Verfahrensgang
VG Dresden (Beschluss vom 09.08.2004; Aktenzeichen A 1 K 30806/03) |
Tenor
- Der Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichts Dresden vom 9. August 2004 – A 1 K 30806/03 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss wird aufgehoben.
- Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
- Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft einen verwaltungsgerichtlichen Beweisbeschluss in einer Asylsache.
I.
1. Die Beschwerdeführerin beantragte in der Bundesrepublik Deutschland Asyl, weil ihr bei einer Rückkehr in ihr Heimatland, den Libanon, wegen ihrer Homosexualität Verfolgung drohe.
Hierzu hat sie im Wesentlichen vorgetragen: Im Libanon sei Homosexualität gesellschaftlich geächtet und strafbar. Ihr Bruder, der Familienoberhaupt sei und der fundamental-religiösen Amal-Gruppe angehöre, fürchte wegen ihrer lesbischen Identität um die Familienehre. Er habe sie mehrfach aufgefordert, zu heiraten, und angesichts ihrer Weigerung erklärt, in einer anderen Familie wäre sie schon längst tot.
Er habe auch veranlasst, dass sie im November 2002 durch uniformierte Männer eingeschüchtert und zwei Tage lang eingesperrt worden sei. Aufgrund dieses Vorfalles und aus Furcht vor weiteren Gewaltakten habe sie sich zur Flucht in die Bundesrepublik Deutschland entschlossen.
2. Der Asylantrag der Beschwerdeführerin wurde vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) abgelehnt. Zugleich verneinte das Bundesamt das Vorliegen von Abschiebungsverboten oder -hindernissen. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die Beschwerdeführerin sei über einen sicheren Drittstaat eingereist. Auch würden Homosexuelle im Libanon nicht politisch verfolgt. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Klage vor dem Verwaltungsgericht Dresden.
Das Verwaltungsgericht erließ ohne vorherige mündliche Verhandlung den hier angegriffenen Beweisbeschluss vom 9. August 2004, welcher der Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin am 13. August 2004 zugestellt wurde. Dieser hat folgenden Inhalt:
Über die Fragen,
1. ob die Klägerin lesbisch ist und deshalb auf Betreiben ihres Bruders … durch drei Polizisten am 24. oder 25. November 2002 für zwei Tage in einen Raum gesperrt wurde, um sie zu zwingen, von ihrer lesbischen Neigung Abstand zu nehmen,
2. wenn ja, der Bruder der Klägerin bei deren Rückkehr in den Libanon weiterhin an dieser Haltung festhalten würde,
ist Beweis zu erheben durch eine amtliche Auskunft des Auswärtigen Amtes, Berlin.
Den Beweisbeschluss übersandte das Verwaltungsgericht an das Auswärtige Amt mit der Bitte, den Bruder der Beschwerdeführerin und Bewohner ihres Herkunftsorts entsprechend zu befragen.
3. Gegen den Beweisbeschluss wandte sich die Beschwerdeführerin mit einer Gegenvorstellung. Sie machte geltend, der Beweisbeschluss verletze ihren Anspruch auf ein faires Verfahren. Die in einem Asylverfahren mitgeteilten Fakten unterlägen einer besonderen Geheimhaltungspflicht. Das Gericht verletze seine Fürsorgepflicht, weil die vorgesehene Befragung die Verfolgungsgefahr für die Beschwerdeführerin vergrößere. Auch werde der Bruder der Beschwerdeführerin den von ihr vorgetragenen Sachverhalt kaum zugeben; seine Angaben hätten keinerlei Beweiswert.
Mit Beschluss vom 26. August 2004, der Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin zugestellt am 30. August 2004, wies das Verwaltungsgericht die Gegenvorstellung als unbegründet zurück. Der Beweisbeschluss sei im Rahmen der Amtsermittlungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO ergangen, weil die von der Beschwerdeführerin behauptete Vorverfolgung nicht ohne weiteres glaubhaft sei. Eine Verstärkung einer etwaigen Verfolgung drohe nicht, weil der Beschwerdeführerin Abschiebungsschutz zu gewähren sei, sofern die Beweisaufnahme den von ihr vorgetragenen Sachverhalt bestätige.
