Entscheidungsstichwort (Thema)
Ständiger Aufenthalt. Ausbildungsort eines Wehrpflichtigen. Lebensmittelpunkt
Leitsatz (amtlich)
Der Ausbildungs- oder Studienort eines Wehrpflichtigen ist wegen des seiner Eigenart nach nur vorübergehenden dortigen Aufenthalts des Auszubildenden oder Studierenden regelmäßig nicht der Ort, an dem sich der Wehrpflichtige „ständig” im Sinne des § 1 WPflG aufhält. Der ständige Aufenthalt eines Wehrpflichtigen bleibt vielmehr während seiner Ausbildung oder seines Studiums in der Regel am Wohnort der Eltern erhalten, sofern der Wehrpflichtige seinen Lebensmittelpunkt nicht erkennbar an anderer Stelle geschaffen hat (stRspr des Senats, vgl. Urteil vom 23. Februar 1983 – BVerwG 6 C 90.82 – Buchholz 448.0 § 3 WPflG Nr. 12 S. 1 ≪3≫ m.w.N.).
Normenkette
WPflG § 1; VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, § 108 Abs. 1, § 132 Abs. 2
Verfahrensgang
VG Stade (Entscheidung vom 04.03.1999; Aktenzeichen 6 A 503/98) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Stade vom 4. März 1999 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 8 000 DM festgesetzt
Gründe
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat keinen Erfolg. Die Rechtssache hat jedenfalls insoweit keine grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) (aa) und auch ein entscheidungserheblicher Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor (bb), als die Klage in dem Urteil als unbegründet abgewiesen worden ist (a). Auf die Divergenzrüge kommt es nicht an, weil sie die Abweisung der Klage als unzulässig betrifft, und nicht entscheidungserheblich ist (b). Denn ist ein Urteil nebeneinander auf mehrere selbständig tragende Begründungen gestützt, so kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Revision nur dann zugelassen werden, wenn im Hinblick auf jede dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund geltend gemacht wird und vorliegt (vgl. etwa Beschlüsse vom 8. August 1973 – BVerwG 4 B 13.73 – und vom 17. April 1985 – BVerwG 3 B 26.85 – Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 115 und Nr. 232).
a) Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts hält die Klage für unzulässig, zusätzlich – aus selbständig tragenden Gründen – aber auch für unbegründet. Das gegen die Abweisung als unbegründet gerichtete Beschwerdevorbringen führt nicht zum Erfolg, weil weder die behauptete grundsätzliche Bedeutung noch ein geltend gemachter Verfahrensfehler vorliegen.
aa) Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), denn das Beschwerdevorbringen wirft keine bestimmte, höchstrichterlich noch ungeklärte und für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts (vgl. § 137 Abs. 1 VwGO) auf, die außerdem eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt. Die entscheidungserhebliche Rechtslage ist vielmehr durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt.
Das Verwaltungsgericht hat entscheidungstragend angenommen, die Wehrpflicht des Klägers ruhe gemäß § 1 Abs. 2 WPflG nicht. Diese Annahme stimmt auf der Grundlage der im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts überein (vgl. Urteil vom 6. März 1987 – BVerwG 8 C 64.84 – Buchholz 448.0 § 1 WPflG Nr. 20 S. 1 ≪2≫). Das gilt insbesondere für die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Kläger habe zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt den ständigen Aufenthalt seiner Eltern im Geltungsbereich des Wehrpflichtgesetzes geteilt. Der Ausbildungs- oder Studienort eines Wehrpflichtigen ist wegen des seiner Eigenart nach nur vorübergehenden dortigen Aufenthalts des Auszubildenden oder Studierenden regelmäßig nicht der Ort, an dem sich der Wehrpflichtige „ständig” im Sinne des § 1 WPflG aufhält (vgl. Urteil vom 23. Februar 1983 – BVerwG 6 C 90.82 – Buchholz 448.0 § 3 WPflG Nr. 12 S. 1 ≪3≫ m.w.N.). Der ständige Aufenthalt eines Wehrpflichtigen im Sinne des § 1 WPflG bleibt vielmehr während seiner Ausbildung oder seines Studiums in der Regel am Wohnort der Eltern erhalten, sofern der Wehrpflichtige seinen Lebensmittelpunkt nicht erkennbar an anderer Stelle geschaffen hat (vgl. Urteil vom 23. Februar 1983 a.a.O. S. 3 m.w.N.). Denn obwohl der ständige Aufenthalt im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WPflG nicht wie der Wohnsitz nach § 7 BGB begründet wird, entsprechen sich beide Begriffe weitgehend in den wesentlichen Merkmalen (vgl. Urteil vom 12. November 1975 – BVerwG 8 C 94.74 – Buchholz 448.0 § 1 WPflG Nr. 15 S. 2 ≪3≫). Teilt der Wehrpflichtige den ständigen Aufenthalt seiner Eltern, so ist seine etwa bestehende Absicht, später einen ständigen Aufenthalt anderweitig zu wählen, unerheblich. Das gilt auch dann, wenn der Wehrpflichtige künftig an den Ort zurückkehren will, den er verlassen hatte, um seinen Eltern an deren neuen ständigen Aufenthaltsort zu folgen (vgl. Urteil vom 12. November 1975 a.a.O. S. 3 f.).
