Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Verzicht eines Museums auf Umsatzsteuerbefeiung zugunsten des Vorsteuerabzugs
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Hinblick auf die kraft Gesetzes von der Umsatzsteuer befreiten Einrichtungen der öffentlichen Hand i. S. des § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 1 UStG (hier: Museum) dient es der Vermeidung eines strukturellen Erhebungsdefizits, wenn eine Bescheinigung im Sinne des § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG auch ohne Antrag des Unternehmers auf eine Anregung der Steuerbehörde hin erteilt werden kann. Die Besteuerung ist nicht in das Ermessen des Finanzamts gestellt.
2. Der Untersuchungsgrundsatz des § 88 AO verpflichtet das Finanzamt, die zuständige Landesbehörde um die Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung zu ersuchen.
3. Ein Unternehmer kann nicht wegen des für ihn günstigeren Vorsteuerabzugs auf die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG verzichten.
Normenkette
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; UStG § 4 Nr. 20 Buchst. a S. 2, § 15 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AO 1977 § 88
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
I.
Die Beschwerdeführerin betreibt ein Museum. Sie wendet sich gegen die Erteilung einer Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) für Zwecke einer Umsatzsteuerbefreiung. Anlässlich einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung hatte das zuständige Finanzamt die Erteilung der Bescheinigung bei der zuständigen Landesbehörde beantragt. Die Bescheinigung besagt, dass die Beschwerdeführerin die gleichen kulturellen Aufgaben erfüllt wie die in § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 1 UStG genannten staatlichen und kommunalen Einrichtungen. Die Umsatzsteuerbefreiung hindert die Beschwerdeführerin, gegenüber dem Finanzamt einen Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG geltend zu machen. Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, die Bescheinigung dürfe nur auf ihren Antrag hin erteilt werden. Widerspruch, Klage, Berufung und Revision der Beschwerdeführerin gegen die Bescheinigung blieben erfolglos. Das Bundesverwaltungsgericht entschied, dass die Bescheinigung einen Antrag des Unternehmers nicht voraussetze und bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen auch auf Anregung des Finanzamts von der zuständigen Landesbehörde zu erteilen sei.
Entscheidungsgründe
II.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG.
1. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts führe zu einem “strukturellen Vollzugsdefizit” bei der Besteuerung der Einrichtungen im Sinne des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG und verstoße deshalb gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil weder die Finanzbehörden noch die für die Erteilung der Bescheinigung zuständigen Landesbehörden über das gesetzliche Instrumentarium verfügten, um alle Einrichtungen zu ermitteln, die die Voraussetzungen dieser Norm erfüllten und für die entsprechende Bescheinigungen erteilt werden müssten.
2. Außerdem rügt die Beschwerdeführerin sinngemäß die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG, weil die angefochtene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts eine Besteuerung nach freiem Ermessen der Finanzbehörde ermögliche. Die Finanzbehörde könne immer dann, wenn sie zufällig erfahre, dass trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG keine Bescheinigung erteilt worden sei, dieselbe bei der zuständigen Landesbehörde anregen und dadurch auf die Höhe der Umsatzsteuerschuld des Unternehmens Einfluss nehmen.
3. Schließlich führe die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu einer verfassungswidrigen rückwirkenden Besteuerung, weil im vorliegenden Fall bescheinigt werde, dass bereits in einem Zeitraum vor der Ausstellung der Bescheinigung eine steuerfreie Tätigkeit ausgeführt wurde.
III.
Die Voraussetzungen für die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung (§ 93 a BVerfGG) liegen nicht vor.
Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, da die entscheidungserheblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt sind. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Verfassungsrechte der Beschwerdeführerin angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten, insbesondere ist Art. 3 Abs. 1 GG nicht verletzt.
1. Die Rechtsauffassung, die Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG dürfe auch auf Anregung der zuständigen Steuerbehörde erteilt werden, verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.
a) Art. 3 Abs. 1 GG verlangt für das Steuerrecht, dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden. Wird die Gleichheit im Belastungserfolg durch die rechtliche Gestaltung des Erhebungsverfahrens prinzipiell verfehlt, kann dies die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Besteuerungsgrundlage nach sich ziehen (vgl. BVerfGE 110, 94 ≪112≫).