II.
1. Mit ihrer am 30. September 2004 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen den Beweisbeschluss. Sie macht geltend, der Beschluss verletze ihre Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 16a Abs. 1 GG. Ihre Homosexualität stelle eine besonders geschützte Information aus dem Intimbereich dar. Deren Preisgabe an Bewohner des Herkunftsortes sowie an ihren Bruder sei zur Sachverhaltsaufklärung nicht geeignet und auch nicht das mildeste Mittel. Zudem steigere sie die Gefahr, dass die Beschwerdeführerin erneut durch ihren Bruder oder libanesische Behörden verfolgt werde.
2. Das Bundesamt und das Sächsische Staatsministerium der Justiz erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das Staatsministerium hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Das Bundesamt hat von der Möglichkeit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93b Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die Entscheidungskompetenz der Kammer ist gegeben (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG), da das Bundesverfassungsgericht die für die Beurteilung maßgebenden verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden hat (s. unter II. 1.).
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig (I.) und offensichtlich begründet (II.).
I.
1. Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass es sich bei dem angegriffenen Beweisbeschluss um eine Zwischenentscheidung handelt. Eine unmittelbar gegen Zwischenentscheidungen gerichtete Verfassungsbeschwerde ist, auch wenn vorrangig auszuschöpfende Rechtsbehelfe im fachgerichtlichen Verfahren nicht zur Verfügung stehen, ausgeschlossen, soweit Verfassungsverstöße mit der Anfechtung der Endentscheidung gerügt und daraufhin korrigiert werden können (vgl. BVerfGE 21, 139 ≪143≫). Hat dagegen bereits die Zwischenentscheidung einen bleibenden rechtlichen Nachteil zur Folge, der sich in einem die abschließende Entscheidung betreffenden Verfahren nicht mehr oder jedenfalls nicht mehr vollständig beheben lässt, so kann der Beschwerdeführer auf den Rechtsweg gegen die abschließende Entscheidung nicht verwiesen werden (vgl. BVerfGE 1, 322 ≪324 f.≫; 58, 1 ≪23≫; 101, 106 ≪120≫).
Danach ist der vorliegende Beweisbeschluss mit der Verfassungsbeschwerde angreifbar. Eine mögliche Verletzung von Grundrechten der Beschwerdeführerin im Zuge der Umsetzung des angegriffenen Beweisbeschlusses durch die Offenbarung von Informationen über die geltend gemachte Homosexualität der Beschwerdeführerin gegenüber einem nicht abgegrenzten Kreis Dritter im behaupteten Verfolgerstaat könnte später nicht mehr behoben werden.
2. Die Verfassungsbeschwerde wurde fristgerecht (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) eingelegt, denn die Verfassungsbeschwerdefrist begann erst mit der Zustellung der Entscheidung über die von der Beschwerdeführerin eingelegte Gegenvorstellung zu laufen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts obliegt es zunächst den Fachgerichten, die Grundrechte zu wahren und einen etwa eingetretenen Grundrechtsverstoß zu beseitigen (vgl. BVerfGE 47, 182 ≪190≫; 49, 252 ≪258≫; 63, 77 ≪79≫; 73, 322 ≪327≫). Dazu haben sie nach Maßgabe des für sie geltenden Verfahrensrechts zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Möglichkeiten der Abhilfe es bei Vorliegen eines solchen Verstoßes zur Verfügung stellt (BVerfGE 73, 322 ≪327≫).
