Entscheidungsstichwort (Thema)
Fall eines verfahrensfehlerhaften Prozessurteils wegen Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses, kein isolierter Fortbestand einer negativen Staatenbezeichnung bei Aufhebung der Abschiebungsandrohung im Übrigen (obiter dictum)
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Auslegung des Klageantrags ist das Gericht an den ausdrücklich und unmissverständlich erklärten Willen des Klägers gebunden. Es darf nicht über einen Gegenstand entscheiden, den der Kläger nicht zur Entscheidung des Gerichts gestellt hat.
2. Überwiegendes spricht dafür, dass eine sogenannte negative Staatenbezeichnung im Sinne der § 59 Abs. 3 Satz 2 und § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG nicht unabhängig von einer Abschiebungsandrohung Bestand haben kann.
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches OVG (Beschluss vom 13.09.2022; Aktenzeichen 1 LB 7/21) |
VG Schleswig-Holstein (Urteil vom 20.10.2020; Aktenzeichen 13 A 246/20) |
Tenor
Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 13. September 2022 wird geändert. Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 20. Oktober 2020 wird insoweit aufgehoben, als darin Nummer 3 Satz 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Juni 2020 aufgehoben wird.
Die Beklagte trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Die am 9. April 2020 im Bundesgebiet geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige und wendet sich gegen die gerichtliche Aufhebung der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), dass sie nicht in den Irak abgeschoben werden darf.
Rz. 2
Den Eltern der Klägerin war in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt worden. Sie reisten im Mai 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten für sich und ihre weiteren fünf Kinder einen Asylantrag, den das Bundesamt im Juli 2019 wegen der Schutzgewährung in Griechenland gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ablehnte. Die hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg.
Rz. 3
In dem nach Anzeige der Geburt der Klägerin am 2. Juni 2020 gemäß § 14a Abs. 2 AsylG eingeleiteten Asylverfahren lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 12. Juni 2020 den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), forderte die Klägerin unter Fristsetzung zur Ausreise auf und drohte ihr die Abschiebung nach Griechenland oder in einen aufnahmebereiten Staat an (Nr. 3 Satz 1 bis 3), stellte gleichzeitig fest, dass sie nicht in den Irak abgeschoben werden darf (Nr. 3 Satz 4, im Folgenden "negative Staatenbezeichnung") und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i. V. m. Art. 20 Abs. 3 Satz 3 Dublin III - VO unzulässig. Die humanitären Bedingungen für anerkannte Flüchtlinge in Griechenland begründeten nicht die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Art. 3 EMRK, Art. 4 GRC und ein Abschiebungsverbot bezüglich Griechenland sei nicht festzustellen. Einer Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten bezüglich des Herkunftsstaates Irak bedürfe es nicht.
Rz. 4
Auf die dagegen gerichtete Klage, mit der die Klägerin die Aufhebung des Bescheides vom 12. Juni 2020 mit Ausnahme der negativen Staatenbezeichnung begehrte, hat das Verwaltungsgericht den Bescheid vom 12. Juni 2020 insgesamt aufgehoben. Der Klageantrag sei sinngemäß als zulässiger Antrag auf vollständige Aufhebung des Bescheides aufzufassen, weil es sich bei der negativen Staatenbezeichnung um einen untrennbaren Teil der Abschiebungsandrohung handele, die keinem eigenständigen prozessualen Schicksal zugänglich sei. Die Ablehnung des Asylantrags eines in Deutschland nachgeborenen Kindes von international schutzberechtigten Eltern als unzulässig sei rechtswidrig.
Rz. 5
Mit Beschluss vom 13. September 2022 hat das Oberverwaltungsgericht die Berufung der Klägerin gemäß § 125 Abs. 2 VwGO als unzulässig verworfen und die Revision zugelassen. Trotz formeller Beschwer fehle der Klägerin das Rechtsschutzinteresse, weil sie ihre Rechtsstellung mit der begehrten Entscheidung nicht verbessern könne. Die die Klägerin begünstigende negative Staatenbezeichnung bezüglich Irak könne nicht selbstständig bestehen bleiben. Sie sei fester Bestandteil der Abschiebungsandrohung und teile ihr rechtliches Schicksal. Die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheides sei nach dem objektiven Empfängerhorizont als einheitliche Regelung über den Ausspruch und die Reichweite der Abschiebungsandrohung zu verstehen. Zwar weise die Formulierung auf ein Abschiebungsverbot, das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten sei aber in Nr. 2 des Bescheides festgestellt worden und von dem vorsorglichen Ausschluss einer Abschiebung in den Herkunftsstaat bei unzulässigen Asylanträgen zu unterscheiden. Ohne die Abschiebungsandrohung wäre die negative Staatenbezeichnung auch nicht erlassen worden. Deren isolierte Aufrechterhaltung würde die Qualität der Bezeichnung ändern, ohne dass das Bundesamt das Vorliegen eines Abschiebungsverbots bezüglich Irak geprüft habe. Die Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung durch das Verwaltungsgericht habe zur Aufhebung der Abschiebungsandrohung mit all ihren Teilregelungen führen müssen, weil die Abschiebungsandrohung als Vollstreckungsmaßnahme das rechtliche Schicksal der Grundverfügung teile. Sie stelle einen einheitlichen, nicht teilbaren Streitgegenstand dar. Indem die Klägerin einen Anspruch auf Fortgeltung der negativen Staatenbezeichnung mit der Berufung weiterverfolge, sei das Rechtsmittel entweder auf eine unzulässige Klage oder auf eine Verschlechterung der erstinstanzlichen Entscheidung gerichtet, wofür jeweils kein Rechtsschutzinteresse bestehe.
