Verfahrensgang
Gerichtshof für die Heilberufe Niedersachsen (Urteil vom 14.09.2005; Aktenzeichen 1 S 5/05) |
Gerichtshof für die Heilberufe Niedersachsen (Beschluss vom 23.02.2005; Aktenzeichen 1 S 5/05) |
Ärztliches Berufsgericht Niedersachsen (Urteil vom 17.11.2004; Aktenzeichen BG 5/03) |
Tenor
Das Urteil des Gerichtshofs für die Heilberufe Niedersachsen vom 14. September 2005 – 1 S 5/05 – und das Urteil des Ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen vom 17. November 2004 – BG 5/03 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Urteile werden aufgehoben. Die Sache wird an das Ärztliche Berufsgericht Niedersachsen zurückverwiesen.
Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
- Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verhängung einer Geldbuße in einem Verfahren vor ärztlichen Berufsgerichten.
1. Im November 2002 übersandte die Bezirksstelle V… der Ärztekammer Niedersachsen dem Beschwerdeführer Arbeitsmaterialien zum Thema “Häusliche Gewalt”, wobei sie in einem Begleitschreiben bat, diesen Leitfaden im Wartezimmer auszulegen. Der Leitfaden war vom Niedersächsischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit der Ärztekammer Niedersachsen verfasst worden und mit einem kurzen Vorwort der Stellvertretenden Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen, Frau Dr. G…, versehen. Daraufhin sandte der Beschwerdeführer der Bezirksstelle V… der Ärztekammer Niedersachsen am 5. Dezember 2002 ein Schreiben, in dem es unter anderem heißt:
Betr.: “Arbeitsmaterialien zu Thema “häusliche Gewalt””
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe den o.g. Unfug unverzüglich über das Altpapier entsorgt.
…
Vielleicht sollte das Ministerium sein Anliegen in den islamischen Ländern vorbringen, ….
Das Ärztliche Berufsgericht Niedersachsen verhängte wegen dieses Schreibens mit Beschluss vom 6. April 2004 eine Geldbuße von 1.000 € gegen den Beschwerdeführer und erhielt diese Entscheidung mit Urteil vom 17. November 2004 aufrecht. Der Beschwerdeführer habe ein unkollegiales Verhalten gegenüber anderen Ärzten im Sinne des § 29 Abs. 1 der Berufsordnung der Ärztekammer Niedersachsen (im Folgenden: BO) an den Tag gelegt. Indem er die ihm zugesandten Materialien kurzerhand als “Unfug” bezeichnet habe, habe er ein Anliegen seiner Kollegin Dr. G… in einer Form angegriffen, die eine Auseinandersetzung in der Sache selbst nicht mehr erkennen lasse, sondern sich in erster Linie als Herabsetzung des Anliegens seiner ärztlichen Kollegin darstelle.
Nachdem der Gerichtshof für Heilberufe Niedersachsen über die vom Beschwerdeführer gegen diese Verurteilung eingelegte Berufung zunächst mit Beschluss vom 23. Februar 2005 entschieden und sodann auf Antrag des Beschwerdeführers eine Hauptverhandlung gemäß § 82 Abs. 3 des Kammergesetzes für die Heilberufe Niedersachsen (im Folgenden: HKG) durchgeführt hatte, wies er die Berufung mit seinem Urteil vom 14. September 2005 zurück.
Die vom Beschwerdeführer verwendete Bezeichnung der Materialien zum Thema “Häusliche Gewalt” als “Unfug” verstoße gegen das Gebot der Kollegialität unter Ärzten. Dieser Verstoß sei auch im Lichte der durch Art. 5 GG geschützten Freiheit der Meinungsäußerung nicht hinzunehmen. Das von dem Beschwerdeführer vor allem hervorgehobene Problem, bei mehrdeutigen Meinungsäußerungen dürfe nicht von einer den Beschuldigten belastenden Interpretation ausgegangen werden, wenn auch eine günstige Auslegung möglich sei, stelle sich im vorliegenden Fall nicht. Die Bezeichnung der Arbeitsmaterialien als “Unfug”, der “unverzüglich über das Altpapier entsorgt” gehöre, lasse an Eindeutigkeit und Klarheit keinen Auslegungsspielraum zu. Dem Beschwerdeführer sei auch klar gewesen, dass es um ein Vorhaben gegangen sei, das von einem bei der Ärztekammer gebildeten Arbeitskreis getragen werde, dem auch Ärzte angehörten, so dass der Geltungsbereich des Kollegialitätsgebots berührt sei. Unter ausdrücklicher Bezeichnung ihrer Stellung als Stellvertretende Präsidentin der Ärztekammer Niedersachsen sei im Leitfaden selbst die Ärztin Dr. G… als Autorin des einleitenden Textes genannt. Sollte der Beschwerdeführer die Materialien gar nicht gelesen haben und sich daher der Mitwirkung der Stellvertretenden Präsidentin der Ärztekammer nicht bewusst gewesen sein, so würde dies sein Verschulden nur vergrößern.
