Verfahrensgang
OVG Berlin (Urteil vom 09.05.2003; Aktenzeichen 6 A 8.03) |
Tenor
Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 9. Mai 2003 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 10 225,84 € festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Kläger begehren als lärmbetroffene Grundeigentümer Nachtflugbeschränkungen für den von der Beigeladenen betriebenen Flughafen Berlin-Tegel. Der Flughafen gilt nach § 2 Abs. 5 des Gesetzes zur Überleitung von Bundesrecht nach Berlin (West) vom 25. September 1990 (Sechstes Überleitungsgesetz, BGBl I S. 2106) nach der Übergabe durch die französischen Militärdienststellen, die im Jahre 1994 abgeschlossen worden ist, als planfestgestellt und genehmigt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Verpflichtungsklage der Kläger im Wesentlichen mit folgender Begründung abgewiesen:
Die Voraussetzungen des § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG, der hier allein als Grundlage eines Anspruchs auf nachträgliche Anordnung von Nachtflugbeschränkungen in Betracht komme, seien nicht erfüllt. Nicht voraussehbare nachteilige Wirkungen, die einen derartigen Anspruch rechtfertigen könnten, seien nach dem In-Kraft-Treten des Sechsten Überleitungsgesetzes im Jahr 1990 nicht eingetreten. Zwar könnten nicht voraussehbare Wirkungen eines Vorhabens im Sinne von § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG nicht nur in einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegen, sondern auch darin begründet sein, dass auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse die zum maßgeblichen Zeitpunkt vorhandene und berücksichtigte Sachlage nunmehr grundlegend anders bewertet werde. Nichtvoraussehbarkeit nachteiliger Wirkungen eines Vorhabens auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse setze jedoch voraus, dass die neue Erkenntnislage übereinstimmend als gesichert angesehen werde. Das sei hier nicht der Fall. Die Lärmwirkungsforschung zeige keine grundlegend geänderte Einschätzung zur Zumutbarkeit von Nachtfluglärm auf.
Mit ihrer Beschwerde begehren die Kläger die Zulassung der Revision.
Entscheidungsgründe
II.
Die auf § 132 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt erfolglos. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht.
1. Die Rechtssache besitzt nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Kläger beimessen.
1.1 Die Kläger werfen als grundsätzlich bedeutsam die Frage auf, ob eine Nichtvoraussehbarkeit nachteiliger Wirkungen eines Vorhabens auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse voraussetzt, dass die (neue) Erkenntnislage “übereinstimmend als gesichert angesehen wird”. Diese Frage wirft keinen revisionsgerichtlichen Klärungsbedarf auf. Sie lässt sich auf der Grundlage des Gesetzes und der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ohne weiteres beantworten.
Treten nicht voraussehbare nachteilige Wirkungen erst nach Unanfechtbarkeit des Plans auf, so besteht nach § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG für den Betroffenen gegenüber der Planfeststellungsbehörde ein Anspruch auf nachträgliche Planergänzung durch Anordnung von Schutzvorkehrungen oder Anlagen, welche die nachteiligen Wirkungen ausschließen oder mildern. Nicht voraussehbar im Sinne dieser Vorschrift sind auch Auswirkungen, deren Schädlichkeit oder Gefährlichkeit sich auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und des technischen Fortschritts erst nachträglich herausstellen. Insoweit trägt § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG tatsächlichen Entwicklungen Rechnung, die einen neuen Stand von Wissenschaft und Technik begründen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1985 – BVerwG 7 C 65.82 – BVerwGE 72, 300 ≪312≫).
Welche Anforderungen neue wissenschaftliche Erkenntnisse erfüllen müssen, um im Anwendungsbereich von § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG einen Anspruch auf nachträgliche Planergänzung zu begründen, beurteilt sich nach dem Schutzzweck dieser Vorschrift. Diese soll gewährleisten, dass der von der Planung nachteilig Betroffene nicht schlechter steht, als er stünde, wenn die eingetretene nachteilige Wirkung bereits im Zeitpunkt der Planfeststellung (hier: Fiktion der Planfeststellung nach dem Sechsten Überleitungsgesetz) eingetreten oder voraussehbar gewesen wäre. Zu fragen ist daher, ob bei unterstellter Voraussehbarkeit der Wirkungen im Zeitpunkt der Planfeststellung begründeter Anlass bestanden hätte, zu Gunsten der nachteilig Betroffenen im Planfeststellungsbeschluss Schutzauflagen anzuordnen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juli 1988 – BVerwG 4 C 49.86 – BVerwGE 80, 7 ≪11, 15≫). Hiervon ausgehend versteht es sich von selbst, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse einen Anspruch auf nachträgliche Planergänzung nur begründen, wenn sie als gesichert angesehen werden können. Das heißt im Ergebnis: Die neuen Erkenntnisse müssen sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt und allgemeine Anerkennung gefunden haben. Allgemeine Anerkennung bedeutet nicht Einstimmigkeit der Zustimmung in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Ein neuer Stand der Wissenschaft ist jedoch nicht erreicht, solange bisher anerkannte wissenschaftliche Aussagen kritisch hinterfragt und kontrovers diskutiert werden, ohne dass sich in der Forschung bereits ein neuer Grundkonsens abzeichnet. Wie sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils ergibt, legt auch das Oberverwaltungsgericht diesen Maßstab bei der Würdigung neuerer lärmmedizinischer Untersuchungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Nachtfluglärms an. Es kommt zu dem Ergebnis, dass angesichts der Uneinheitlichkeit der Positionen “eine hinreichend gesicherte neue Erkenntnislage” nicht vorliegt (Urteilsabschrift S. 14, 15). Die Beschwerde wirft keine Rechtsfragen zur Auslegung von § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG auf, die über die vorinstanzliche Sachverhaltswürdigung im Streitfall hinaus in verallgemeinerungsfähiger Weise in einem Revisionsverfahren geklärt werden könnten.