Eine in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers fallende, der materiellen Steuernorm strukturell entgegenstehende Erhebungsregel verstößt im Zusammenwirken mit der zu vollziehenden materiellen Steuernorm gegen das Gebot tatsächlich gleicher Steuerbelastung durch gleichen Gesetzesvollzug und führt zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm. Strukturell gegenläufig wirken sich Erhebungsregelungen gegenüber einem Besteuerungstatbestand aus, wenn sie dazu führen, dass der Besteuerungsanspruch weitgehend nicht durchgesetzt werden kann. Vollzugsmängel, wie sie immer wieder vorkommen können und sich tatsächlich ereignen, führen allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm (vgl. BVerfGE 84, 239 ≪272≫; 110, 94 ≪113≫).
Daraus folgt die Pflicht des Gesetzgebers, zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit des materiellen Steuergesetzes dieses in ein normatives Umfeld einzubetten, das die tatsächliche Lastengleichheit der Steuerpflichtigen gewährleistet – mit dem Instrument des Quellenabzugs oder im Veranlagungsverfahren mit der Ergänzung des Deklarationsprinzips durch das Verifikationsprinzip (vgl. BVerfGE 84, 239 ≪271, 273 f.≫; 110, 94 ≪113≫). Für die Prüfung, ob normative Defizite einen gleichmäßigen Belastungserfolg verhindern, ist maßgeblich auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens abzustellen (vgl. auch BVerfGE 84, 239 ≪275≫).
Lässt sich der Regelfall auf Grund einer Analyse der verfahrensrechtlichen Strukturen des Besteuerungsverfahrens und auf Grund von empirischen Erkenntnissen über die Veranlagungspraxis ausreichend zuverlässig so beschreiben, dass bestimmte Einkünfte materiell-rechtlich zutreffend nur bei einer qualifizierten Erklärungsbereitschaft des Steuerpflichtigen erfasst werden und ein Fehlverhalten bei der Erklärung ohne ein praktisch bedeutsames Entdeckungsrisiko möglich bleibt, dann liefert bereits dies hinreichende Grundlagen für die Feststellung einer im Gesetz strukturell angelegten Ungleichmäßigkeit der Rechtsanwendung (vgl. BVerfGE 110, 94 ≪114≫).
Diese Grundsätze gelten nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für die Auslegung der Gesetze durch die Gerichte (vgl. z.B. BVerfGE 58, 369 ≪374≫; 99, 129 ≪139≫, stRspr).
b) Gemessen an diesen Grundsätzen führt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zu einem strukturellen Erhebungsdefizit.
Im Hinblick auf die kraft Gesetzes von der Umsatzsteuer befreiten Einrichtungen der öffentlichen Hand im Sinne des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 1 UStG dient es der Vermeidung eines strukturellen Erhebungsdefizits, wenn eine Bescheinigung im Sinne des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG auch ohne Antrag des Unternehmers auf eine Anregung der Steuerbehörde hin erteilt werden kann.
Der Sinn und Zweck des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG besteht darin, die Gleichbehandlung der in Satz 1 der Vorschrift genannten Einrichtungen der öffentlichen Hand mit gleichartigen privaten Einrichtungen herbeizuführen. Diese Gleichbehandlung wäre aber gerade dann nicht gewährleistet, wenn auf Grund des Erfordernisses eines Antrags des Unternehmers dieser darüber bestimmen könnte, ob seine Umsätze steuerfrei oder steuerpflichtig sind. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die Landesbehörde müsse die Bescheinigung auch ohne einen Antrag des Unternehmers auf ein Ersuchen der Steuerbehörde erteilen, dient daher der Herstellung der tatsächlichen Gleichbehandlung dieser beiden Gruppen.
