Entscheidungsstichwort (Thema)
Erfolglose Beschwerde gegen Aussetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach § 99 Abs. 2 WDO
Leitsatz (amtlich)
Gegen eine Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach § 99 Abs. 2 WDO ist die Beschwerde nach § 114 Abs. 1 WDO statthaft.
Verfahrensgang
Truppendienstgericht Nord (Entscheidung vom 09.04.2024; Aktenzeichen S 5 VL 53/19) |
Tenor
Die Beschwerde des früheren Soldaten gegen den Beschluss der Vorsitzenden der 5. Kammer des Truppendienstgerichts Süd vom 9. April 2024 wird zurückgewiesen.
Tatbestand
Rz. 1
Das Beschwerdeverfahren betrifft die Aussetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens.
Rz. 2
Der frühere Soldat war bis Ende September 2018 Zeitsoldat. Das Amtsgericht P. verhängte gegen ihn mit Strafbefehl vom 6. April 2017 wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung. Auf seinen auf das Strafmaß beschränkten Einspruch minderte es mit rechtskräftigem Urteil vom 29. Juni 2017 das Strafmaß auf eine sechsmonatige Gesamtfreiheitsstrafe auf Bewährung.
Rz. 3
In dem Anfang 2018 eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren wurde der frühere Soldat sachgleich der Steuerhinterziehungen im sechsstelligen Euro-Bereich sowie zudem der Ausübung ungenehmigter Nebentätigkeiten mit Einkünften im sechsstelligen Euro-Bereich angeschuldigt. Nachdem die Vorsitzende der Truppendienstkammer den Hauptverhandlungstermin auf den 15. und 16. April 2024 anberaumt hatte, ging ihr ein angeforderter Zentralregisterauszug vom 1. März 2024 zu, in dem - über den vorherigen Auszug vom 5. Februar 2018 hinaus - neben dem Strafurteil vom 29. Juni 2017 eine rechtskräftige Verurteilung des früheren Soldaten vom 16. Januar 2019 wegen Steuerhinterziehung in fünf Fällen und versuchter Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung unter Einbeziehung des Strafurteils vom 29. Juni 2017 eingetragen war. Die Vorsitzende der Truppendienstkammer wies ausweislich ihrer Aktenvermerke die Wehrdisziplinaranwaltschaft auf die Eintragung hin und bat um Mitteilung, ob die Hauptverhandlung wie geplant stattfinden könne oder eine Nachtragsanschuldigungsschrift geplant sei.
Rz. 4
Die Wehrdisziplinaranwaltschaft beantragte daraufhin mit Schriftsatz vom 28. März 2024 die Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens. Sie habe Kenntnis erlangt, dass der frühere Soldat weitere schwerwiegende Dienstvergehen begangen haben könnte. Es sei beabsichtigt, die neuen Vorwürfe zu ermitteln und gegebenenfalls zum Gegenstand einer Nachtragsanschuldigungsschrift zu machen. Die Vorsitzende der Truppendienstkammer übersandte den Antrag mit Verfügung vom 2. April 2024 dem Verteidiger des früheren Soldaten zur etwaigen Stellungnahme binnen zehn Tagen und hob den Hauptverhandlungstermin auf. Der Verteidiger bat mit Schriftsatz vom 2. April 2024 um Mitteilung, wozu konkret Stellung genommen werden solle.
Rz. 5
Mit Beschluss vom 9. April 2024 hat die Vorsitzende der Truppendienstkammer das gerichtliche Disziplinarverfahren ausgesetzt.
Rz. 6
Der frühere Soldat hat am 6. Mai 2024 Beschwerde erhoben. Sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, weil der Aussetzungsbeschluss vor Ablauf der Stellungnahmefrist ergangen sei. Die Vorsitzende der Truppendienstkammer habe zudem den Aussetzungsgrund durch ihren Hinweis an die Wehrdisziplinaranwaltschaft selbst gesetzt. Er verweise auf seinen noch anhängigen Befangenheitsantrag vom 22. April 2024.
Rz. 7
Der Vertreter der Vorsitzenden der Truppendienstkammer hat in einem Vermerk vom 6. Mai 2024 festgehalten, dass die originäre Vorsitzende im Urlaub sei und der Beschwerde nicht abgeholfen werden solle, und hat verfügt, die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vorzulegen.