Das Verwaltungsgericht hat die Gegenvorstellung der Beschwerdeführerin ausdrücklich als zulässig erachtet. Verfassungsrechtliche Gründe, dieser fachgerichtlichen Handhabung die Gefolgschaft zu versagen und die Beschwerdeführerin so zu behandeln, als habe sie einen offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelf eingelegt, der ungeeignet ist, den Lauf der Verfassungsbeschwerdefrist neu zu eröffnen (vgl. BVerfGE 5, 17 ≪19≫; 28, 1 ≪6≫; 28, 88 ≪95≫; 48, 341 ≪344≫; 69, 233, ≪241≫), liegen nicht vor. Wenn ein Gericht in einem Fall wie dem vorliegenden eine auf die Verletzung von Grundrechten gestützte Gegenvorstellung gegen einen Beweisbeschluss, zu dem der oder die Betroffene zuvor keine Gelegenheit der Äußerung hatte, als zulässig behandelt und in der Sache bescheidet, handelt es sich um die Eröffnung einer Möglichkeit zu fachgerichtlicher Selbstkorrektur, die keinen Bedenken unter dem verfassungsrechtlich maßgeblichen Gesichtspunkt der Rechtssicherheit unterliegt. Dass die Beschwerdeführerin vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde diese prozessuale Möglichkeit zu nutzen gesucht hat, kann ihr daher nicht zum Schaden gereichen (vgl. BVerfGE 69, 233 ≪241≫).
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
1. Der angegriffene Beweisbeschluss verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.
a) Das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst die Befugnis jedes Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (Recht auf informationelle Selbstbestimmung – vgl. BVerfGE 65, 1 ≪41 ff.≫). In das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird nicht nur dann eingegriffen, wenn der Staat vom Einzelnen die Bekanntgabe persönlicher Daten verlangt oder diese automatisch verarbeitet. Dieses Recht schützt vielmehr generell vor staatlicher Erhebung, Verwendung und Weitergabe personenbezogener Daten (vgl. BVerfGE 65, 1 ≪41 ff.≫; 78, 77 ≪84≫).
Zu den danach geschützten Informationen gehören auch Angaben über die sexuelle Orientierung und über Erklärungen, die jemand staatlichen Stellen gegenüber hierzu abgegeben hat. Die Beweiserhebung, die der angegriffene Beweisbeschluss vorsieht, schließt die Offenbarung diesbezüglicher Informationen gegenüber einem nicht näher umgrenzten Kreis von Personen in dem Staat, in dem die Beschwerdeführerin wegen ihrer Homosexualität verfolgt zu werden angibt, ein.
b) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne muss vielmehr Einschränkungen dieses Rechts im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Auch Eingriffe auf prozessrechtlicher Grundlage müssen dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit genügen (vgl. BVerfGE 65, 1 ≪43 f.≫; 78, 77 ≪85≫).
Unabhängig von der Frage, wie eine Beweiserhebung durch Einholen amtlicher Auskünfte und eine Beweiserhebung durch Zeugenvernehmung mit ihren jeweiligen gesetzlichen Grundlagen voneinander abzugrenzen sind, ist hier jedenfalls der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt. Eine Sachverhaltsermittlung im Heimatumfeld der Beschwerdeführerin, die zu einer unumkehrbaren Preisgabe sensibler personenbezogener Informationen an Dritte führt, kann, soweit sie nicht wegen unvertretbarer verfolgungsauslösender oder verfolgungsverschärfender Wirkungen ausscheidet, lediglich das letzte Mittel der Sachverhaltsaufklärung sein.
Der pauschal gehaltene Beweisbeschluss enthält keine grundrechtssichernden Vorkehrungen. Das Verwaltungsgericht hätte sich vorrangig in mündlicher Verhandlung einen persönlichen Eindruck von der Beschwerdeführerin und ihrer Glaubwürdigkeit zu verschaffen und gegebenenfalls weitere weniger eingreifende Möglichkeiten der Sachverhaltsaufklärung erkunden müssen.
2. Ob der Beschluss die Beschwerdeführerin in weiteren Grundrechten, insbesondere in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, verletzt, kann angesichts der festgestellten Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dahinstehen.
III.
Mit der Aufhebung des Beschlusses erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Broß, Di Fabio, Lübbe-Wolff
Fundstellen
Haufe-Index 1334055 |
NVwZ 2005, 681 |
DSB 2005, 18 |
DuD 2006, 105 |
RDV 2005, 213 |