Verfahrensgang
OLG Hamm (Beschluss vom 28.06.2005; Aktenzeichen 1 Vollz (Ws) 88/05) |
LG Arnsberg (Beschluss vom 11.05.2005; Aktenzeichen Vollz 40/05) |
Tenor
Der Beschluss des Landgerichts Arnsberg vom 11. Mai 2005 – Vollz 40/05 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben; das Verfahren wird an das Landgericht Arnsberg zurückverwiesen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 28. Juni 2005 – 1 Vollz (Ws) 88/05 – ist damit gegenstandslos.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Verlegung eines Sicherungsverwahrten in eine andere Justizvollzugsanstalt.
I.
1. In der Justizvollzugsanstalt W. wurde im Dezember 2004 ein im Freizeitraum befindlicher Billardtisch durch eine farbliche Flüssigkeit verunreinigt. Nachdem ein Hausarbeiter den Beschwerdeführer im Müllraum antraf und nach Durchsuchen des Mülls eine Plastikflasche mit einer entsprechenden Flüssigkeit entdeckte, geriet der Beschwerdeführer in den Verdacht, die Beschädigung verursacht zu haben.
2. Aufgrund einer vom Anstaltsleiter getroffenen Entscheidung wurde der Beschwerdeführer am 19. Dezember 2004 in die Justizvollzugsanstalt A. verlegt. Gegen die Verlegung legte er Widerspruch ein, den der Präsident des Landesjustizvollzugsamtes in Nordrhein-Westfalen mit Bescheid vom 8. Februar 2005 zurückwies. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt habe die Voraussetzungen für eine Verlegung gemäß § 85 StVollzG rechtsfehlerfrei bejaht und die Verlegung ermessensfehlerfrei angeordnet. Der Beschwerdeführer sei, nachdem die übrigen Insassen der Justizvollzugsanstalt von der Sachbeschädigung erfahren hätten, von diesen ausgegrenzt worden. Es habe eine erhebliche Unruhe unter den Insassen geherrscht, deren Ursache der Beschwerdeführer gewesen sei. Erst nach der Verlegung habe sich die Situation entspannt. Die Verlegung sei auch zu dem Zweck erfolgt, die Sicherheit des Beschwerdeführers selbst zu gewährleisten.
3. Dagegen stellte der Beschwerdeführer Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit der Begründung, er sei zu Unrecht verdächtigt worden, den Billardtisch beschädigt zu haben. Die angebliche Unruhe sei erst dadurch ausgelöst worden, dass er von dem Hausarbeiter als Täter stigmatisiert worden sei. Durch die Verlegung würden ihm seine sozialen Kontakte und Möglichkeiten des Besuchempfangs durch die Eltern und Geschwister genommen.
4. Mit Beschluss vom 11. Mai 2005 verwarf das Landgericht Arnsberg den Antrag als unbegründet. Die Entscheidung des Anstaltsleiters lasse Ermessensfehler nicht erkennen. Ob der Beschwerdeführer zu Recht beschuldigt worden sei, sei ohne Belang, da die Verlegung primär darauf beruhe, dass andere Sicherungsverwahrte ihn als Verursacher angesehen hätten und hierdurch eine erhebliche Unruhe eingetreten sei. Es habe die Gefahr einer Eskalation der Situation mit dem latenten Risiko von Übergriffen anderer Inhaftierter gegenüber dem Beschwerdeführer bestanden. Mangels anderer ersichtlicher und zugleich wirksamer Konfliktlösungsmöglichkeiten sei es daher jedenfalls vertretbar gewesen, den Beschwerdeführer zu seinem eigenen Schutz und zur Wiederherstellung der Ordnung in eine andere Anstalt zu verlegen.
5. Die dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht Hamm durch Beschluss vom 28. Juni 2005 einstimmig als unzulässig, da die Voraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG nicht vorlägen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3, Art. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG. Die Verlegung sei durch § 85 StVollzG nicht gedeckt und unverhältnismäßig. Ein aufgrund seiner Selbstanzeige eingeleitetes Strafverfahren wegen des Verdachts der Sachbeschädigung habe die Staatsanwaltschaft Arnsberg nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, so dass ein dringender Tatverdacht nicht (mehr) vorliege. Wenn andere Verwahrte ihn gleichwohl für den Verursacher der Verunreinigung hielten, hätte es den Verantwortlichen der Justizvollzugsanstalt W. oblegen, diese zu belehren oder zu disziplinieren, anstatt ihn gegen seinen Willen zu verlegen. Seine schwerpunktmäßig im Raum W. liegenden familiären Bindungen seien durch die Verlegung entscheidend behindert worden, da wegen der weiten Entfernung der Justizvollzugsanstalt A. Besuche seiner Familie kaum noch stattfinden könnten.
2. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme. Es hat einen Bericht des Leiters der Justizvollzugsanstalt A. vom 7. Dezember 2005 über die vom Beschwerdeführer in W. und A. erhaltenen Besuche von Familienangehörigen übersandt.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung sind gegeben. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Danach ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
1. Die Entscheidung des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.
a) Die Verlegung eines Strafgefangenen oder Sicherungsverwahrten ohne seinen Willen greift in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Dieser Eingriff kann für den Gefangenen bzw. Verwahrten mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen verbunden sein. Alle seine innerhalb der Anstalt entwickelten sozialen Beziehungen werden praktisch abgebrochen. Der unter den Bedingungen des Anstaltslebens schwierige Aufbau eines persönlichen Lebensumfeldes muss in einer anderen Anstalt von neuem begonnen werden (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. September 2005 – 2 BvR 1651/03 – StV 2006, S. 146 f. ≪146≫; siehe auch Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1993 – 2 BvR 196/92 – NStZ 1993, S. 300 f.; Oberlandesgericht Stuttgart, NStZ 1998, S. 431 ≪432≫). Die Verlegung kann – nicht nur aus den bereits genannten Gründen – auch die Resozialisierung des Strafgefangenen beeinträchtigen und berührt somit auch dessen durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG vermittelten (vgl. BVerfGE 98, 169 ≪200≫) Anspruch auf einen Strafvollzug, der auf das Ziel der Resozialisierung ausgerichtet ist (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. September 2005 – 2 BvR 1651/03 – StV 2006, S. 146 f. ≪146≫).
b) Die Verlegung des Beschwerdeführers ist auf der Grundlage des § 85 StVollzG erfolgt, der gemäß § 130 StVollzG auf Sicherungsverwahrte entsprechend anzuwenden ist. Danach kann ein Verwahrter in eine Anstalt verlegt werden, die zu seiner sicheren Unterbringung besser geeignet ist, wenn in erhöhtem Maße Fluchtgefahr gegeben ist oder sonst sein Verhalten oder sein Zustand eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt darstellt. Das Landgericht hat die auf dieser Grundlage erfolgte Verlegungsentscheidung für rechtmäßig befunden, da sie Ermessensfehler nicht erkennen lasse. Bereits dieser Begründungsansatz lässt die angegriffene Entscheidung, auch unter dem Aspekt des verfassungsrechtlich geforderten effektiven Rechtsschutzes, fragwürdig erscheinen, da es an einer Prüfung, ob die von § 85 StVollzG geforderten tatbestandlichen Voraussetzungen einer Verlegung vorliegen, fehlt. Auch wenn diese tatbestandlichen Voraussetzungen einem Beurteilungsspielraum der Vollzugsverwaltung unterliegen sollten (so Arloth/Lückemann, StVollzG, § 85 Rn. 2 m.w.N. auch zur Gegenauffassung), erübrigt das nicht die gerichtliche Prüfung ihres Vorliegens. Das Landgericht hat stattdessen lediglich eine Vertretbarkeitskontrolle vorgenommen, die keine Anknüpfung an den Tatbestand der einschlägigen Rechtsnorm erkennen lässt.
Auch wenn Anhaltspunkte dafür bestünden, dass das Landgericht unter der Bezeichnung „Ermessensfehler” der Sache nach auch die Voraussetzungen des § 85 StVollzG geprüft und bejaht hat, hielte die Entscheidung verfassungsrechtlicher Prüfung nicht stand.
Sie beruht auf der Annahme, § 85 StVollzG gestatte eine Verlegung des Beschwerdeführers ohne weiteres deshalb, weil Mitgefangene ihn als Verursacher der Beschädigung des Billardtisches ansahen und hierdurch eine Gefahrenlage mit dem latenten Risiko von Übergriffen entstanden war. Mit dieser Anwendung des § 85 StVollzG sind die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesinterpretation überschritten.
§ 85 StVollzG ermöglicht seinem eindeutigen Wortlaut nach eine Verlegung nur für den Fall, dass in erhöhtem Maße Fluchtgefahr gegeben ist oder sonst das Verhalten oder der Zustand des Gefangenen – im Anwendungsbereich des § 130 StVollzG: des Sicherungsverwahrten – eine Gefahr für die Sicherheit oder Ordnung der Anstalt begründet.
Die Verlegung des Beschwerdeführers wurde nicht mit einer erhöhten Fluchtgefahr begründet. Wie das Landgericht ausdrücklich festgestellt hat, erfolgte sie auch nicht wegen des Vorwurfs, er habe den Billardtisch beschädigt, also nicht wegen eines von ihm an den Tag gelegten Verhaltens. Vielmehr wurde der Beschwerdeführer nach den Feststellungen des Landgerichts allein deshalb verlegt, weil andere Sicherungsverwahrte den Antragsteller als Verursacher der Beschädigung ansahen und hierdurch eine erhebliche Unruhe sowie die Gefahr einer Eskalation mit dem latenten Risiko von Übergriffen auf den Beschwerdeführer entstanden sei. Es kann offenbleiben, ob der Verweis auf drohende Steigerung einer nicht näher beschriebenen Unruhe zu einem latenten Risiko von Übergriffen den Anforderungen an die Feststellung einer Gefahr im Sinne des § 85 StVollzG (vgl. OLG Hamburg, ZfStrVO 1991, S. 312) genügt. Da dieser Verlegungsgrund nicht an ein Verhalten des Beschwerdeführers, sondern an eines der Mitverwahrten anknüpft, läßt er sich dem Tatbestand des § 85 StVollzG jedenfalls nur zuordnen, wenn der Umstand, dass ein Sicherungsverwahrter von Mitinsassen der Anstalt eines bestimmten Verhaltens verdächtigt wird, als ein sicherheits- und ordnungsgefährdender Zustand dieses Sicherungsverwahrten aufgefaßt werden kann.