Der Begriff des ständigen Aufenthalts setzt objektiv voraus, daß der Niederlassungsort den räumlichen Schwerpunkt der Lebensverhältnisse bildet (vgl. Urteil vom 1. März 1978 – BVerwG 8 C 62.76 – Buchholz 448.0 § 1 WPflG Nr. 17 S. 13 ≪16≫ m.w.N.). Dieser räumliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse ist an einem Niederlassungsort gegeben, der vor allen anderen örtlichen Beziehungen Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die Entfaltung des gesamten Lebens darstellt (vgl. Urteile vom 9. November 1967 – BVerwG 8 C 141.67 – BVerwGE 28, 193 ≪195≫ und vom 1. März 1978 a.a.O. S. 17). Subjektiv ist für die Annahme des ständigen Aufenthalts der Wille erforderlich, den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse am Niederlassungsort dauernd beizubehalten (vgl. Urteil vom 1. März 1978 a.a.O. S. 16). Dieser Wille muß durch feststellbare äußere Umstände zutage getreten sein, da er als innerer Vorgang einer unmittelbaren Erkenntnis entzogen ist (vgl. Urteil vom 9. November 1967 a.a.O. S. 195). Die Beurteilung, wo sich nach den dargelegten vom Verwaltungsgericht herangezogenen Kriterien der ständige Aufenthalt eines Wehrpflichtigen und seiner Eltern befindet, erfordert eine Gesamtwürdigung aller insoweit bedeutsamen Umstände des Einzelfalles (vgl. Urteil vom 1. März 1978 a.a.O. S. 17). Davon geht das angefochtene Urteil zutreffend aus. Ob das Verwaltungsgericht sämtliche entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände zutreffend ermittelt und erschöpfend gewürdigt hat, ist vom Revisionsgericht nur im Rahmen hierauf bezogener Verfahrensrügen zu überprüfen.
Diese Auslegung des Begriffs „ständiger Aufenthalt” gilt gleichermaßen für seine Verwendung in § 1 Abs. 1 WPflG, wie auch in § 1 Abs. 2 WPflG. Auf das Beschwerdevorbringen, daß die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 WPflG bei einem Deutschen im Sinne des Grundgesetzes vorliegen, der seinen früheren ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland als Kind und Jugendlicher hatte, nicht aber als Mann vom vollendeten 18. Lebensjahr an, kommt es deshalb nicht an. Im Sinne der genannten Rechtsvorschrift hatte der Beschwerdeführer nämlich im Zeitpunkt des vollendeten 18. Lebensjahrs seinen ständigen Aufenthalt bei seinen Eltern, gleichgültig ob er dort oder aus Gründen des Schulbesuchs oder Studiums an einem Ort in England wohnte.
bb) Das angefochtene Urteil beruht auch nicht auf einem mit der Beschwerde geltend gemachten Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
Die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge – Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) – ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht war rechtlich nicht verpflichtet, die von der Beschwerdeführung behaupteten Beweise zu erheben. Die Angriffe der Beschwerde beanstanden hier in Wirklichkeit die Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht, insbesondere die Behandlung der Frage, ob beim Kläger eine Ausnahme von der Regelvermutung eines ständigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland besteht oder nicht. Namentlich stellt sich das Beschwerdevorbringen, das Verwaltungsgericht habe den entscheidungserheblichen Sachverhalt unrichtig und unvollständig ermittelt und aus den festgestellten Tatsachen unrichtige Schlußfolgerungen gezogen, als revisionsrechtlich unbeachtlicher Angriff auf die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung dar. Diese ist revisionsrechtlich in aller Regel dem materiellen Recht zuzurechnen und deshalb grundsätzlich der Überprüfung auf eine Verfahrensrüge hin entzogen (vgl. Urteil vom 14. Mai 1975 – BVerwG 6 C 91.74 – Buchholz 448.0 § 34 WPflG Nr. 43 S. 1 ≪4≫; Beschluß vom 10. Februar 1978 – BVerwG 1 B 13.78 – Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 8 S. 10 ≪13≫). Der Umfang der verfahrensrechtlichen Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) des Tatsachengerichts wird durch seine eigene materiellrechtliche Auffassung bestimmt, die es der Entscheidung zugrunde legt (stRspr; vgl. z.B. Urteile vom 11. April 1991 – BVerwG 3 C 73.89 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 229 S. 54 und vom 18. April 1991 – BVerwG 2 C 7.90 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 230 S. 56 ≪57≫ jeweils m.w.N.).
