Entscheidungsstichwort (Thema)
Erhöhung der zur Nachtzeit zugelassenen Betriebsleistung einer Windenergieanlage
Normenkette
BImSchG § 5 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
OVG für das Land NRW (Urteil vom 20.04.2022; Aktenzeichen 8 A 1575/19) |
VG Minden (Urteil vom 13.03.2019; Aktenzeichen 11 K 9958/17) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. April 2022 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 36 900 € festgesetzt.
Gründe
I
Rz. 1
Die Klägerin erstrebt eine immissionsschutzrechtliche Änderungsgenehmigung zur Erhöhung der zur Nachtzeit zugelassenen Betriebsleistung von zwei Windenergieanlagen. Der Antrag wurde vom Beklagten abgelehnt. Das Vorhaben rufe schädliche Umwelteinwirkungen durch Lärm hervor.
Rz. 2
Die auf Erteilung der Änderungsgenehmigung gerichtete Klage blieb sowohl vor dem Verwaltungsgericht als auch vor dem Oberverwaltungsgericht ohne Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin.
II
Rz. 3
Die auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 4
Grundsätzlich bedeutsam in diesem Sinne ist eine Rechtssache dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO dargelegt werden, dass und inwiefern diese Voraussetzungen vorliegen (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschluss vom 7. Oktober 2022 - 7 B 6.22 - juris Rn. 5). An diesen Voraussetzungen fehlt es hier.
Rz. 5
1. Die Klägerin misst folgender Frage grundsätzliche Bedeutung bei:
"Genügt es für die Annahme eines gesicherten Erkenntnisfortschritts, der die Bindungswirkung der TA Lärm (teilweise) entfallen lässt, dass die in der TA Lärm enthaltenen Aussagen und die ihnen zugrunde liegenden Einschätzungen, Bewertungen und Prognosen durch bessere - und insoweit gefestigte - Einsichten durchgreifend in Zweifel gezogen werden können, ohne dass an ihre Stelle bereits ein neuer, für sich genommen schon als abschließend zu bewertender Erkenntnisstand in Wissenschaft und Technik getreten sein muss?"
Rz. 6
Diese Frage führt nicht zur Zulassung der Revision. Sie ist nicht klärungsbedürftig. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Fragestellung, unter welchen Voraussetzungen normkonkretisierende Vorschriften - hier der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) vom 26. August 1998 (GMBl S. 503) - obsolet werden, bereits geklärt.
Rz. 7
Den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwirkungen (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG) konkretisiert für anlagenbezogene Lärmimmissionen die TA Lärm, der eine auch im gerichtlichen Verfahren zu beachtende Bindungswirkung zukommt (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 12. November 2020 - 4 A 13.18 - juris Rn. 46 m. w. N.). Wie vom Oberverwaltungsgericht zutreffend dargestellt, stellt das Abrücken von der Bindung an in der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift niedergelegten Standards hohe Anforderungen an die dafür erforderliche Tatsachengrundlage. Nur gesicherte Erkenntnisfortschritte in Wissenschaft und Technik können die Regelungen obsolet werden lassen, wenn sie den ihnen zugrunde liegenden Einschätzungen, Bewertungen und Prognosen den Boden entziehen (BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2001 - 7 C 21.00 - BVerwGE 114, 342 ≪346≫; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 7 A 11.11 - BVerwGE 143, 249 Rn. 27). In einem solchen Fall entsprechen die Regelungen nicht mehr den Vorgaben des Bundes-Immissionsschutzgesetzes und können, ohne dass es darauf ankäme, inwieweit wissenschaftliche Erkenntnisse zu brauchbaren Alternativen für eine Normanwendung oder gar Normkonkretisierung geführt haben, keine normkonkretisierende Funktion mehr entfalten (BVerwG, Beschluss vom 21. März 1996 - 7 B 164.95 - Buchholz 406.251 § 22 UVPG Nr. 4 S. 5).