Es bedarf hier keiner Klärung, ob eine solche Auslegung des § 85 StVollzG überhaupt in Betracht kommen kann. Denn jedenfalls ist es unvereinbar mit den Grundsätzen rechtsstaatlicher Zurechnung, wenn die Gefahr, dass bestimmte Personen sich in rechtswidriger Weise verhalten, nicht im Regelfall vorrangig diesen Personen zugerechnet und nach Möglichkeit durch ihnen gegenüber zu ergreifende Maßnahmen abgewehrt wird, sondern ohne weiteres Dritte oder gar die potentiellen Opfer des drohenden rechtswidrigen Verhaltens zum Objekt eingreifender Maßnahmen der Gefahrenabwehr gemacht werden (vgl. BVerfGE 69, 315 ≪360 f.≫; siehe auch, speziell zur Verlegung eines Gefangenen wegen Fehlverhaltens Dritter, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. September 2005 – 2 BvR 1651/03 – StV 2006, S. 146 f.). Rechtsstaatliche Zurechnung muss darauf ausgerichtet sein, nicht rechtswidriges, sondern rechtmäßiges Verhalten zu begünstigen (vgl. Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006, – 2 BvR 669/04 –, Rn. 63 f.; www.bverfg.de). Dem läuft es grundsätzlich zuwider, wenn, wie im vorliegenden Fall, Maßnahmen zur Abwehr drohenden rechtswidrigen Verhaltens nicht vorrangig gegen den oder die Störer, sondern ohne weiteres – und in Grundrechte eingreifend – gegen den von solchem rechtswidrigen Verhalten potentiell Betroffenen ergiffen werden.
Besondere Umstände, die ein derartiges Vorgehen ausnahmsweise rechtfertigen könnten, sind weder geltend gemacht worden noch ersichtlich. Auch wurde nicht festgestellt, dass die Anstalt irgendwelche Maßnahmen – sei es aufklärender oder disziplinierender Art – ergriffen hätte, um der entstandenen Unruhe, deren Ausarten zu Übergriffen gegen den Beschwerdeführer befürchtet wurde, entgegenzutreten.
Die Anwendung des § 85 StVollzG durch das Landgericht ist zudem unverhältnismäßig. Beschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG dürfen nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorgenommen werden; sie müssen zum Schutz eines kollidierenden Rechtsguts geeignet und erforderlich sein und zur Art und Intensität der Beeinträchtigung oder Gefährdung, der begegnet werden soll, in einem angemessenen Verhältnis stehen (vgl. BVerfGE 16, 194 ≪201 f.≫; 92, 277 ≪327 f.≫; stRspr). Die Verlegung eines Gefangenen gegen dessen Willen ist daher auch bei Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 85 StVollzG nur zulässig, wenn dieser Gefahr in der Justizvollzugsanstalt nicht mit milderen Mitteln angemessen begegnet werden kann (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26. September 2005 – 2 BvR 1651/03 – StV 2006, S. 146 ≪147≫).
Zu der Frage, welche Möglichkeiten bestanden hätten und welche Versuche gemacht wurden, der entstandenen Unruhe durch Maßnahmen entgegenzutreten, die die Rechte des Beschwerdeführers nicht oder in geringerem Ausmaß berühren – von aufklärender und konfliktschlichtender Einwirkung bis zu anstaltsinternen Verlegungen, Absonderungen oder disziplinarischen Maßnahmen –, wurden irgendwelche näheren Feststellungen nicht getroffen. Zwar hat das Landgericht angenommen, die Verlegung sei „mangels anderer ersichtlicher und zugleich wirksamer Konfliktlösungsmöglichkeiten” jedenfalls vertretbar gewesen. Wie das Gericht zu der hier vorausgesetzten, durch nichts näher begündeten Annahme gelangen konnte, jede in Betracht kommende andere Maßnahme wäre zur Gefahrenabwehr ungeeignet gewesen, ist schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil eine diesbezügliche Einschätzung der Anstalt oder des Justizvollzugsamtes weder in der Entscheidungsbegründung wiedergegeben wird noch in der beigezogenen Akte des fachgerichtlichen Verfahrens auffindbar ist.
2. Der Beschluss des Landgerichts ist aufzuheben und die Sache an das Landgericht Arnsberg zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Damit wird der Beschluss des Oberlandesgerichts gegenstandslos.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Broß, Lübbe-Wolff, Gerhardt
Fundstellen
NJW 2006, 2683 |
NStZ 2007, 170 |
NJW-Spezial 2006, 424 |
StraFo 2006, 363 |