Leitsatz (amtlich)
Wird das Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu Unrecht bejaht und ergeht ein Sachurteil an Stelle eines Prozessurteils, liegt hierin ein Verfahrensfehler im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Angesichts der den Sachausspruch erfassenden Rechtskraftwirkung wird ein Beigeladener dadurch grundsätzlich auch in seinen subjektiven Verfahrensrechten verletzt.
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 07.06.2022; Aktenzeichen 15 A 2100/18) |
VG Düsseldorf (Urteil vom 12.04.2018; Aktenzeichen 18 K 8102/17) |
Tenor
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 2022 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Gründe
I
Rz. 1
Der Kläger nimmt als Betreiber einer Ponyreitbahn für Kinder bundesweit an Volksfesten und regelmäßig auch an der...kirmes in K. teil. Bereits im Jahr 2016 fanden dort vor seinem Betrieb von der Beigeladenen angemeldete Versammlungen statt, die sich gegen die nicht artgerechte Haltung von Ponys und die Ausbeutung von Tieren zu Unterhaltungszwecken wandten.
Rz. 2
Für die Frühjahreskirmes 2017 meldete die Beigeladene unter dem Motto "Nutzung von Tieren zur Unterhaltung (Ponykarussell)" Versammlungen von jeweils 30 bis 40 Teilnehmern an vier Nachmittagen an. Nach ihren Angaben sollten zehn Personen vor dem Reitbetrieb des Klägers stehen, die übrigen Teilnehmer diesem gegenüber. Es sei beabsichtigt, Flyer zu verteilen, Texte zu verlesen, zu skandieren und mit interessierten Besuchern ins Gespräch zu kommen. Mit Auflagenbescheid vom 18. April 2017 untersagte die zuständige Polizeibehörde des beklagten Landes u. a. die Verwendung von technischen Schallverstärkern auf dem Kirmesgelände. Der gegen die Untersagung des Megafoneinsatzes gerichtete Eilantrag der Beigeladenen hatte teilweise Erfolg.
Rz. 3
Der Kläger beantragte bei der Versammlungsbehörde, zum Schutz seines Gewerbebetriebs weitergehende Auflagen zu erlassen, insbesondere die Versammlung auf einen außerhalb des Kirmesgeländes gelegenen Ort zu verlagern oder hilfsweise die Anzahl der Versammlungen zu beschränken und einen Mindestabstand von 15 Metern zu seinem Betrieb vorzuschreiben. Weder dieser Antrag noch ein entsprechender Eilantrag des Klägers zum Verwaltungsgericht Düsseldorf hatten Erfolg.
Rz. 4
Auch seine zunächst auf Ergänzung des Auflagenbescheids vom 18. April 2017 gerichtete und nach Abschluss der Frühjahreskirmes 2017 auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Unterlassens weiterer Auflagen umgestellte Klage wies das Verwaltungsgericht ab. Das Oberverwaltungsgericht gab der Berufung des Klägers mit Beschluss vom 2. Juli 2020 teilweise statt und stellte fest, dass der Auflagenbescheid rechtswidrig gewesen sei, weil er keine ausreichenden Auflagen zum Schutz der vom Kläger betriebenen Ponyreitbahn enthalten habe. Dem Kläger hätten angesichts der von den Versammlungsteilnehmern beabsichtigten optischen Barriere vor der Ponyreitbahn an besonders besucherstarken Tagen erhebliche wirtschaftliche Einbußen gedroht, die über das im Lichte der Versammlungsfreiheit Zumutbare hinausgingen. Daher habe zur Herstellung der praktischen Konkordanz ein behördlicher Regelungs- und Konfliktbewältigungsbedarf bestanden, den die Polizeibehörde nur unzureichend berücksichtigt habe. Ihr Entschließungsermessen sei dahingehend auf Null reduziert gewesen, dass weitergehende Auflagen hätten erlassen werden müssen. Dem Kläger habe ein Anspruch auf Neubescheidung über die Ergänzung des Auflagenbescheids, nicht aber auf Erlass der von ihm konkret beantragten Auflagen (Verlagerung der Versammlung vor das Kirmesgelände, Reduzierung der Anzahl der Versammlungen und Einhaltung eines Mindestabstands) zugestanden.
Rz. 5
Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat der beschließende Senat mit Beschluss vom 8. Januar 2021 - 6 B 48.20 - (NWVBl. 2021, 239) die Berufungsentscheidung wegen eines Aufklärungsmangels aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen.
