Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 16.06.2023; Aktenzeichen 7 A 2635/21) |
VG Köln (Entscheidung vom 08.09.2021; Aktenzeichen 23 K 7046/18) |
Tenor
Der Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren und ein Revisionsverfahren wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Juni 2023 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen. Die Entscheidung über die Prozesskostenhilfe ergeht gerichtsgebührenfrei; außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Gründe
Rz. 1
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten ist unbegründet, weil die Nichtzulassungsbeschwerde aus den nachfolgend dargelegten Gründen keine Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i. V. m. § 114 Abs. 1 Satz 1 und § 121 Abs. 1 ZPO) und folglich ein Revisionsverfahren nicht stattfindet.
Rz. 2
2. Der auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Antrag hat keinen Erfolg.
Rz. 3
a) Mit der Divergenzrüge dringt die Beschwerde nicht durch.
Rz. 4
Nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist die Revision zuzulassen, wenn das Urteil von einer Entscheidung (u. a.) des Bundesverwaltungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Diese Abweichung setzt einen Widerspruch in einem abstrakten Rechtssatz voraus, also einen prinzipiellen Auffassungsunterschied über den Bedeutungsgehalt einer bestimmten Rechtsvorschrift oder eines Rechtsgrundsatzes (BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 2017 - 6 B 43.17 - Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 198 Rn. 4). In der Beschwerdebegründung muss nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO die Entscheidung bezeichnet werden, von der das Urteil abweicht. Der Beschwerde obliegt es, aus einer Entscheidung des Divergenzgerichts einen tragenden, abstrakten Rechtssatz zu einer revisiblen Rechtsvorschrift zu benennen und darzulegen, dass die Entscheidung der Vorinstanz auf einem abweichenden abstrakten Rechtssatz zu derselben Rechtsvorschrift beruht. Der Vorwurf, die Vorinstanz habe einen abstrakten Rechtssatz des Divergenzgerichts fehlerhaft oder gar nicht angewandt, genügt dagegen nicht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 ≪n. F.≫ VwGO Nr. 26 S. 14).
Rz. 5
Eine hiernach beachtliche Abweichung zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts legt die Beschwerde nicht dar. Sie nimmt Bezug auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. Januar 1987 - 1 B 219.86 - (NVwZ 1988, 250 S. 251). Danach kann die Unterbindung einer Versammlung auch in den Fällen ausschließlich auf § 15 Abs. 2 VersG a. F. (nunmehr § 15 Abs. 3 VersG i. d. F. des Gesetzes vom 24. März 2005, BGBl. I S. 969) gestützt werden, in denen die Auflösung der Versammlung den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG nicht berührt. Dem setzt die Beschwerde die Aussage im angegriffenen Urteil entgegen, wonach ein Vorrang des Versammlungsgesetzes mit der Folge, dass der Rückgriff auf baurechtliche Ermächtigungsgrundlagen versperrt wäre, nicht besteht, weil mangels Friedlichkeit keine durch Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlung vorliegt.
Rz. 6
aa) Der so begründeten, auf die Reichweite der Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes bezogenen Divergenzrüge bleibt allerdings nicht bereits deswegen der Erfolg versagt, weil die dem benannten Rechtssatz in der Divergenzentscheidung zugrunde liegende Rechtslage sich zwischenzeitlich geändert hat.
Rz. 7
Es kann dahinstehen, ob wegen der inhaltlichen Nähe von Grundsatz- und Divergenzrevision die zur Grundsatzrüge entwickelten Maßstäbe zum Ausschluss der Revisionszulassung bei ausgelaufenem - d. h. im Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde bereits außer Kraft getretenem - Recht und bei auslaufendem - d. h. in Kürze außer Kraft tretendem - Recht auch bei der Divergenzrüge heranzuziehen sind, oder ob dies angesichts des von der Divergenzrevision auch verfolgten Ziels der Wahrung der Rechtsanwendungsgleichheit nicht in Betracht kommt (siehe dazu BVerwG, Beschlüsse vom 27. Februar 1997 - 5 B 155.96 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 15 S. 22 und vom 15. Oktober 2009 - 1 B 3.09 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 18 Rn. 9). Denn von ausgelaufenem oder auslaufendem Recht kann hier nicht ausgegangen werden.