Rz. 8
An der dargestellten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat sich auch das Oberverwaltungsgericht orientiert. Soweit es davon spricht, es genüge für den erforderlichen gesicherten Erkenntnisfortschritt, wenn in der TA Lärm enthaltene Aussagen durchgreifend in Zweifel gezogen seien, will es - im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats - lediglich verdeutlichen, dass der Verlust einer normkonkretisierenden Funktion nicht von der zusätzlichen Voraussetzung abhängt, dass bereits ein neuer und abschließender Erkenntnisstand erreicht sein muss.
Rz. 9
2. Die Klägerin hält auch die folgende Frage für rechtsgrundsätzlich:
"Kann ein Entfall der Bindungswirkung der TA Lärm auch dann angenommen werden, wenn der Normgeber der TA Lärm es trotz vermeintlich vorliegender neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse unterlässt, die TA Lärm in dem hierfür nach § 48 BImSchG vorgesehenen Verfahren förmlich zu ändern, und nach Bekanntwerden der LAI-Hinweise vom 30.06.2016, die auf dem Interimsverfahren beruhen, sogar noch eine Änderung der TA Lärm vornimmt, ohne die LAI-Hinweise hierbei in irgendeiner Form zu berücksichtigen?"
Rz. 10
Diese Frage kann ebenfalls ohne die Durchführung eines Revisionsverfahrens beantwortet werden. Aus der unter 1. dargelegten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ergibt sich, dass die Bindungswirkung einer Vorschrift der TA Lärm dann entfällt, wenn diese aufgrund gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse den Vorgaben des Bundes-Immissionsschutzgesetzes nicht mehr entspricht. Weiterer Voraussetzungen - namentlich eines Tätigwerdens des Normgebers - bedarf es nicht.
Rz. 11
3. Die Klägerin möchte in einem Revisionsverfahren auch Folgendes geklärt wissen:
"Können einem in einem reinen Wohngebiet unmittelbar am Rand zum Außenbereich gelegenen Wohnhaus - in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls - lediglich bis zu 5 dB(A) höhere Lärmimmissionen zugemutet werden oder erlaubt das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme in einer solchen Gemengelage im Einzelfall auch die Bildung eines um mehr als 5 dB(A), also eines noch weiter erhöhten Zwischenwerts?"
Rz. 12
Diese Frage rechtfertigt die Zulassung der Revision schon deshalb nicht, weil sie nicht entscheidungserheblich ist. Von einem (verallgemeinerungsfähigen) Rechtssatz, wonach eine Erhöhung des für reine Wohngebiete maßgeblichen Immissionsrichtwerts nur um höchstens 5 dB(A) in Betracht kommt, ist das Oberverwaltungsgericht nicht ausgegangen. Vielmehr hat es hinsichtlich verschiedener lärmbetroffener, innerhalb eines reinen Wohngebiets gelegener Grundstücke, die nach den getroffenen tatsächlichen Feststellungen in unterschiedlichem Maße (noch) durch den Außenbereich geprägt sind, unter entsprechender Anwendung von Nr. 6.7 TA Lärm (Gemengelagen) je nach deren jeweiliger konkreter örtlicher Lage und unter umfassender Würdigung der weiteren Umstände des Einzelfalls (weitgehend auf zwei Reihen begrenzte Bebauung nahezu ausschließlich aus freistehenden Einfamilienhäusern, sehr großzügig geschnittene Grundstücke, relativ geringe räumliche Ausdehnung des Wohngebiets) einzelfallbezogene Zwischenwerte gebildet. Lediglich informatorisch hat das Oberverwaltungsgericht ergänzend darauf hingewiesen, dass nach seiner eigenen und der Rechtsprechung anderer Gerichte einem Wohnhaus, das in einem reinen Wohngebiet unmittelbar am Rande des Außenbereichs gelegen ist, häufig - in Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls - bis zu 5 dB(A) höhere Lärmpegel zugemutet würden.
Rz. 13
4. Weiter möchte die Klägerin Folgendes in einem Revisionsverfahren klären lassen:
"Sollten einem in einem reinen Wohngebiet unmittelbar am Rande des Außenbereichs gelegenen Wohnhaus nur bis zu 5 dB(A) höhere Lärmimmissionen zugemutet werden, folgt hieraus, dass einer - abgeschirmt durch Bebauung - weiter zurückgesetzt liegenden Wohnbebauung 'in zweiter Reihe' (lediglich) die Erhöhung der für ein reines Wohngebiet maßgeblichen Immissionsrichtwerte um 3 dB(A) zugemutet werden können oder kann der Zwischenwert für eine Wohnbebauung 'in zweiter Reihe' im Einzelfall ebenfalls um mehr als 3 dB(A) erhöht sein?"