Rz. 8
Die Bundeswehrdisziplinaranwaltschaft hält die Beschwerde jedenfalls für unbegründet.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Rz. 10
1. Zwar ist sie zulässig, insbesondere nicht nach § 114 Abs. 1 Satz 2 WDO ausgeschlossen.
Rz. 11
Danach unterliegen Entscheidungen, die der Urteilsfällung vorausgehen - abgesehen von wenigen, hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen - nicht der Beschwerde, sondern gemeinsam mit der Sachentscheidung allein der Nachprüfung im Berufungsverfahren. Insoweit ist in der Senatsrechtsprechung geklärt, dass es nicht Sinn der Vorschrift sein kann, jede Entscheidung der Anfechtung zu entziehen, die rein zeitlich der Urteilsfällung vorausgeht. Vielmehr sollen nur solche Entscheidungen nicht mit der Beschwerde anfechtbar sein, die in einem inneren Zusammenhang mit der Urteilsfindung stehen, ausschließlich ihrer Vorbereitung dienen, bei der Urteilsfällung der nochmaligen Prüfung des Gerichts unterliegen und durch Rechtsmittel gegen das Urteil angefochten werden können (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. August 1998 - 2 WDB 1.98 - BVerwGE 113, 259 ≪259 f.≫ zu § 109 Abs. 1 Satz 2 WDO a. F.).
Rz. 12
Nach Maßgabe dessen ist die Aussetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens gemäß § 99 Abs. 2 WDO ebenso wie eine Aussetzung nach § 99 Abs. 3 WDO (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. August 1998 - 2 WDB 1.98 - BVerwGE 113, 259 ≪259 f.≫ m. w. N. zu § 96 Abs. 3, § 109 Abs. 1 Satz 2 WDO a. F.) und nach § 83 Abs. 1 Satz 1 WDO (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. September 2021 - 2 WDB 4.21 - juris Rn. 11; ebenso BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 1996 - 2 WDB 1.96 - NZWehrr 1996, 213 ≪213 f.≫ zu § 76 Abs. 1 Satz 1, § 109 Abs. 1 Satz 2 WDO a. F.) mit der Beschwerde anfechtbar. Denn die Entscheidung nach § 99 Abs. 2 WDO hat eine Bedeutung, die über einen inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung hinausgeht. Der Aussetzungsbeschluss wirkt sich hemmend auf das Verfahren aus, um dessen möglichst baldigen Abschluss sich der frühere Soldat mit seinem Begehren bemüht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29. Juli 1987 - 1 DB 16.87 - juris Rn. 6 zu § 67 Abs. 3, § 79 Abs. 1 BDO; a. A. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 114 Rn. 6).
Rz. 13
2. Die Beschwerde ist aber unbegründet.
Rz. 14
a) Eine Sachentscheidung des Senats ist nicht wegen eines Verfahrensmangels ausgeschlossen.
Rz. 15
Es kann dahinstehen, ob der Vertreter der Vorsitzenden der Truppendienstkammer während deren Urlaubs die Nichtabhilfeentscheidung nach § 114 Abs. 3 Satz 1 WDO treffen durfte, obwohl über den Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende der Truppendienstkammer bislang nicht entschieden worden ist und ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen hat, die keinen Aufschub gestatten (vgl. § 29 Abs. 1 StPO). Selbst wenn darin ein Verfahrensmangel läge, sieht der Senat von einer Zurückverweisung ab (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Juli 2022 - 2 WDB 11.21 - NVwZ-RR 2022, 995 Rn. 19 m. w. N.). Denn eine Zurückverweisung der Sache durch das Beschwerdegericht ist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 309 Rn. 7; Reichenbach, in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, 7. Aufl. 2023, § 309 Rn. 7). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben.
Rz. 16
Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor. Denn eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters kann nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich als Verfassungsverstoß angesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind erst überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Dezember 2023 - 1 BvR 75/22 - juris Rn. 33 m. w. N.). Ein derart qualifizierter Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter steht hier nicht in Rede. Insbesondere wurde kein Vertretungsfall allein infolge des Ablehnungsantrags angenommen (dazu VerfGH Baden-Württemberg, Urteil vom 23. September 2019 - 1 VB 65/17 - juris Rn. 38 ff.). Vielmehr war ausweislich des Vermerks des Vertreters vom 6. Mai 2024 der Urlaub der Vorsitzenden der Truppendienstkammer Anlass für das Tätigwerden des Vertreters.
Rz. 17
b) Die Vorsitzende der Truppendienstkammer hat das gerichtliche Disziplinarverfahren in der Sache zu Recht ausgesetzt.