1.2 Die Beschwerde entnimmt den Gründen des angefochtenen Urteils, dass nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts nicht nur die Wirkungen eines Vorhabens, sondern auch die “Vorkehrungen” oder die “Errichtung und Unterhaltung von Anlagen” im Sinne von § 75 Abs. 2 Satz 2 VwVfG, welche die nachteiligen Auswirkungen ausschließen oder mildern, daraufhin zu beurteilen seien, “ob sie nicht voraussehbar sind”, und sieht hierin eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Insoweit genügt das Beschwerdevorbringen nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Die Beschwerde formuliert schon im Ansatz keine grundsätzlich klärungsbedürftige Frage des revisiblen Rechts. Die aufgeworfene Rechtsfrage ergibt keinen Sinn. Sie beruht auf einem Missverständnis der Entscheidungsgründe (Urteilsabschrift S. 17) und betrifft im Übrigen eine Formulierung der Vorinstanz, die offensichtlich nicht entscheidungstragend ist.
1.3 Die in der Beschwerdebegründung (S. 4 bis 11) aufgeworfenen und erläuterten Fragen, die sämtlich die Berücksichtigung einer Lärmvorbelastung bei der Bewertung der Zumutbarkeit von Fluglärm betreffen, sind nicht entscheidungserheblich und schon deshalb der rechtsgrundsätzlichen Klärung in einem Revisionsverfahren nicht zugänglich. Dieses Beschwerdevorbringen zielt auf den Hinweis des Oberverwaltungsgerichts (Urteilsabschrift S. 17), nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gehöre die Möglichkeit des Wohnens und Schlafens auch bei (gelegentlich) geöffneten Fenstern zu den schützenswerten Wohnbedürfnissen in einem nicht durch Störfaktoren nachteilig vorbelasteten Wohngebiet (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Januar 1991 – BVerwG 4 C 51.89 – BVerwGE 87, 332 ≪388≫ m.w.N.). Auch dieser Hinweis des Oberverwaltungsgerichts kann nicht als entscheidungstragend angesehen werden. Er ist Bestandteil der Urteilsgründe, die darlegen, dass die Ablehnung eines Anspruchs der Kläger auf nachträgliche Nachtflugbeschränkungen nach Ansicht der Vorinstanz nicht zu einem verfassungsrechtlich untragbaren Ergebnis führen: Die Kläger seien auf Grund des nächtlichen Fluglärms nicht dem Risiko einer ernsthaften gesundheitlichen Gefährdung ausgesetzt. Angesichts der Schalldämmung, die eintrete, wenn die Fenster nachts geschlossen seien, bestehe keine gesundheitsrelevante Beeinträchtigung. Das Oberverwaltungsgericht geht in diesem Abschnitt seiner Urteilsgründe der Frage nach, ob die nächtliche Fluglärmbelastung der Kläger die grundrechtliche Erheblichkeitsschwelle erreicht oder gar überschreitet. Geht es aber um die Frage, ob die zu erwartenden Lärmimmissionen Gesundheitsbeeinträchtigungen im Sinne des Art. 2 Abs. 2 GG darstellen, ist kein Raum für die Berücksichtigung der bisherigen tatsächlichen oder planungsrechtlichen Situation als schutzmindernde Vorbelastung (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1998 – BVerwG 11 A 3.98 – BVerwGE 107, 350 ≪357≫ m.w.N.). Das Oberverwaltungsgericht hatte daher nach seinem eigenen Begründungsansatz keinen Anlass, sich mit den von der Beschwerde zur Bewertung schutzmindernder Vorbelastungen aufgeworfenen Rechtsfragen auseinander zu setzen. Sie wären auch in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich. Die von der Beschwerde formulierten Rechtsfragen zielen auf die Bewertung einer Fluglärmvorbelastung bei der Bestimmung der fachplanungsrechtlichen (einfach-gesetzlichen) Zumutbarkeitsgrenze im Rahmen der luftverkehrsrechtlichen Abwägung nach § 8 Abs. 1 Satz 2 LuftVG und werden deshalb den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts zur Grundrechtsrelevanz der von den Klägern geltend gemachten nächtlichen Fluglärmbelastungen nicht gerecht.
