Verfahrensgang
OVG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 25.02.2015; Aktenzeichen 10 B 6.10) |
Tenor
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 25. Februar 2015 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten jeweils selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 000 EUR festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
Die auf alle Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 2
1. Die Revision ist nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen. Verfahrensmängel sind entweder schon nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlichen Weise bezeichnet oder liegen jedenfalls nicht vor.
Rz. 3
a) Der geltend gemachte Aufklärungsmangel ist nicht gegeben.
Rz. 4
Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Sachaufklärung grundsätzlich nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die ein anwaltlich vertretener Beteiligter nicht ausdrücklich beantragt hat. Der Beweisantrag ist förmlich spätestens in der mündlichen Verhandlung zu stellen (BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 2012 – 4 B 20.12 – BRS 79 Nr. 73 Rn. 6 m.w.N.). Denn die Aufklärungsrüge dient nicht dazu, Versäumnisse eines anwaltlich vertretenen Verfahrensbeteiligten in der Tatsacheninstanz zu kompensieren und insbesondere Beweisanträge zu ersetzen, die ein Beteiligter in zumutbarer Weise hätte stellen können, jedoch zu stellen unterlassen hat (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. August 2015 – 1 B 40.15 – juris Rn. 16). Für Behörden gilt insofern nichts Abweichendes, wenn diese durch einen eigenen Bediensteten mit der Befähigung zum Richteramt in der Berufungsinstanz vertreten werden (BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 2001 – 4 B 41.01 – NVwZ-RR 2001, 713 ≪714≫ und Urteil vom 23. November 2006 – 3 C 30.05 – Buchholz 418.9 TierSchG Nr. 15 Rn. 14). Eines förmlichen Beweisantrages bedarf es allerdings nicht, wenn sich dem Tatsachengericht eine weitere Sachaufklärung aufdrängen musste. Maßgeblich ist dabei der materiell-rechtliche Standpunkt des Tatsachengerichts, auch wenn dieser rechtlichen Bedenken begegnen sollte (stRspr, BVerwG, Urteil vom 14. Januar 1998 – 11 C 11.96 – BVerwGE 106, 115 ≪119≫).
Rz. 5
Der durch einen eigenen Bediensteten mit der Befähigung zum Richteramt vertretene Beklagte wirft dem Oberverwaltungsgericht vor, es habe unterlassen, die Hauptnutzung des Gebäudes auf dem Grundstück H.straße … aufzuklären; zudem habe es Größe, Umrisse und Struktur des Baukörpers auf dem Grundstück A. F. … falsch ermittelt. Im Wege einer Ortsbesichtigung hätten diese Umstände ohne Weiteres (zutreffend) aufgeklärt werden können. Dass er einen hierauf gerichteten Beweisantrag gestellt hat, trägt er nicht vor. Auch legt der Beklagte nicht dar, dass sich dem Tatsachengericht, ausgehend von seiner Rechtsauffassung, auch ohne ausdrücklichen Beweisantrag eine weitere Sachverhaltsermittlung hätte aufdrängen müssen. Vielmehr wendet er sich im Stile einer Berufungsbegründung gegen die Auffassung des Gerichts, es sei unklar, ob es sich bei dem Gebäude H.straße … um ein Gebäude der Hauptnutzung handele (UA S. 16), und die Bewertung, wonach die Bebauung auf den Grundstücken A. F. … und … als Doppelhaus i.S.v. § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO zu qualifizieren sei (UA S. 16). Das wird den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht gerecht.
Rz. 6
Soweit der Beklagte weiter rügt, das Oberverwaltungsgericht habe es unter Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO unterlassen, die mit einer Beseitigungsanordnung verbundenen Vermögensnachteile für die Beigeladenen zu ermitteln, fehlt es ebenfalls an einem entsprechenden Beweisantrag sowie der Darlegung, warum sich dem Berufungsgericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung (UA S. 19 f.) eine entsprechende Beweiserhebung hätte aufdrängen müssen.
Rz. 7
b) Ohne Erfolg macht die Beschwerde ferner (sinngemäß) geltend, das Oberverwaltungsgericht habe seine Hinweispflichten und damit den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verletzt.
Rz. 8
Die Hinweispflicht konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen (BVerwG, Urteil vom 11. November 1970 – 6 C 49.68 – BVerwGE 36, 264 ≪266 f.≫; Beschluss vom 4. Juli 2007 – 7 B 18.07 – juris Rn. 5). Hiergegen verstößt ein Gericht aber nur, wenn es einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit welcher der unterlegene Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte. Ansonsten muss ein Gericht die Beteiligten grundsätzlich nicht vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Prozessstoffs hinweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 29. Januar 2010 – 5 B 21.09 – Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 61 Rn. 18 und vom 26. Februar 2013 – 4 B 53.12 – juris Rn. 4). Das verkennt die Beschwerde mit ihrer Rüge, das Oberverwaltungsgericht habe in der mündlichen Verhandlung nicht offengelegt, wie es die Baustruktur der Hauptnutzung auf dem Grundstück A. F. … einschätze und dass es beabsichtige, diese zusammen mit dem Hauptbaukörper auf dem Nachbargrundstück als ein Doppelhaus im Rechtssinne einzuordnen.