Rz. 6
Zur Begründung ihrer Revision macht die Klägerin geltend, die Verwerfung der Berufung als unzulässig gemäß § 125 Abs. 2 VwGO begründe einen Verfahrensmangel. Durch die Aufhebung des gesamten Bescheides sei sie formell beschwert und es fehle ihr nicht an einem Rechtsschutzinteresse. Über den isolierten Fortbestand der Staatenbestimmung hätte das Berufungsgericht als Frage des materiellen Rechts in einem Berufungsurteil entscheiden müssen. Bei der Bestimmung des Staates, in den nicht abgeschoben werden dürfe, handele es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts um eine verselbstständigungsfähige Teilregelung, durch die sie ausschließlich begünstigt und die deshalb nie von ihrem Aufhebungsbegehren umfasst gewesen sei.
Rz. 7
Die Beklagte verteidigt den angefochtenen Beschluss.
Entscheidungsgründe
Rz. 8
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Die Berufungsentscheidung verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), indem sie die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen hat (1.). Der Senat kann selbst über die Begründetheit der Berufung entscheiden (2.). Dies führt zur Änderung des Berufungsbeschlusses und des erstinstanzlichen Urteils, weil die Vorinstanzen unter Verstoß gegen § 88 VwGO den Antrag der Klägerin als ein auf die vollständige Aufhebung der Abschiebungsandrohung einschließlich der negativen Staatenbezeichnung gerichtetes Begehren ausgelegt haben (3.).
Rz. 9
1. Das Oberverwaltungsgericht verletzt Bundesrecht, indem es die Berufung der Klägerin nach § 125 Abs. 2 VwGO als unzulässig verworfen hat.
Rz. 10
a. Das Oberverwaltungsgericht geht zunächst zutreffend davon aus, dass die Klägerin formell beschwert ist.
Rz. 11
Ihre Beschwer folgt aus der Divergenz zwischen Klageantrag und Urteilsausspruch. Das Verwaltungsgericht hat das Begehren der Klägerin entgegen ihrem ausdrücklichen schriftsätzlichen Vorbringen dahingehend ausgelegt, dass sie die vollständige Aufhebung des angefochtenen Bescheids einschließlich der negativen Staatenbezeichnung beantrage. Durch deren Aufhebung hat das Verwaltungsgericht über etwas entschieden, das nicht zu seiner Entscheidung gestellt war. Die Klägerin ist hierdurch belastet und muss daher auch die Möglichkeit haben, diese Entscheidung anzufechten (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 1990 - VI ZR 89/90 - NJW 1991, 703 ≪704≫).
Rz. 12
b. Das Oberverwaltungsgericht hat jedoch fehlerhaft das Rechtsschutzinteresse der Klägerin für eine Teilaufhebung mit der Begründung verneint, die Inanspruchnahme des Gerichts erweise sich mangels einer Verbesserung der Rechtsposition der Klägerin durch die begehrte Entscheidung als nutzlos.
Rz. 13
Das Rechtsschutzinteresse ist ungeschriebene Voraussetzung für die Zulässigkeit einer jeden Inanspruchnahme des Gerichts und ist insbesondere dann nicht gegeben, wenn der Erfolg des Rechtsbehelfs die Rechtsstellung desjenigen, der ihn einlegt, des Klägers nicht verbessern würde.