2. Die erhobene Divergenzrüge greift nicht durch. Die Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, dass den Klägern kein Anspruch auf Lärmschutz bei geöffnetem Fenster zustehe, steht nicht in Widerspruch zur zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Im angegriffenen Urteil (Urteilsabschrift S. 16 ff.) geht es um die von jeder fachplanungsrechtlichen Zumutbarkeitsgrenze zu unterscheidende Schwelle der Gesundheitsgefährdung, die durch das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG markiert wird. Dass zu diesem Grundrecht ein Anspruch auf Schlafen bei (teilweise oder gelegentlich) geöffnetem Fenster gehört, ist der von der Beschwerde angeführten Entscheidung vom 29. Januar 1991 – BVerwG 4 C 51.89 – (a.a.O. ≪346, 388≫) ebenso wenig zu entnehmen wie dem Urteil vom 18. April 1996 – BVerwG 11 A 86.95 – (BVerwGE 101, 73 ≪86≫; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 29. Mai 2001 – BVerwG 9 B 18.01 –).
3. Die gerügten Verfahrensmängel liegen ebenfalls nicht vor.
Die Beschwerde rügt, dass das Oberverwaltungsgericht zur Klärung der Frage nach dem aktuellen Stand der Lärmwirkungsforschung keinen Sachverständigenbeweis erhoben hat (§ 86 Abs. 1 VwGO). Diese Rüge genügt den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO an die Darlegung eines Verfahrensmangels nicht. Die Beschwerde zeigt nämlich nicht substantiiert auf, dass dem Oberverwaltungsgericht die Sachkunde fehlte, die Frage nach einer grundlegend geänderten Einschätzung zur Zumutbarkeit von Nachtfluglärm auf der Grundlage der allgemein zugänglichen, zum Teil von Beteiligten in das Verfahren eingeführten Veröffentlichungen zum Stand der lärmmedizinischen Forschung ohne Einschaltung eines Sachverständigen zu beantworten. Die Verfahrensrüge gründet sich auf den Vorwurf, die Vorinstanz habe nicht erkannt, dass bisher als gesichert geltende Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung “statistisch/rechnerisch widerlegt” seien. Damit setzt die Beschwerde ihre Würdigung neuerer Erkenntnisse der Lärmwirkungsforschung an die Stelle der vorinstanzlichen Einschätzung neuerer Forschungsergebnisse. Diese Kritik der vorinstanzlichen Sachverhaltswürdigung ist nicht geeignet, den Verfahrensmangel fehlender Sachaufklärung darzulegen.
Die Rüge, dem Oberverwaltungsgericht hätte sich bei den Erwägungen zu einer Lärmvorbelastung des klägerischen Anwesens weitere Sachaufklärung aufdrängen müssen, bleibt erfolglos, weil die Beschwerde nicht substantiiert darlegt, dass es bei der Prüfung der Frage, ob die nächtlichen Lärmimmissionen im Fall der Kläger die grundrechtsrelevante Schwelle der Gesundheitsgefährdung erreichen oder überschreiten, auf die Feststellung einer schutzmindernden tatsächlichen oder plangegebenen Vorbelastung überhaupt ankommt.
Die Beschwerde rügt schließlich, dass das Oberverwaltungsgericht keinen Anlass gesehen habe, die aktuelle Belastung der Kläger mit nächtlichen Spitzenschallpegeln im Wege von Messungen und/oder lärmphysikalischen Berechnungen weiter aufzuklären, sondern zur Orientierung über das Ausmaß der tatsächlichen Belastung auf die Messungen der Kläger, die Angaben der Beigeladenen und auf die von den Klägern gefertigte Zusammenstellung von Lärmdaten auf der Grundlage des von der Beigeladenen herausgegebenen “Umweltreports” zurückgegriffen habe, obwohl die Datenerhebungen der Beigeladenen ersichtlich mit einem Unsicherheitsfaktor behaftet seien. Auch insoweit ist ein Aufklärungsmangel nicht dargetan. Die Vorinstanz kommt auf der Grundlage eigener Berechnungen (Urteilsabschrift S. 19) zu dem Ergebnis, dass das Auftreten von mehr als sechs Lärmereignissen über 80 dB(A) in der Nacht auch dann fern liegend sei, wenn die vorliegenden Zahlen um einen sehr großen Aufschlag ergänzt würden. Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass bei dieser “Hochrechnung” um einen hypothetischen Aufschlag Anlass zu einer weiteren gutachterlichen Aufklärung bestand. Allein der Umstand, dass die Kläger die vorliegenden Zahlen anders bewerten, rechtfertigt weder die Annahme eines Aufklärungsmangels noch eine Verletzung des Grundsatzes richterlicher Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 und § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Unterschriften
Dr. Paetow, Prof. Dr. Rojahn, Dr. Jannasch
Fundstellen