Rz. 9
2. Die Revision ist auch nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zuzulassen.
Rz. 10
Zur Darlegung des Zulassungsgrundes der Divergenz ist gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erforderlich, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung u.a. des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 ≪n.F.≫ VwGO Nr. 26 und vom 13. Juli 1999 – 8 B 166.99 – Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 9).
Rz. 11
a) Die Beschwerde rügt, das Berufungsgericht sei von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. August 1960 – 1 C 42.59 – (BVerwGE 11, 95) in entscheidungserheblicher Weise abgewichen, in dem es die Rechtsauffassung vertreten habe, dass eine Ermessensreduzierung auf Null für ein bauaufsichts-rechtliches Einschreiten bereits dann gegeben sei, wenn drittschützende Vorschriften verletzt seien, außer in Fällen nicht spürbarer tatsächlicher Beeinträchtigung des Nachbarn. Demgegenüber habe das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass Verstöße gegen nachbarschützende Bestimmungen des öffentlichen Baurechts nicht ohne Weiteres einen voll ausgebildeten Rechtsanspruch des in geschützten Rechten beeinträchtigten Nachbarn auf baupolizeiliches Einschreiten begründeten. In den Urteilsgründen sei dieser Rechtssatz dahingehend präzisiert worden, dass für eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung neben anderen Umständen auch das Ausmaß oder die Schwere der Störung oder Gefährdung eine maßgebende Bedeutung hätten.
Rz. 12
Die Rüge ist nicht begründet. Es fehlt schon deswegen an einer Divergenz, weil die Vorinstanz die Annahme, das Ermessen bei der Entscheidung über den Erlass einer Beseitigungsverfügung sei auf die Beseitigung der Störung gerichtetes intendiertes Ermessen (UA S. 18), dem Landesrecht entnimmt. Soweit eine Entscheidung nicht revisibles Recht betrifft, scheidet eine Zulassung der Revision wegen Divergenz aber von vornherein aus (BVerwG, Beschluss vom 11. März 2009 – 4 BN 7.09 – juris Rn. 4). Im Übrigen hat das Berufungsgericht im vorliegenden Fall eine Ermessensreduzierung wegen der Verletzung von Nachbarrechten nicht „strikt”, sondern nur „regelmäßig” angenommen (UA S. 18). Nach seiner Auffassung können besondere Gründe – wie hier z.B. die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme (UA S. 18 f.) oder der Grundsatz von Treu und Glauben (UA S. 22 f.) – ausnahmsweise die Hinnahme des bestehenden Zustandes durch den Beklagten rechtfertigen und einen Anspruch auf bauaufsichtsrechtliches Einschreiten ausschließen. Dass diese nach Meinung des Berufungsgerichts hier nicht gegeben sind, ist den Besonderheiten des Einzelfalls geschuldet und begründet keine Divergenz i.S.v. § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.
Rz. 13
b) Soweit die Beschwerde eine Abweichung zum Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. April 1998 – 4 B 144.97 – (BauR 1999, 735) geltend macht, genügt sie nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Es fehlt bereits an der Darlegung divergierender abstrakter Rechtssätze.
Rz. 14
3. Schließlich besitzt die Rechtssache nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst.
Rz. 15
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), d.h. näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des Bundesrechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, so bereits BVerwG, Beschluss vom 2. Oktober 1961 – 8 B 78.61 – BVerwGE 13, 90 ≪91≫; siehe auch Beschluss vom 13. August 2015 – 4 B 15.15 – juris Rn. 3).
Rz. 16
Die von der Beschwerde für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage,
ob bei einem geringfügigen Verstoß gegen öffentliches Recht die baubehördliche Untätigkeit Rechte des Nachbarn/der Nachbarin verletzen kann, und wenn ja, ob sich derartige Verstöße angemessen auf andere Art und Weise kompensieren lassen,
führt nicht zur Zulassung der Revision; sie würde sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen. Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Klägerin nicht nur durch den Überbau beeinträchtigt werde, sondern auch dadurch, dass die gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BauO Bln (2005) notwendige Abstandsfläche durch das Bauwerk der Beigeladenen nicht eingehalten werde, weshalb nicht von einer „minimalen” Beeinträchtigung der Rechte der Klägerin ausgegangen werden könne (UA S. 19). Das Berufungsgericht ist somit gerade nicht von einem „geringfügigen Verstoß gegen öffentliches Recht” ausgegangen. An diese Feststellungen wäre der Senat in einem Revisionsverfahren mangels durchgreifender Verfahrensrügen gebunden (§ 137 Abs. 2 VwGO).
Rz. 17
Soweit der Beklagte klären lassen will, ob einheitliche Maßstäbe für die Ermessensreduzierung auf Null bei Rückbauverlangen durch Nachbarn gefunden werden können (Beschwerdebegründung vom 22. Mai 2015 S. 14), verkennt er, dass die Auslegung und Anwendung des § 79 Satz 1 BauO Bln kein Bundesrecht, sondern irrevisibles Landesrecht betrifft. Diesem ist zu entnehmen, wie bei Erlass einer Beseitigungsanordnung das Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben ist und wo die Grenzen des Ermessens liegen (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 21. März 2013 – 4 C 14.11 – juris Rn. 10 m.w.N.).
Rz. 18
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Unterschriften
Prof. Dr. Rubel, Dr. Decker, Dr. Külpmann
Fundstellen