Rz. 6
Mit Urteil vom 7. Juni 2022 hat das Oberverwaltungsgericht erneut entschieden, dass der Auflagenbescheid vom 18. April 2017 rechtswidrig gewesen sei, weil er keine ausreichenden Auflagen zum Schutz der vom Kläger betriebenen Ponyreitbahn enthalten habe; im Übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Die Fortsetzungsfeststellungsklage sei zulässig, da der Kläger unter dem Aspekt der Wiederholungsgefahr ein berechtigtes Interesse an der Feststellung besitze, ob und ggf. inwieweit der Beklagte den erledigten Auflagenbescheid vom 18. April 2017 in der begehrten Weise hätte ergänzen müssen. Denn der Kläger wolle auch in den kommenden Jahren mit seiner Ponyreitbahn an der...kirmes teilnehmen. Die Beigeladene habe ihre Absicht bekundet, auch in Zukunft Versammlungen vor der Ponyreitbahn durchzuführen. Schließlich werde der Beklagte künftige versammlungsrechtliche Bescheide u. a. von dem Ausgang des vorliegenden Verfahrens abhängig machen. Die Klage sei aber nur teilweise begründet, da der Kläger keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Erlass der in den Klageanträgen genannten Auflagen gehabt habe. Allerdings habe er beanspruchen können, dass der Beklagte den Auflagenbescheid mit weiteren, in seinem Auswahlermessen stehenden Auflagen versehe, um die tatsächlichen Beeinträchtigungen des Ponyreitbetriebs durch die Versammlungen der Beigeladenen auf ein zumutbares Maß zu reduzieren.
Rz. 7
Das Berufungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Dagegen wendet sich die Beigeladene mit der Beschwerde, die von dem Beklagten unterstützt wird.
II
Rz. 8
Die zulässige Beschwerde der Beigeladenen hat in der Sache keinen Erfolg.
Rz. 9
1. Die Beschwerde ist zulässig, da die Beigeladene durch die Sachentscheidung des Berufungsgerichts beschwert ist. Die Beschwerdeberechtigung eines Beigeladenen erfordert eine materielle Beschwer (BVerwG, Urteile vom 31. Januar 1969 - 4 C 83.66 - BVerwGE 31, 233 ≪235≫ und vom 19. Mai 2005 - 6 C 14.04 - BVerwGE 123, 362 ≪364≫; Beschluss vom 6. März 2019 - 6 B 135.18 - NVwZ-RR 2019, 610 Rn. 17). Diese liegt vor, wenn die mit seiner Stellung als Beteiligter einhergehende Bindung an ein rechtskräftiges Urteil gemäß § 121 Nr. 1 i. V. m. § 63 Nr. 3 VwGO für ihn von sachlicher Bedeutung ist, der Beigeladene somit geltend machen kann, aufgrund der Bindungswirkung des angefochtenen Urteils möglicherweise präjudiziell und unmittelbar in eigenen Rechten bzw. rechtlich geschützten Interessen beeinträchtigt zu werden (BVerwG, Urteile vom 16. September 1981 - 8 C 1.81 - BVerwGE 64, 67 ≪69≫ und vom 14. März 2018 - 10 C 3.17 - LKV 2018, 315 Rn. 12). Das ist hier der Fall.
Rz. 10
2. Die auf das Vorliegen von Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde der Beigeladenen ist unbegründet, denn das Berufungsgericht hat weder § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (a)) noch § 88 VwGO (b)) oder den in § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO enthaltenen Überzeugungsgrundsatz (c)) verletzt.
Rz. 11
a) Die Beigeladene rügt, das Berufungsgericht habe das Fortsetzungsfeststellungsinteresse in verfahrensfehlerhafter Weise bejaht. Zum einen sei § 15 Abs. 1 VersG als bundesrechtliche Grundlage des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Einschreiten der Versammlungsbehörde in Nordrhein-Westfalen mit Inkrafttreten des nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetzes im Januar 2022 außer Kraft getreten. Auflagen für Versammlungen unter freiem Himmel könnten in Zukunft nur noch aufgrund der landesrechtlichen Vorschrift des § 13 VersG NRW getroffen werden. Zu Unrecht habe das Oberverwaltungsgericht auch die tatsächlichen Voraussetzungen der Wiederholungsgefahr bejaht. Es sei nicht zu erwarten, dass sich das Geschehen genauso wiederhole, denn seit dem Jahr 2019 werde auf der der Ponyreitbahn gegenüberliegenden Seite des Geländes eine Lücke für die Versammlungen der Beigeladenen freigehalten. Damit stehe für Demonstrationen weit mehr Raum zur Verfügung. Zudem habe die Beigeladene zuletzt nur die Hälfte der Front der Ponyreitbahn für ihre Versammlungen beansprucht, wodurch sich die Beeinträchtigung um ein Vielfaches reduziert habe. Dieses Vorbringen ist zwar im Rahmen einer Verfahrensrüge statthaft, belegt aber keine Verletzung des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO.
