BVerfG: Anwälte müssen überzogene Polemik einstecken können
Das BVerfG geht traditionell nicht zimperlich mit Prozessbeteiligten wie Anwälten oder auch mit Richtern um, wenn es um überspitzte, polemische Äußerungen Prozessbeteiligter geht. Auch die Justiz selbst muss im „Kampf um das Recht“ nach Auffassung des höchsten deutschen Gerichts mitunter harsche Äußerungen der Prozessbeteiligten einstecken können. In einem Nichtannahmebeschluss haben die Verfassungsrichter erneut den Primat der Meinungsfreiheit über die Empfindsamkeit Prozessbeteiligter gestellt.
Anwalt wehrte sich gegen Titulierung als Rumpelstilzchen
Im konkreten Fall hatte eine Anwältin den gegnerischen Anwalt aus einem Familiengerichtsverfahren auf ihrer Internetseite u. a. als „Rumpelstilzchen“ und als „fetter Anwalt“ tituliert. Diese Attribute wollte der Anwalt nicht ohne Gegenwehr hinnehmen und beantragte gegen die Anwältin den Erlass einer einstweiligen Verfügung. Das zuständige AG verurteilte die Anwältin unter anderem zur Unterlassung der nach Auffassung des Gerichts beleidigenden Titulierung des Anwalts. Die hiergegen gerichtete Berufung der Anwältin blieb ohne Erfolg. Darauf reichte sie Verfassungsbeschwerde u. a. wegen Verletzung ihrer Meinungsfreiheit beim BVerfG ein.
Ordentlicher Rechtsweg nicht ausgeschöpft
Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips nicht zur Entscheidung angenommen. Nach Auffassung des BVerfG hatte die Beschwerdeführerin den ordentlichen Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft, da sie keinen Antrag auf Entscheidung in der Hauptsache durch die Instanzgerichte gestellt hatte, was ihr nach § 926 ZPO ohne Weiteres möglich gewesen wäre.
Offensichtliche Rechtsfehler bei den Instanzgerichten
Gleichwohl sahen sich die Verfassungsrichter veranlasst, auch inhaltlich zur Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen, da eine Verletzung verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen der Beschwerdeführerin ohne Weiteres nachvollziehbar sei. Die Verfassungsrichter warfen den Instanzgerichten offensichtliche Rechtsfehler bei der Durchführung des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor.
„Rumpelstilzchen“ ist keine Formalbeleidigung
Bei der Bezeichnung des Verfügungsklägers durch die Beschwerdeführerin auf ihrer Internetseite als „fetter Anwalt“ und als „Rumpelstilzchen“ handle es sich nicht um Formalbeleidigungen, sondern um Meinungsäußerungen, die in ihrem sprachlichen und sachlichen Kontext unter Berücksichtigung der gesamten Begleitumstände zu würdigen seien. Die rechtliche Würdigung der Instanzgerichte beinhaltet nach Auffassung der Verfassungsrichter schon insoweit einen Verstoß gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG, als die Entscheidungen der Ausgangsgerichte jegliche kontextbezogene Feststellung und Würdigung des Gesamtzusammenhangs der getroffenen Äußerungen vermissen ließen.
Abwägung der geschützten Rechtsgüter erforderlich
Die angegriffenen Äußerungen der Anwältin auf ihrer Internetseite können zwar auch nach Auffassung des BVerfG als Werturteile ehrverletzenden Charakter haben. In einem solchen Fall sei aber zwingend eine Abwägung der widerstreitenden durch die Verfassung geschützten Interessen vorzunehmen, die lediglich bei reiner Schmähkritik und Formalbeleidigungen entbehrlich sein könne (BVerfG, Beschlüsse v. 19.5.2020, 1 BvR 2397/19 und v. 21.3.2022, 1 BvR 2650/19).
Harte Bandagen beim „Kampf ums Recht“ erlaubt
Angesichts der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung war es für die Verfassungsrichter auch unverständlich, dass die Ausgangsgerichte kein Wort über den Kontext des gerichtlichen Ausgangsverfahrens verloren hatten, in dem die Beschwerdeführerin als Verfahrensbeistand bestellt worden war. Insoweit hätten die Ausgangsgerichte im Rahmen einer möglichen Ehrverletzung des Verfügungsklägers sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, dass bei dem „Kampf um das Recht“ im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich starke, überspitzte und eindringliche Ausdrucksweisen erlaubt sind, um die Rechtspositionen und die Anliegen einer Partei zu unterstreichen (BVerfG, Beschlüsse v. 28.7.2014, 1 BvR 482/13 und v. 16.10.2020, 1 BvR 1024/19).
Verfassungsbeschwerde setzt Erschöpfung des Rechtswegs voraus
Trotz dieser, die Grundrechte der Beschwerdeführerin verletzenden Verfahrensweise der Instanzgerichte, blieb der Verfassungsbeschwerde der Erfolg versagt, da die Verfassungsrichter deren Annahme wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips verweigerten.
(BVerfG, Beschluss v. 24.11.2023, 1 BvR 1962/23)
Hintergrund:
Mit seinen Ausführungen in dem aktuellen Nichtannahmebeschluss bestätigt das BVerfG seine bisherige Rechtsprechung zur Beleidigung von Verfahrensbeteiligten und Justizangehörigen.
Auch Richter benötigen ein dickes Fell
So hat das höchste deutsche Gericht bereits im Jahr 2014 den von einer Prozesspartei erhobenen Vorwurf des „schäbigen, rechtswidrigen und eines Richters unwürdigen Verhaltens“, für das „die Richterin bestraft“ werden müsse, „um nicht auf die schiefe Bahn zu geraten“ als von der Meinungsfreiheit geschützt bewertet (BVerfG, Beschluss v. 28.7.2014, 1 BvR 482/13). Die Meinungsfreiheit erlaube es nicht, den Rechtsinhaber auf das zu einer berechtigten Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm das Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.
Angstfreie Kritik an öffentlicher Gewalt ist Kernbereich der Meinungsfreiheit
Ähnlich entschied das höchste deutsche Gericht in dem Fall, in dem eine Prozesspartei äußerte: „Die gesamte Verhandlungsführung der Richterin erinnerte eher an einen mittelalterlichen Hexenprozess als ein nach rechts-staatlichen Grundsätzen geführtes Verfahren“ Auch hier hatte der Beschwerdeführer nach Auffassung des BVerfG aus seiner Sicht einen Kampf um sein Recht geführt. In diesem Kontext seien die Äußerungen nicht als reine, von jeglichem Sachzusammenhang losgelöste Schmähung der Richterin zu bewerten (BVerfG, Beschluss v. 14.6.2019, 1 BvR 2433/17).
Bei reiner Schmähkritik ist Grenze überschritten
Dieser vom Verfassungsgericht gesteckte großzügige Rahmen erlaubter Kritik hat seine Grenze da, wo es sich um reine Schmähkritik ohne jeglichen sachlichen Bezug handelt. Diese Grenze sah das BayObLG bei der Bezeichnung eines Amtsrichters als „menschlicher Abschaum“ als überschritten an (BayObLG, Beschluss v. 3. 2. 2022, 204 StRR 20/22).
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