Die beanstandete Äußerung sei nach Abwägung zwischen dem allgemeinen Interesse an einer funktionierenden Gesundheitsfürsorge und dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung als berufswidrig zu ahnden. Die Bezeichnung “Unfug” sei ein Verdikt, das auch bei kritischer Haltung das Maß des unter ärztlichen Kollegen erträglichen Umgangs überschreite. Solche pauschal abwertenden Äußerungen über die Tätigkeit anderer Ärzte, die durch die Form der Bezeichnung auch persönlich “geschmäht” würden, verletzten nicht nur die davon Betroffenen, sondern beeinträchtigten allgemein das Ansehen des Berufsstandes, zumal der Beschwerdeführer durch die Versendung einer Abschrift des Schreibens an das Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales dafür gesorgt habe, dass seine Äußerung kein Internum geblieben sei.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG. Die Gerichte hätten seiner Äußerung einen Sinn gegeben, den sie nach dem festgestellten Wortlaut nicht habe. Es sei eine reine Unterstellung, der Beschwerdeführer habe seine Kollegin Dr. G… oder ihr Anliegen herabgewürdigt. Adressatin des Schreibens vom 5. Dezember 2002 sei weder Frau Dr. G… noch die Ärztekammer Niedersachsen, sondern deren Bezirksstelle in V… gewesen. Daneben habe er es lediglich an das Niedersächsische Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales zu Händen der dort zuständigen Beamtin übersandt.
Selbst wenn jedoch die Deutung seines Schreibens durch den Gerichtshof zutreffend sein sollte, fiele die beanstandete Äußerung gleichwohl in den Schutzbereich des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Der Gerichtshof habe die erforderliche Abwägung zwischen den betroffenen Belangen nicht vorgenommen. Eine Meinungsäußerung, die ein Anliegen der Stellvertretenden Präsidentin der Ärztekammer als Unfug bezeichne, verstoße nicht notwendig gegen das ärztliche Kollegialitätsgebot. Schmähkritik könne hier nicht angenommen werden. Es handele sich vielmehr um Wertungen einer Aktion, die er als fragwürdig ansehe. Kritische Äußerungen gegenüber der von Kammerorganen verfolgten Berufspolitik oder gesellschaftspolitischen Aktionen berührten das Kollegialitätsgebot nicht, da dieses nur in der beruflichen Sphäre gelte. Als Verbandsfunktionärin könne Frau Dr. G… ohne weiteres zugemutet werden, auch überspitzte Kritik an einem “ihrer” Anliegen hinzunehmen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich des Beschlusses vom 23. Februar 2005 unzulässig, da der Beschluss nach durchgeführter Hauptverhandlung gem. § 82 Abs. 3 HKG als nicht erlassen gilt und somit mangels gegenwärtiger Betroffenheit kein Rechtsschutzbedürfnis mehr besteht. Im Übrigen sind die angefochtenen Entscheidungen nach § 93c, § 93a Abs. 2 Buchstabe b, § 95 Abs. 1 und 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache ist an das Berufsgericht zurückzuverweisen. Die insoweit zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
Die angefochtenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG.
Gegenstand der verfassungsrechtlichen Prüfung ist nur die Verurteilung wegen des unter I. 1. wiedergegebenen Auszugs des Schreibens des Beschwerdeführers. Weitere in dem Schreiben enthaltene Äußerungen waren für das Ärztliche Berufsgericht nicht Anlass der Festsetzung der Geldbuße.
1. Die Äußerung des Beschwerdeführers unterfällt dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Bei der Bezeichnung des Leitfadens als “Unfug”, den er “über das Altpapier entsorgt” habe, handelt es sich um eine Wertung, nicht um eine Tatsachenbehauptung.
2. Der durch die Verhängung der Geldbuße von 1.000 € bewirkte Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Beschwerdeführers ist durch die Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG nicht gerechtfertigt.
a) Allerdings sind die der Verurteilung zugrunde liegenden Vorschriften des § 29 Abs. 1 BO in Verbindung mit den Vorschriften des niedersächsischen Kammergesetzes für die Heilberufe, namentlich § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HKG, allgemeine Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG.
Die Auslegung und Anwendung dieser Vorschriften ist Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte, hier der Ärztlichen Berufsgerichte. Diese haben jedoch das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208 f.≫; stRspr). Im Zuge der Normanwendung verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die dem von der einschränkenden Norm geschützten Rechtsgut auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht. Die das Grundrecht einschränkenden Vorschriften – hier § 29 Abs. 1 BO – müssen ihrerseits im Lichte des eingeschränkten Grundrechts ausgelegt und angewandt werden, damit der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auch auf der Rechtsanwendungsebene Rechnung getragen wird (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪205 ff.≫; 94, 1 ≪8≫; stRspr). Das erfordert eine Abwägung zwischen der in der Verurteilung liegenden Grundrechtsbeeinträchtigung einerseits und der Gefährdung des von § 29 Abs. 1 BO geschützten Rechtsguts andererseits.
b) Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Verurteilung verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt und kann mit der von den Gerichten gefundenen Begründung keinen Bestand haben.