Rz. 14
Das Rechtsschutzinteresse ist in aller Regel keine gesondert zu prüfende Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels. Mit dem Erfordernis der Beschwer ist im Allgemeinen gewährleistet, dass das Rechtsmittel nicht eingelegt wird, ohne dass ein sachliches Bedürfnis des Rechtsmittelklägers hieran besteht. Die Beschwer ist das Rechtsschutzinteresse für die Rechtsmittelinstanz. Allenfalls kann bei ganz besonderer Sachlage eine Prüfung angezeigt sein, ob trotz Vorliegens der Beschwer eine unnötige, zweckwidrige oder missbräuchliche Beschreitung des vom Gesetz vorgesehenen Rechtsmittelweges anzunehmen ist. Das gilt etwa dann, wenn das Rechtsmittel nicht zur Beseitigung der Beschwer eingelegt wird (BVerwG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 6 B 1.14 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 70 Rn. 15 m. w. N.).
Rz. 15
Die Verneinung des Rechtsschutzinteresses durch das Oberverwaltungsgericht überspannt diese Anforderungen. Die von der Klägerin eingelegte Berufung stellt keine unnötige oder sonst zu missbilligende Beschreitung des Rechtswegs dar und zielt auch auf die Beseitigung ihrer durch die erstinstanzliche Entscheidung ausgelösten Beschwer. Denn im Fall des Erfolgs der Klage in dem von der Klägerin intendierten Umfang und unter Zugrundelegung ihrer Rechtsauffassung würde sich ihre Rechtsposition durch den Fortbestand der negativen Staatenbezeichnung verbessern. Es ist danach nicht in einer der Zulässigkeit der Berufung entgegenstehenden Weise gänzlich ausgeschlossen, dass die negative Staatenbezeichnung im Rahmen der vom Bundesamt infolge der Aufhebung des angefochtenen Bescheides noch zu treffenden Entscheidungen von rechtlicher Bedeutung ist.
Rz. 16
Das Oberverwaltungsgericht ist der Auffassung, die negative Staatenbezeichnung könne nicht isoliert von der Abschiebungsandrohung im Übrigen Bestand haben (BA S. 6); letztere sei im vorliegenden Fall gegenstandslos geworden und daher aufzuheben (BA S. 10). Diese Erwägungen betreffen indessen der Sache nach die im Rahmen der Begründetheit der Anfechtungsklage und orientiert am Maßstab des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu beantwortende Frage, ob der angefochtene Verwaltungsakt insgesamt oder nur teilweise der Aufhebung unterliegt. Dabei kommt es darauf an, ob der angefochtene Verwaltungsakt teilbar ist. Das ist der Fall, wenn die rechtlich unbedenklichen Teile nicht in einem untrennbaren inneren Zusammenhang mit dem rechtswidrigen Teil stehen, sondern als selbstständige Regelung weiter existieren können, ohne ihren ursprünglichen Bedeutungsgehalt zu verändern (BVerwG, Urteile vom 13. November 1997 - 3 C 33.96 - BVerwGE 105, 354 ≪358≫ und vom 20. August 1992 - 4 C 13.91 - Buchholz 407.4 § 5 FStrG Nr. 9).
Rz. 17
2. Der Senat kann über die Begründetheit der Berufung selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Nr. 1 VwGO). Das Revisionsgericht kann ein Sachurteil erlassen, wenn das Berufungsgericht die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen hat und die Sache spruchreif ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Juli 2023 - 2 C 7.22 - juris Rn. 57 ff., vom 12. September 2019 - 3 C 3.18 - BVerwGE 166, 265 Rn. 47 und vom 19. Februar 2015 - 9 CN 1.14 - Buchholz 424.01 § 58 FlurbG Nr. 5 Rn. 22; Eichberger, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand: März 2023, § 144 VwGO Rn. 83 m. w. N.). Die vom Oberverwaltungsgericht festgestellten Tatsachen reichen für eine eigene Entscheidung des Senats über die Begründetheit der Berufung aus.
Rz. 18
3. Die Berufung der Klägerin ist begründet. Unter Verstoß gegen § 88 VwGO hat das Verwaltungsgericht den von der Klägerin ausdrücklich gestellten Klageantrag auf Teilaufhebung der Abschiebungsandrohung (mit Ausnahme der negativen Staatenbezeichnung) als Antrag auf vollständige Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes ausgelegt und die Abschiebungsandrohung insgesamt aufgehoben. Ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt der Unteilbarkeit der negativen Staatenbezeichnung von der übrigen Abschiebungsandrohung hätte das Verwaltungsgericht den hierauf bezogenen Anfechtungsantrag abweisen müssen. Es hat jedoch eine Sachentscheidung zu einem Gegenstand getroffen, der nicht zu seiner Entscheidung gestellt war. Dies führt zur Änderung der Berufungsentscheidung und des erstinstanzlichen Urteils mit der Folge, dass die negative Staatenbezeichnung aus rein prozessrechtlichen Gründen Bestand hat.