Rz. 12
Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass ein Gericht, das eine Fortsetzungsfeststellungsklage mangels berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts durch Prozessurteil abweist, verfahrensfehlerhaft i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO handelt, wenn in der Sache hätte entschieden werden müssen (BVerwG, Beschlüsse vom 16. Oktober 1989 - 7 B 108.89 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 211 S. 41; vom 4. Oktober 2006 - 6 B 64.06 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 36 Rn. 9 und vom 14. Dezember 2018 - 6 B 133.18 - NVwZ 2019, 649 Rn. 9). Auch in der umgekehrten Fallkonstellation, in der die Vorinstanz das Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu Unrecht bejaht, liegt ein Verfahrensmangel i. S. d. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor. Denn dann wäre dem Gericht eine Entscheidung durch Sachurteil nicht eröffnet gewesen, sondern es hätte ein Prozessurteil fällen müssen. Angesichts der den gerichtlichen Sachausspruch erfassenden Rechtskraftwirkung wird ein Beigeladener durch das verfahrensfehlerhaft ergangene Sachurteil grundsätzlich auch in seinen subjektiven Verfahrensrechten verletzt.
Rz. 13
Im vorliegenden Fall hat das Berufungsgericht jedoch das Fortsetzungsfeststellungsinteresse zutreffend mit Blick auf die Fallgruppe einer Wiederholungsgefahr bejaht. Ein mit der drohenden Wiederholung eines erledigten Verwaltungsakts begründetes berechtigtes Interesse an der Feststellung von dessen Rechtswidrigkeit setzt die konkrete oder hinreichend bestimmte (BVerwG, Urteil vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 - BVerwGE 146, 303 Rn. 21; Beschluss vom 17. Dezember 2019 - 9 B 52.18 - NVwZ-RR 2020, 331 Rn. 9) Gefahr voraus, dass unter im Wesentlichen unveränderten tatsächlichen und rechtlichen Umständen ein gleichartiger Verwaltungsakt ergehen wird (BVerwG, Urteile vom 25. November 1986 - 1 C 10.86 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 162 und vom 3. Juni 1988 - 8 C 18.87 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 181; Beschlüsse vom 16. Oktober 1989 - 7 B 108.89 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 211 und vom 26. April 1993 - 4 B 31.93 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 255). Das Gleiche gilt für das einem Betroffenen drohende Nichteinschreiten einer Behörde u. a. in einer sich wiederholt abzeichnenden Gefahrensituation. Auch dann müssen die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse, die für den angegriffenen Verwaltungsakt - bzw. seinen Nichterlass - maßgebend waren, im Zeitpunkt der künftig zu erwartenden behördlichen Entscheidung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Wesentlichen unverändert geblieben sein (vgl. BVerwG, Urteile vom 24. August 1979 - 1 B 76.76 - Buchholz 402.24 § 2 AuslG Nr. 16 und vom 16. Mai 2013 - 8 C 14.12 - BVerwGE 146, 303 Rn. 21; Beschluss vom 26. April 1993 - 4 B 31.93 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 255). Dem zukünftigen behördlichen Vorgehen müssen allerdings nicht in allen Einzelheiten die gleichen Umstände zugrunde liegen. Für das Feststellungsinteresse ist entscheidend, ob die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen künftigen Verwaltungshandelns unter Anwendung der dafür maßgeblichen Rechtsvorschriften geklärt werden können (BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2007 - 6 C 47.06 - NVwZ 2008, 571 Rn. 13; Beschluss vom 21. Oktober 1999 - 1 B 37.99 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 7). Ist hingegen ungewiss, ob in Zukunft noch einmal die gleichen tatsächlichen Verhältnisse eintreten wie im Zeitpunkt des Erlasses des erledigten Verwaltungsaktes, kann das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht aus einer Wiederholungsgefahr hergeleitet werden (BVerwG, Urteile vom 25. November 1986 - 1 C 10.86 - Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 162 und vom 12. Oktober 2006 - 4 C 12.04 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 23 Rn. 8).