Voraussetzung jeder Abwägung ist, dass der Sinn einer Äußerung zutreffend erfasst wird. Der Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit wird verkannt, wenn sich die Gerichte unter mehreren objektiv möglichen Deutungen für die zur Verurteilung führende entscheiden, ohne die anderen unter Angabe schlüssiger Gründe auszuschließen (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪295 f.≫; 107, 275 ≪281 f.≫; stRspr).
Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.
aa) Die Gerichte haben die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen unkollegialen Verhaltens darauf gestützt, dass er durch die Bezeichnung des Leitfadens gegen häusliche Gewalt als “Unfug” seine Kollegin Dr. G… herabgewürdigt und sich dadurch unkollegial verhalten habe. Ein Bezug zu Frau Dr. G… ist seinem Schreiben jedoch nicht zu entnehmen. Sie wird darin weder namentlich noch ihrer Funktion nach erwähnt. Vielmehr richtet sich das streitige Schreiben inhaltlich gegen das Ministerium für Frauen, Arbeit und Soziales. Ausdrücklich heißt es, das Ministerium solle “sein” Anliegen in den “islamischen Ländern” vorbringen.
bb) Aber selbst wenn das Schreiben so zu deuten wäre, dass Adressatin der Äußerung Frau Dr. G… sei, kann die Verurteilung nicht aufrechterhalten werden, da die Abwägung der hier in Rede stehenden Belange den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht entspricht. Es ist nämlich nicht zu erkennen, dass die Berufsgerichte das Kollegialitätsgebot aus § 29 Abs. 1 Satz 1 BO im Lichte des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG ausgelegt und damit der wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit auch auf der Rechtsanwendungsebene Geltung verschafft haben.
(1) Die Annahme, in dem Verdikt “Unfug” liege eine Schmähung, die ohne weitere Abwägung zur Unzulässigkeit der Äußerung führe, ist fern liegend. Schmähkritik ist eine Äußerung nur dann, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern jenseits auch polemischer oder überspitzter Kritik die Diffamierung einer Person im Vordergrund steht (vgl. BVerfGE 82, 272 ≪283 f.≫; s. auch den von der Bundesärztekammer herangezogenen Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Dezember 2002 – 1 BvR 244/98 –, NJW 2003, S. 961). Das Ziel der persönlichen Diffamierung ist dem Schreiben jedoch nicht zu entnehmen. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen das inhaltliche Anliegen der von ihm angegriffenen Arbeitsmaterialien und bezeichnet diese als “Unfug”.
(2) Fehlt es aber an einer Schmähung, wird entscheidend, ob die Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern zutreffend vorgenommen worden ist. Dabei ist im Zuge der Auslegung und Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs des “unkollegialen Verhaltens” das Gewicht der Meinungsäußerung des Beschwerdeführers zu dem des vom Kollegialitätsgebot geschützten Rechtsguts ins Verhältnis zu setzen.
Wird insoweit die Annahme der Gerichte zugrunde gelegt, das Kollegialitätsgebot diene dem allgemeinen Interesse an einer funktionierenden Gesundheitsfürsorge und solle im Interesse des Heilwesens ein kollegiales Klima schaffen, so rückt dies die Verfehlung des Beschwerdeführers in ein anderes Licht als die Gerichte angenommen haben. Denn diese Belange werden durch die Äußerung des Beschwerdeführers allenfalls unwesentlich betroffen.
Dabei mag schon die Annahme des Gerichtshofs für die Heilberufe zweifelhaft sein, dass die Benutzung des Begriffs “Unfug” eine “unter Kollegen nicht akzeptable Form” der Äußerung darstellt, die berufsrechtlich zu sanktionieren ist. Jedenfalls ist bei der Abwägung nicht hinreichend gewürdigt worden, dass der Beschwerdeführer seinen Brief nicht allgemein verbreitet, sondern nur an die Bezirksstelle V… der Ärztekammer sowie an die verantwortliche Referatsleiterin des zuständigen Ministeriums gesandt hat. Eine darüber hinausgehende Außenwirkung konnte das Schreiben so nicht haben. Soweit das Schreiben die Bezirksstelle V… der Ärztekammer erreicht hat, hat es den internen Bereich der Ärzteschaft nicht verlassen.
Zwar ist eine Außenwirkung nicht zwingende Voraussetzung für die Annahme eines unkollegialen Verhaltens. Es ist jedoch bei der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter von Belang, inwieweit das Verhalten des Beschwerdeführers Außenwirkung hatte.
Aber selbst, wenn in dem Schreiben eine Verletzung des Kollegialitätsprinzips zu sehen wäre, wäre zumindest eine mildere Sanktion, etwa der in § 63 Abs. 1 Satz 1 HKG vorgesehene Verweis oder die Rüge gemäß § 64 HKG, in Betracht zu ziehen gewesen.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Von einer weitergehenden Begründung wird gem. § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem
Fundstellen