Rz. 14
Diese Frage ist - abgesehen von ihrer fehlenden Entscheidungserheblichkeit (siehe 3.) - in einem Revisionsverfahren nicht klärungsfähig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur TA Lärm sind Nutzungskonflikte infolge Lärmimmissionen in sogenannten Gemengelagen, d. h. in Bereichen, in denen Gebiete unterschiedlicher Qualität und Schutzwürdigkeit zusammentreffen, dem Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme entsprechend auszugleichen. Angesichts der Belastung der Grundstücksnutzung mit einer gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme ist eine Art "Mittelwert" zu bilden, der zwischen den Immissionsrichtwerten liegt, die für benachbarte Gebiete unterschiedlicher Nutzung und damit unterschiedlicher Schutzwürdigkeit - bei jeweils isolierter Betrachtung - vorgegeben sind. Dieser Ausgangspunkt darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Mittelwert der Sache nach das arithmetische Mittel zweier Richtwerte ist. Hiergegen steht bereits, dass die Lärmberechnung nicht auf arithmetischen, sondern auf logarithmischen Vorgaben beruht. Bei einem solchermaßen zu gewinnenden Mittelwert müssen zur Bestimmung der Zumutbarkeit zudem die Ortsüblichkeit und die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden (BVerwG, Beschluss vom 12. September 2007 - 7 B 24.07 - juris Rn. 4 m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 2. November 2017 - 4 B 58.17 - juris Rn. 2 und vom 7. Juni 2019 - 8 B 36.18 - juris Rn. 5, jeweils m. w. N.). Hieraus ergibt sich, dass eine schematisch-rechnerische Bildung verallgemeinerungsfähiger Zwischenwerte, die losgelöst von den jeweiligen tatsächlichen Umständen des Einzelfalls Geltung beanspruchen, nicht in Betracht kommt.
Rz. 15
Derartiges hat im Übrigen auch das Oberverwaltungsgericht nicht getan. Hinsichtlich von Wohnbebauung "der zweiten Reihe" hat es (wiederum) lediglich auf seine bisher ergangene Rechtsprechung hingewiesen, wonach in den dortigen Sachverhaltskonstellationen eine Erhöhung des Immissionsrichtwerts um 3 dB(A) für zumutbar erachtet wurde.
Rz. 16
5. Schließlich hält die Klägerin noch folgende Frage für klärungsbedürftig:
"Bedingt die Annahme eines Zwischenwertes bezogen auf eine Wohnbebauung in erster Reihe zum Außenbereich, dass hierdurch folgerichtig auch alle hierhinter gelegenen Grundstücke - unabhängig von der Frage, ob an diesen Grundstücken noch eine Außenbereichsprägung besteht oder nicht - erhöhte Immissionsrichtwerte gegen sich gelten lassen müssen?"
Rz. 17
Diese Frage lässt sich ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens - und unter Verweis auf die Ausführungen soeben unter 4. - dahingehend beantworten, dass die Bildung von Zwischenwerten in Gemengelagen stets unter Orientierung an den Umständen des Einzelfalls zu erfolgen hat. Dies gilt auch hinsichtlich einer vergleichenden Betrachtung der Schutzwürdigkeit verschiedener Grundstücke untereinander. Ein in der Frage der Klägerin thematisierter Automatismus dergestalt, dass eine verminderte Schutzwürdigkeit einer unmittelbar am Rand zum Außenbereich gelegenen Wohnbebauung (erste Reihe) unabhängig von den Umständen des Einzelfalls generell eine Minderung der Schutzwürdigkeit auch der dahinterliegenden weiteren Wohnbebauung (zweite und weitere Reihen) nach sich zieht, besteht danach nicht.
Rz. 18
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15602859 |