Rz. 8
Das (Bundes-)Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz - VersG) i. d. F. der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789) mit nachfolgenden Änderungen gilt nach dem Wegfall der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit für das Versammlungsrecht in Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a. F. (Gesetz vom 28. August 2006, BGBl. I S. 2034) gemäß Art. 125a Abs. 1 GG als Bundesrecht fort und kann durch Landesrecht ersetzt werden. Von dieser Befugnis hat mittlerweile auch der Landesgesetzgeber in Nordrhein-Westfalen mit Gesetz vom 17. Dezember 2021 (Versammlungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen - VersG NRW -, GV. NRW. 2022 S. 2) Gebrauch gemacht und diese Materie in eigener Verantwortung geregelt (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Juni 2004 - 1 BvR 636/02 - BVerfGE 111, 10 ≪30≫). Er hat dabei gemäß § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 Nr. 1 VersG NRW die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Versammlungsrechts im Anschluss an die verfassungsrechtliche Gewährleistung nach Art. 8 Abs. 1 GG dem Friedlichkeitsvorbehalt unterworfen (vgl. Thiel/Pietsch, in: Möstl/Kugelmann, BeckOK Polizei- und Ordnungsrecht NRW, Stand Februar 2024, § 1 VersG NRW Rn. 71). Ungeachtet dieser auf das Land Nordrhein-Westfalen bezogenen Änderung der Rechtslage gilt das Versammlungsgesetz des Bundes in einer ganzen Reihe von Bundesländern, die ihre Ersetzungsbefugnis noch nicht - auch nicht teilweise - ausgenutzt haben, weiterhin als partielles (partikulares) Bundesrecht (Uhle, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand Januar 2024, Art. 125a Rn. 31; Wollenschläger, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum GG, Stand April 2024, Art. 125a Rn. 53) und ist insoweit nicht ausgelaufenes Recht. Allein das auch diesen Ländern zustehende Zugriffsrecht auf das Versammlungsrecht macht das Versammlungsgesetz des Bundes nicht zu auslaufendem Recht. Insoweit unterscheidet sich dieses Gesetz nicht von sonstigem Bundesrecht, das ebenfalls nur so lange fortgilt, als der Gesetzgeber untätig bleibt.
Rz. 9
bb) Mit dem genannten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts ist aber deswegen keine nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO beachtliche Divergenz bezeichnet, weil er mit der Annahme einer umfassenden Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes gegenüber der Anwendung landesrechtlicher Ermächtigungsgrundlagen in zweifacher Hinsicht nicht mehr dem Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung entspricht. Eine Abweichung von einer Rechtsprechung, an der das Bundesverwaltungsgericht in späteren Entscheidungen nicht mehr festgehalten hat, begründet keine Divergenzrevision. Denn die Rechtseinheit ist nicht gefährdet, wenn die Entscheidung, von der abgewichen wird, zwischenzeitlich überholt ist (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 11. April 2002 - 4 C 4.01 - BVerwGE 116, 169 ≪173≫; Beschlüsse vom 2. Februar 1994 - 1 B 208.93 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 1, vom 9. Juli 2019 - 6 B 2.18 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 31 Rn. 13 sowie vom 9. März 2021 - 2 B 6.21 - Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 86 Rn. 6).