Im Übrigen kann auch innerhalb der Gruppe der Einrichtungen im Sinne des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG ein strukturelles Erhebungsdefizit nicht festgestellt werden. Einrichtungen, die die tatsächlichen Voraussetzungen des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG erfüllen und von einer Steuerbefreiung profitieren, werden bereits aus eigenem Antrieb die Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde beantragen und dem Finanzamt vorlegen.
In den Fällen, in denen die Umsatzsteuerpflicht günstiger wäre als die Umsatzsteuerbefreiung, in denen die betreffende Einrichtung also kein Interesse an der Erteilung und Vorlage der Bescheinigung hat, entsteht im Normalfall zunächst ein erheblicher Vorsteuerüberhang. Macht die Einrichtung diesen in entsprechenden Umsatzsteuer-Voranmeldungen geltend, so ist dies für die Finanzverwaltung Anlass eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung anzuordnen (vgl. auch Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 16. Mai 1994 in der Fassung vom 7. November 2002, BStBl I 2002, S. 1366). Auch im vorliegenden Fall wurde im Übrigen bei Erklärung eines Vorsteuerüberschusses durch die Beschwerdeführerin eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung veranlasst.
Stellt der zuständige Prüfer fest, dass es sich um einen Fall des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG handeln könnte, so wird er einen entsprechenden Antrag bei der zuständigen Landesbehörde stellen. Es besteht daher eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Fälle ermittelt werden, in denen eine Einrichtung im Sinne des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG die Bescheinigung nicht beantragt, um sich die für sie vorteilhaftere Umsatzsteuerpflicht zu erhalten.
Häufig – so auch im vorliegenden Fall – gibt bereits der Name der Einrichtung einen Anhalt für die Anwendbarkeit des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG. Auch die absolute Zahl der Einrichtungen im Sinne des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG im Zuständigkeitsbereich eines Finanzamts wird sich in einer überschaubaren Größenordnung bewegen, so dass deren Erfassung die Finanzbehörden nicht vor besondere Schwierigkeiten stellt.
Insgesamt ist daher davon auszugehen, dass im Regelfall des Besteuerungsverfahrens bei Anwendung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Umsätze der Unternehmer, die in den Anwendungsbereich des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG fallen, auch tatsächlich als umsatzsteuerfrei behandelt werden.
2. Die Rüge, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts stelle die Besteuerung in das Ermessen der Steuerbehörde, missachte damit den Gesetzesvorbehalt und verstoße deshalb gegen Art. 2 Abs. 1 GG, ist unbegründet.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht auf den Untersuchungsgrundsatz in § 88 AO hingewiesen. Hieraus ergibt sich die Verpflichtung der Finanzbehörde, in den Fällen, in denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass im Einzelfall die Voraussetzungen des § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG erfüllt sein könnten, die hierfür zuständige Landesbehörde um die Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung zu ersuchen. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellt daher die Besteuerung nicht in das Ermessen der Steuerbehörden.
3. Soweit die Beschwerdeführerin rügt, sie werde durch die angegriffene Entscheidung insofern in ihren Grundrechten verletzt, als rückwirkend auf die Steuerpflicht von Umsätzen Einfluss genommen werde, die vor der Erteilung der Bescheinigung von ihr getätigt worden seien, rügt sie der Sache nach einen Verstoß gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot des Vertrauensschutzes gemäß Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 59, 128 ≪164≫).
Die Rüge geht fehl. Die Frage, ob die von der Beschwerdeführerin getätigten Umsätze bereits ab dem in der Bescheinigung bezeichneten Zeitpunkt oder erst ab dem Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung als steuerfrei zu behandeln sind, wird nicht im Verfahren über die Ausstellung der Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchstabe a Satz 2 UStG entschieden, sondern erst in dem nachfolgenden Verfahren über die Änderung der von der Beschwerdeführerin eingereichten und bislang der Besteuerung zugrunde gelegten Umsatzsteuer-Jahreserklärungen beziehungsweise Umsatzsteuer-Voranmeldungen.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Papier, Haas, Bryde
Fundstellen
Haufe-Index 1741431 |
BFH/NV Beilage 2007, 299 |
HFR 2007, 500 |
UR 2007, 464 |