Rz. 14
Diesen Maßstab zugrunde gelegt hat der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Rechtswidrigkeitsfeststellung der Entscheidung des Beklagten, keine weiteren versammlungsrechtlichen Auflagen zum Schutz seines Betriebs getroffen zu haben. Wenn die Beschwerde anführt, in Nordrhein-Westfalen sei mit Wirkung zum 7. Januar 2022 das (Bundes-)Versammlungsgesetz durch das Versammlungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen ersetzt worden (Art. 1 des Gesetzes zur Einführung eines nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetzes und zur Änderung weiterer Vorschriften vom 17. Dezember 2021, GV. NRW. 2022 S. 2), stellt diese Rechtsänderung das Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers nicht infrage. Zwar ist der Tatbestand des § 13 Abs. 1 VersG NRW hinsichtlich des auf die öffentliche Sicherheit beschränkten Schutzgutes enger als der des § 15 Abs. 1 VersG, der auch die öffentliche Ordnung erfasst. Die in § 15 Abs. 1 VersG enthaltene, auf den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG bezogene Ermächtigung darf aber nach der Rechtsprechung nicht zu einer Ausweitung der in der Rechtsordnung enthaltenen Schranken des Inhalts von Meinungsäußerungen führen, die durch den Gesetzgeber immer nur dann beschränkt worden sind, wenn zugleich sonstige Rechtsgüter verletzt werden (BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2004 - 1 BvQ 19/04 - BVerfGE 111, 147 ≪156≫). Zu diesen Rechtsgütern, die bei der behördlichen Entscheidung über die Verfügung von Auflagen anlässlich einer Versammlung zu berücksichtigen sind, gehört auch die grundrechtlich in Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Klägers. Somit ist bei den gegen den Gewerbebetrieb des Klägers gerichteten Versammlungen der Beigeladenen immer auch das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit berührt. Demzufolge hat das Inkrafttreten des nordrhein-westfälischen Versammlungsgesetzes in der hier vorliegenden Fallkonstellation die Rechtslage nicht derart verändert, dass das Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers aus Rechtsgründen nicht als berechtigt anzusehen wäre.
Rz. 15
In tatsächlicher Hinsicht überspannt das Vorbringen der Beschwerde den Maßstab für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr.
Rz. 16
Die von der Beigeladenen vorgebrachten tatsächlichen Modifikationen bei den zuletzt von ihr durchgeführten Versammlungen sind zum einen nicht so bedeutend, dass sie die Schwelle einer wesentlichen Veränderung überschritten. Der Umstand, dass die Stadt K. seit dem Jahre 2019 eine Freifläche gegenüber der Ponyreitbahn für die Versammlungen der Beigeladenen freihält, führt zwar zu mehr Raum. An dem für die Versammlungsbehörde bestehenden Regelungs- und Konfliktbewältigungsbedarf wird jedoch weder hierdurch noch durch die von der Beigeladenen reduzierte Beanspruchung der Front des Reitbetriebs für ihre Versammlungen etwas Wesentliches geändert. Auch die Beteiligten gehen von fortdauernden Konflikten aus, die mit den Mitteln des Versammlungsrechts bewältigt werden müssen. Dem zukünftigen behördlichen Vorgehen müssen nicht in allen Einzelheiten die gleichen Umstände wie in der Vergangenheit zugrunde liegen. Vielmehr reicht es aus, dass ein gerichtliches Feststellungsurteil noch einen relevanten Ertrag für die rechtliche Beurteilung der in Zukunft gegebenen Sachlage zu erbringen vermag. Das ist hier offensichtlich der Fall. Eine Wiederholungsgefahr in vorliegender Situation zu verneinen, in der die Beteiligten ihr Verhalten im Wesentlichen unverändert fortführen bzw. an dem Ausgang dieses Verfahrens ausrichten wollen, wäre mit Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren.
Rz. 17
Zum anderen spricht die Beigeladene dem Kläger das Feststellungsinteresse unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab, wonach ein Feststellungsinteresse unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr ab dem Zeitpunkt nicht mehr besteht, in dem die Behörde erneut gehandelt und sich dadurch die Gefahr des erneuten Erlasses eines gleichartigen Verwaltungsakts gleichsam realisiert hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 2022 - 8 B 1.22 - juris Rn. 6). Denn nach den Versammlungen im Frühjahr 2017 habe es auch in den Folgejahren weitere Versammlungen der Beigeladenen auf der Kirmes gegeben, ohne dass die Beklagte deshalb die vom Kläger begehrten Auflagen gegen die Versammlungen der Beigeladenen erlassen hätte. Dieses Vorbringen der Beschwerde geht fehl. Denn der von ihr angeführte Rechtssatz beansprucht in einer Situation, die wie die vorliegende von halbjährlich wiederkehrenden Veranstaltungen mit sich wiederholenden Protestaktionen geprägt ist, ersichtlich keine Geltung. Gerade in einer solchen Konstellation muss es zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes möglich sein, das behördliche Handeln zu kontrollieren.