Rz. 10
(1) Den von der Beschwerde zitierten Ausführungen im Beschluss vom 14. Januar 1987 - 1 B 219.86 - (NVwZ 1988, 250) liegt die Auffassung zugrunde, das Versammlungsgesetz regele nicht lediglich im Sinne von Art. 8 Abs. 2 GG Beschränkungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit, sondern stelle die - seinerzeit nach Maßgabe der Art. 70 und 72 GG a. F. landesrechtliche Regelungen ausschließende - umfassende bundesgesetzliche Ordnung des Versammlungswesens dar, was insbesondere für § 15 Abs. 2 VersG a. F. (nunmehr § 15 Abs. 3 VersG) gelte. Von dieser sehr weit verstandenen Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes als einer Ausprägung des Vorrangs des speziellen Gesetzes ist das Bundesverwaltungsgericht seit geraumer Zeit abgerückt. Es hat mehrfach betont, die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes bedeute nicht, dass in die Versammlungsfreiheit nur auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes eingegriffen werden könne. Dieses Gesetz enthalte keine abschließende Regelung für die Abwehr aller Gefahren, die im Zusammenhang mit Versammlungen auftreten könnten. Vielmehr sei das Versammlungswesen im Versammlungsgesetz nicht umfassend und vollständig, sondern nur teilweise und lückenhaft geregelt, sodass in Ermangelung einer speziellen Regelung auf das der allgemeinen Gefahrenabwehr dienende jeweilige landesrechtliche Ordnungsrecht zurückgegriffen werden müsse. Das gelte etwa in Bezug auf die Verhütung von Gefahren, die allein aus der Ansammlung einer Vielzahl von Menschen an einem dafür ungeeigneten Ort entstehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. November 2010 - 6 B 58.10 - Buchholz 402.44 VersG Nr. 18 Rn. 6; Urteil vom 27. März 2024 - 6 C 1.22 - juris Rn. 33 f. m. w. N.). Insoweit kann das Bauordnungsrecht einschlägig sein.
Rz. 11
(2) Auch soweit die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes - jedenfalls vorrangig hinsichtlich unmittelbar teilnehmerbezogener und insoweit auf den Ablauf einer Versammlung gerichteter Maßnahmen - in der Schutzwirkung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG wurzelt, ist die Reichweite des in § 15 Abs. 3 VersG zum Ausdruck kommenden Auflösungsvorbehalts einschränkend zu bestimmen. Im Gleichklang mit dem auf friedliche Versammlungen beschränkten Schutzbereich des Versammlungsgrundrechts besteht jedenfalls bei von Anfang an durchgehend unfriedlichen Versammlungen kein Vorrang dieser Vorschrift als lex specialis gegenüber dem landesrechtlichen Ordnungsrecht. Nimmt eine anfänglich friedliche Versammlung in ihrem weiteren Verlauf einen unfriedlichen Charakter an, kann die für die Wahrnehmung des Grundrechts wesentliche Rechtssicherheit in diffusen Übergangssituationen den Erlass einer Auflösungsverfügung gebieten (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. März 2024 - 6 C 1.22 - juris Rn. 35 ff., 56, 64 ff.).
Rz. 12
b) Die allein auf die bereits in der Divergenzrüge angesprochene Fragestellung bezogene Grundsatzrüge nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO rechtfertigt ebenso wenig die Zulassung der Revision.
Rz. 13
Die Beschwerde möchte geklärt wissen,
ob eine - wegen Unfriedlichkeit oder Waffentragens - nicht grundrechtlich geschützte Versammlung aufzulösen ist, bevor aufgrund außerversammlungsrechtlichen Befugnisnormen Maßnahmen gegen die Versammlung getroffen werden dürfen.
Rz. 14
Diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie ist bezogen auf die dauerhafte Unfriedlichkeit der Versammlung in der Rechtsprechung, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, bereits geklärt. Ob sich hinsichtlich des Umschlagens einer anfänglich friedlichen Versammlung in eine unfriedliche wegen der Erfordernisse der Rechtssicherheit fallübergreifende und verallgemeinerungsfähige Maßstäbe - als Voraussetzung einer rechtsgrundsätzlichen Bedeutung - entwickeln ließen, kann dahinstehen. Denn tatsächliche Feststellungen, die für ein solches Umschlagen sprechen, hat das Oberverwaltungsgericht nicht getroffen.
Rz. 15
Die Ausführungen zur einfachgesetzlichen Spezialität des Versammlungsgesetzes in dem erst nach Ablauf der Begründungsfrist für die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingereichten Schriftsatz vom 26. Januar 2024 sind jedenfalls unbeachtlich, weil damit nicht lediglich - wie zulässig - ein rechtzeitig geltend gemachter Zulassungsgrund näher erläutert und verdeutlicht wird, sondern andere Fragenkreise angesprochen werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Februar 2022 - 4 B 25.21 - juris Rn. 10 m. w. N.).
Rz. 16
Die Kostenentscheidung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO, für das Prozesskostenhilfeverfahren auf § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 GKG, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO. Die
Rz. 17
Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Fundstellen
Dokument-Index HI16356249 |