Rz. 18
aa) Nach § 99 Abs. 2 WDO setzt der Vorsitzende des Truppendienstgerichts, wenn der Wehrdisziplinaranwalt mitteilt, dass neue Pflichtverletzungen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden sollen, das gerichtliche Disziplinarverfahren aus, bis der Wehrdisziplinaranwalt nach Ergänzung der Ermittlungen einen Nachtrag zur Anschuldigungsschrift vorlegt oder die Fortsetzung des Verfahrens beantragt. Die Vorschrift stellt die Aussetzung nicht in das Ermessen des Vorsitzenden der Truppendienstkammer, sondern sieht zwingend eine Aussetzung vor, wenn der Wehrdisziplinaranwalt - wie hier mit Schriftsatz vom 28. März 2024 - mitteilt, dass neue Pflichtverletzungen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden sollen. Dass er angegeben hat, sie sollten "gegebenenfalls" zum Gegenstand einer Nachtragsanschuldigungsschrift gemacht werden, steht dem nicht entgegen, da damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass noch ergänzende Ermittlungen anstünden. Bei einer unangemessenen Verzögerung der Vorlage der Nachtragsanschuldigungsschrift kann der frühere Soldat durch Anrufung des Truppendienstgerichts entsprechend § 101 WDO eine Fortsetzung des Verfahrens herbeiführen (vgl. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 101 Rn. 10).
Rz. 19
bb) Der Aussetzung steht auch nicht entgegen, dass der Aussetzungsantrag auf einen Hinweis der Vorsitzenden der Truppendienstkammer an die Wehrdisziplinaranwaltschaft auf den weiteren Eintrag im Zentralregisterauszug vom 1. März 2024 zurückgeht. Denn die Herkunft der Informationen, welche die Wehrdisziplinaranwaltschaft zu der Mitteilung nach § 99 Abs. 2 WDO veranlassen, ist nach der Vorschrift für die Rechtmäßigkeit der Aussetzungsentscheidung ohne Belang. Gegen richterliche Hinweise, die aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln, können die Verfahrensbeteiligten - wie geschehen - im Hauptsacheverfahren mit einem Befangenheitsantrag vorgehen. Dass die im Zentralregisterauszug enthaltene Eintragung über ein weiteres Steuerdelikt ein hinreichender Grund für weitere Ermittlungen und eine Nachtragsanschuldigung sein kann, hat der frühere Soldat selbst nicht in Abrede gestellt.
Rz. 20
cc) Der Aussetzungsbeschluss ist schließlich nicht wegen eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufzuheben.
Rz. 21
Zwar folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG, dass die Gerichte selbstgesetzte Äußerungsfristen beachten und mit der Entscheidung bis zum Ablauf der Äußerungsfrist warten müssen, auch wenn sie die Sache für entscheidungsreif halten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. August 2003 - 1 BvR 1646/02 - juris Rn. 16 m. w. N.). Dies hat die Vorsitzende der Truppendienstkammer nicht getan. Sie hat dem Verteidiger des früheren Soldaten mit Verfügung vom 2. April 2024 Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zehn Tagen zum Aussetzungsantrag gegeben, aber den Aussetzungsbeschluss vor Fristablauf am 9. April 2024 erlassen. Zwar hatte der Verteidiger auf die Verfügung mit Schriftsatz vom 2. April 2024 bereits reagiert. Dabei hat es sich aber noch nicht um eine Stellungnahme gehandelt, sondern um eine Bitte um Mitteilung, wozu konkret binnen der Frist Stellung genommen werden solle. Die Vorsitzende hätte daher den Eingang der Stellungnahme zur Sache abwarten müssen. Ungeachtet dessen gebietet Art. 103 Abs. 1 GG ein Abwarten der vom Gericht gesetzten Frist auch dann, wenn die Sache nach Eingang der Stellungnahme einer Partei bereits entscheidungsreif erscheint (BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. August 2003 - 1 BvR 1646/02 - juris Rn. 18 m. w. N.).
Rz. 22
Eine gerichtliche Entscheidung kann jedoch nur dann wegen eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufgehoben werden, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Anhörung des Beteiligten zu einer anderen, ihm günstigeren Entscheidung geführt hätte; nur dann beruht die Entscheidung darauf, dass der Beteiligte nicht gehört wurde (BVerfG, Beschluss vom 3. Oktober 1961 - 2 BvR 4/60 - BVerfGE 13, 132 ≪144 f.≫). Vorliegend ist jedoch auszuschließen, dass die Vorsitzende der Truppendienstkammer zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, wenn sie den Ablauf der Frist abgewartet hätte, weil es sich bei der Aussetzungsentscheidung nach § 99 Abs. 2 WDO um eine gebundene Entscheidung handelt, die auf Antrag ergehen muss.
Rz. 23
3. Einer Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bedurfte es nicht. Diese werden von der zur Hauptsache ergehenden Kostenentscheidung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens umfasst (vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. September 2021 - 2 WDB 4.21 - juris Rn. 20).
Fundstellen
NVwZ-RR 2024, 5 |
NVwZ-RR 2024, 881 |
JZ 2024, 490 |