Rz. 18
b) Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsgericht habe § 88 VwGO verletzt, da es mit dem tenorierten Feststellungsausspruch über das Klagebegehren hinausgegangen sei. Der Kläger habe im Berufungsverfahren ausdrücklich keinen Bescheidungsantrag gestellt, sondern die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheids vom 18. April 2017 nur insoweit beantragt, als der Beklagte die von ihm begehrten Auflagen nicht festgesetzt habe. Die Rüge greift nicht durch.
Rz. 19
Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Es hat vielmehr das tatsächliche Rechtsschutzbegehren zu ermitteln. Maßgebend für dessen Umfang ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel. Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) heranzuziehen. Entscheidend ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und den sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück. Ist der Kläger im Verwaltungsprozess anwaltlich vertreten, kommt der Fassung des Klageantrags bei der Ermittlung des tatsächlich Gewollten zwar gesteigerte Bedeutung zu. Weicht das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung jedoch eindeutig ab, darf auch im Falle anwaltlicher Vertretung die Auslegung vom Antragswortlaut abweichen (vgl. zusammenfassend BVerwG, Urteil vom 1. September 2016 - 4 C 4.15 - BVerwGE 156, 94 Rn. 9; Beschluss vom 12. Mai 2020 - 6 B 53.19 - juris Rn. 3).
Rz. 20
Das Berufungsgericht ist bei seiner Auslegung des vom Kläger gestellten Berufungsantrags (UA S. 35 f.) zutreffend davon ausgegangen, dass ein Verpflichtungsbegehren regelmäßig als Minus auch einen Bescheidungsantrag enthält (BVerwG, Urteil vom 31. März 2004 - 6 C 11.03 - BVerwGE 120, 263 ≪275 f.≫). Daher erweist sich allein der Umstand, dass der Kläger keinen expliziten Bescheidungsantrag gestellt und seine Berufung auch insoweit nicht näher begründet hat, für die Annahme der Beschwerde als unergiebig. Die von der Beigeladenen angeführten weiteren Gründe belegen nicht, dass ein Bescheidungsantrag nicht seinem wirklichen Rechtsschutzziel entsprochen hätte. Gerade die aus der Klagebegründung deutlich werdende Interessenlage spricht vielmehr dafür, dass das Klageziel darauf gerichtet war, die von den Versammlungen für seinen Ponyreitbetrieb ausgehenden Beeinträchtigungen durch versammlungsrechtliche Auflagen oder Beschränkungen zu minimieren. Ein sachlicher Grund, weshalb es dem Kläger nur auf die von ihm in dem Haupt- sowie den beiden Hilfsanträgen genannten konkreten Maßnahmen angekommen sein sollte, ist nicht erkennbar. Nachdem das Berufungsgericht im Beschluss vom 2. Juli 2020 bereits davon ausgegangen war, dass der klägerische Antrag als Minus ein Bescheidungsbegehren enthält, bestand für den Kläger auch keine Veranlassung, im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 7. Juni 2022 ausdrücklich zusätzlich einen Bescheidungsantrag zu stellen.
Rz. 21
c) Die Beschwerde rügt schließlich die Benennung des beschränkten Megafoneinsatzes als möglichen Auflageninhalt im Berufungsurteil (UA S. 34 f.). Diese Feststellung sei aktenwidrig, da der Beklagte in Ziffer 2 des Bescheids vom 18. April 2017 die Nutzung technischer Schallverstärker vollständig untersagt habe. Mit diesem Vorbringen verkennt die Beschwerde die diesbezüglichen Ausführungen der Vorinstanz in dem angefochtenen Urteil (UA S. 34 f.): Das Berufungsgericht hat dort den zeitlich begrenzten Megafoneinsatz nicht als Inhalt möglicher Auflagen, sondern als ein Element zur Beschreibung der Art und Weise genannt, wie die Versammlungen tatsächlich durchgeführt worden sind. Insoweit räumt die Beschwerde selbst ein, dass der Beigeladenen der Megafoneinsatz trotz der vollständigen Untersagung des Einsatzes technischer Schallverstärker im Bescheid vom 18. April 2017 wegen ihres Teilerfolgs im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (VG Düsseldorf, Beschluss vom 10. Mai 2017 - 18 L 2131/17 -) tatsächlich möglich war.
Rz. 22
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO). Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG.
Fundstellen
Haufe-Index 15555042 |
DÖV 2023, 404 |
JZ 2023, 177 |
BayVBl. 2023, 605 |
DVBl. 2023, 349 |