slg. 2000, S. I-7963, Abs.-Nr. 68-69; GA Mischo, Schlussanträge vom 15. März 1989, Verb. Rs. 231/87 und 129/88 – Carpaneto I –, Slg. 1989, S. 3233, Abs.-Nr. 15-16). Selbst wenn also die im Beschluss vom 2. Dezember 2005 geäußerte Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts, Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie sei nicht inhaltlich unbedingt und hinreichend genau, im Ansatz zutreffen sollte, hätte es vor dem Hintergrund des Vorbringens des Beschwerdeführers der Klärung der Frage bedurft, ob die Bestimmung unmittelbar anwendbar ist, soweit ein Verhalten von Gemeinschaftsrechts wegen nicht vom Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit erfasst wird. Diese Frage ist von derjenigen nach der Auslegung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit nicht zu trennen, und die – vermeintliche – Beantwortung ersterer nimmt letzterer nicht die Klärungsbedürftigkeit.
(2) Die Erwägung, das Oberverwaltungsgericht habe die Frage bereits entschieden, war zudem von vornherein mangels Letztentscheidungsbefugnis des Oberverwaltungsgerichts untauglich, eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften abzulehnen. Gleiches gilt für die Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom 2. März 2006 (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. März 2006 – 18 A 142/06 –, InfAuslR 2006, S. 257), auf den die angegriffene Entscheidung verweist. Im Übrigen behandeln die dort zitierten Urteile des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 121, 297; 121, 315) nicht die Auslegung gerade des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie, auf die sich der Berufungszulassungsantrag bezog.
(3) Das Argument des Oberverwaltungsgerichts, dass in Art. 30 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie ausdrücklich zwischen Gründen der öffentlichen Sicherheit und Gründen der Sicherheit des Staates unterschieden werde, reicht zur Verneinung einer Vorlagepflicht offensichtlich nicht aus. Das Oberverwaltungsgericht beschäftigt sich nicht ansatzweise mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften zu Art. 39 Abs. 3 EG. Es untersucht auch nicht, welche Bedeutung es hat, dass in Art. 30 Abs. 2 wie in Art. 27 Abs. 1 und 4 der Unionsbürgerrichtlinie von Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit die Rede ist, während Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie nur die öffentliche Sicherheit erwähnt und sich damit von Art. 27 Abs. 2 und 3 sowie Art. 28 Abs. 1 und 2 unterscheidet, wo Gründe der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit genannt werden (vgl. auch Erwägungsgründe 22 und 24 der Präambel). Das Oberverwaltungsgericht unternimmt es nicht, die Bedeutung dieser Regelungssystematik zu ergründen.
Auch wenn die Gegenauffassung zur Ansicht des Oberverwaltungsgerichts, zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie beschränkten sich nicht auf Gründe der Sicherheit des Staates, nicht eindeutig vorzuziehen ist, ist hier eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) festzustellen. Das Vorliegen einer eindeutig vorzugswürdigen Gegenauffassung ist nur ein, wenn auch gewichtiger, Anhalt für eine Verletzung des Rechts aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch unterlassene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bei Unvollständigkeit von dessen Rechtsprechung. Entscheidend ist, ob eine unhaltbare Handhabung der Zuständigkeitsnormen durch die Fachgerichte vorliegt. Fehlt es – wie hier – bereits an einer tragfähigen Würdigung der mit den mit der Klärungsbedürftigkeit einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts verbundenen und dem Gericht unterbreiteten Aspekte, führt dies daher ebenfalls zur Feststellung eines Verfassungsverstoßes.
3. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Insbesondere ist ein besonders schwerer Nachteil im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG nicht deswegen ausgeschlossen, weil der zeitliche Verlauf des Ausweisungsverfahrens des Beschwerdeführers mit demjenigen vergleichbar ist, über den der Gerichtshof am 4. Oktober 2007 (EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007, Rs. C-349/06 – Polat –, NVwZ 2008, S. 59 ≪60≫) entschieden hat. Der Gerichtshof hat angenommen, der zeitliche Anwendungsbereich der Unionsbürgerrichtlinie sei nicht eröffnet, ohne das Verhältnis dieser Aussage zu seiner bisherigen Rechtsprechung zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Sachlage bei Ausweisungsentscheidungen (EuGH, Urteil vom 29. April 2004, Verb. Rs. C-482/01 und C-493/01 – Orfanopoulos –, Slg. 2004, S. I-5257, Abs.-Nr. 77-82) zu bestimmen. Ungeklärt ist auch, in welcher Beziehung die Entscheidung zu der diesbezüglichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 121, 297 ≪309≫) steht. Daher kann ein Erfolg des Berufungszulassungsantrags nach der Zurückverweisung durch das Bundesverfassungsgericht nicht ausgeschlossen werden.
III.
Die angegriffene Entscheidung beruht auf der Grundrechtsverletzung. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Oktober 2006 auf und verweist die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurück.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Mellinghoff, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
Haufe-Index 2148358 |
NVwZ 2009, 519 |
InfAuslR 2009, 416 |
ZAR 2008, 35 |
BayVBl. 2009, 720 |
LL 2009, 482 |