Ob und unter welchen Voraussetzungen gleichwohl Mängel der Sachverhalts- und Beweiswürdigung als Verfahrensfehler geltend gemacht werden können (vgl. dazu Beschluß vom 14. März 1988 – BVerwG 5 B 7.88 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 199 S. 31 ≪32≫ m.w.N.), insbesondere dann, wenn der Fehler sich auf die tatsächliche Würdigung beschränkt und die rechtliche Subsumtion nicht berührt (vgl. Urteil vom 19. Januar 1990 – BVerwG 4 C 28.89 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 225 S. 74 f. m.w.N.), kann hier auf sich beruhen. Die tatrichterliche Sachverhalts- und Beweiswürdigung ist jedenfalls vom Revisionsgericht aufgrund des § 137 Abs. 2 VwGO nur auf die Verletzung allgemeinverbindlicher Beweiswürdigungsgrundsätze hin überprüfbar, zu denen die allgemeinen Auslegungsgrundsätze (§§ 133, 157 BGB), die gesetzlichen Beweisregeln, die Denkgesetze und die allgemeinen Erfahrungssätze gehören (stRspr; vgl. u.a. Urteile vom 6. Februar 1975 – BVerwG 2 C 68.73 – BVerwGE 47, 330 ≪361≫, vom 6. Dezember 1988 – BVerwG 9 C 22.88 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 99 S. 144 ≪147≫ und vom 13. September 1990 – BVerwG 2 C 20.88 – Buchholz 442.08 § 27 BBahnG Nr. 1 S. 1 ≪4≫; Beschlüsse vom 2. März 1988 – BVerwG 1 B 105.87 – Buchholz 436.52 § 1 GjS Nr. 16 S. 31 ≪32≫ und vom 14. März 1988, a.a.O. S. 32 m.w.N.). Der Beschwerde ist keine Verletzung eines solchen allgemeinen Beweiswürdigungsgrundsatzes zu entnehmen. Sie wendet sich vielmehr in Wahrheit gegen die Auslegung und Anwendung des materiellen Rechts durch das Verwaltungsgericht, nach dessen entscheidungstragender Rechtsauffassung die Familie des Klägers ihren ständigen Aufenthalt im maßgeblichen Zeitpunkt im Bundesgebiet hatte und der Kläger den ständigen Aufenthalt seiner Eltern im Rechtssinne teile und auch keine Ausnahme von der rechtlichen Regelvermutung im Falle des Klägers als weiterhin Studierendem bestehe.
Die Urteilsbegründung genügt entgegen dem Beschwerdevorbringen auch den Anforderungen des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Nach dieser Vorschrift muß sich das Gericht in den Entscheidungsgründen nicht mit jedem einzelnen Vorbringen eines Beteiligten auseinandersetzen. Es reicht vielmehr aus, daß in dem Urteil die Gründe angegeben werden, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (vgl. etwa Beschluß vom 16. August 1983 – BVerwG 9 CB 33.81 – Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 44 S. 19 ≪20≫). Das ist hier geschehen. Dem angefochtenen Urteil ist zu entnehmen, daß und aus welchen maßgebenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen das Verwaltungsgericht die Klage für unbegründet hält. Die Entscheidungsgründe enthalten insoweit die sowohl zur Unterrichtung der Beteiligten als auch für eine Nachprüfung in der Rechtsmittelinstanz notwendigen Ausführungen.
b) Die Frage des Vorliegens einer Divergenz i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist ohne Auswirkung auf die vorliegende Beschwerdeentscheidung, weil sie denjenigen Teil des angegriffenen Urteils betrifft, der die Klage als unzulässig ansieht. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht entscheidend, weil jedenfalls hinsichtlich der zweiten selbständig tragenden Begründungsalternative des Urteils ein Revisionszulassungsgrund nicht vorliegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes folgt aus § 13 Abs. 1 Satz 2, § 14 Abs. 1 und 3 GKG.
Unterschriften
Albers, Eckertz-Höfer, Graulich
Fundstellen
NVwZ-RR 2000, 362 |
NZWehrr 2001, 256 |