Rz. 19
a. Die Auslegung des klägerischen Begehrens durch die Vorinstanzen im Sinne einer vollständigen Aufhebung des Bescheides (einschließlich der negativen Staatenbezeichnung) entgegen dem ausdrücklich auf eine Teilaufhebung beschränkten Antrag der Klägerin verstößt gegen § 88 VwGO. Ein solcher Verstoß ist im Revisionsverfahren unabhängig vom Vorliegen einer Verfahrensrüge von Amts wegen zu berücksichtigen (BVerwG, Urteile vom 22. Mai 2014 - 3 C 8.13 - BVerwGE 149, 343 Rn. 21 und vom 1. September 2016 - 4 C 4.15 - BVerwGE 156, 94 Rn. 11).
Rz. 20
§ 88 VwGO verpflichtet das Gericht, den Klageantrag sachgerecht in Übereinstimmung mit dem Rechtsschutzziel des Klägers auszulegen. Es ist nicht an die Fassung der Anträge gebunden, darf aber nicht über das Klagebegehren hinausgehen. Dabei ist es wegen der Dispositionsbefugnis des Klägers an dessen ausdrücklich und unmissverständlich erklärten Willen gebunden. Insbesondere ist es dem Gericht verwehrt, an die Stelle dessen, was eine Partei erklärtermaßen will, das zu setzen, was sie - nach Meinung des Gerichts - zur Verwirklichung ihres Bestrebens wollen sollte (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 - 8 C 5.12 - Buchholz 451.65 Börsenrecht Nr. 7; Beschluss vom 29. August 1989 - 8 B 9.89 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 17).
Rz. 21
Gemessen hieran war dem Verwaltungsgericht die von ihm vorgenommene Auslegung verwehrt. Die Klägerin hat sich im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht mehrfach schriftsätzlich gegen die Erstreckung ihres Klageantrags auf die negative Staatenbezeichnung gewandt und - auch nach Kenntnisnahme von der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts zur fehlenden Teilbarkeit im Gerichtsbescheid - auf der eingeschränkten Antragstellung ausdrücklich und unmissverständlich beharrt. Angesichts dieser klaren und nicht weiter auslegungsfähigen Äußerungen kann offenbleiben, inwieweit es bei einem die negative Staatenbezeichnung ausnehmenden Antrag auf Aufhebung einer Abschiebungsandrohung dem regelmäßigen Interesse des Ausländers entspricht, jedenfalls hilfsweise (für den Fall der Unteilbarkeit) auch die uneingeschränkte Aufhebung der Abschiebungsandrohung zu begehren. Das Verwaltungsgericht hätte daher lediglich über den Antrag, die Abschiebungsandrohung ohne die negative Staatenbezeichnung aufzuheben, entscheiden dürfen und auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung die Klage insoweit abweisen müssen. Diese Entscheidung kann allerdings auf die allein von der Klägerin eingelegten Rechtsmittel hin im Berufungs- und Revisionsrechtszug nicht nachgeholt werden (§§ 129, 141 Satz 1 VwGO), sodass es mit Ausnahme der negativen Staatenbezeichnung bei der Aufhebung des angefochtenen Bescheides - und damit auch der Abschiebungsandrohung im Übrigen (Nr. 3 Satz 1 bis 3 des Bescheides) - bleibt.
Rz. 22
b. Auch wenn der Senat danach nicht mehr abschließend darüber zu entscheiden brauchte, spricht Überwiegendes dafür, dass die Auffassung der Vorinstanzen, die negative Staatenbezeichnung könne bei Aufhebung der Abschiebungsandrohung im Übrigen nicht selbstständig fortbestehen, mit Bundesrecht im Einklang steht.
Rz. 23
Das Oberverwaltungsgericht dürfte zu Recht die Teilbarkeit einer mit einer negativen Staatenbestimmung verbundenen Abschiebungsandrohung verneint und damit eine Aufhebung nur der letzteren für nicht rechtmäßig erachtet haben. Eine Teilbarkeit setzt - wie bereits dargelegt - voraus, dass die rechtlich unbedenklichen Teile nicht in einem untrennbaren inneren Zusammenhang mit dem rechtswidrigen Teil stehen, sondern als selbstständige Regelung weiter existieren können, ohne ihren ursprünglichen Bedeutungsgehalt zu verändern. Das Bestehen eines derartigen inneren Zusammenhangs ist durch Auslegung zu ermitteln, bei der der Bedeutungsinhalt der Gesamtregelung in den Blick zu nehmen und zu fragen ist, ob die Behörde die (Rest-)Regelung auch isoliert erlassen hätte (BVerwG, Beschluss vom 2. Mai 2005 - 6 B 6.05 - juris Rn. 8; Decker, in: Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO, Stand: 1. Oktober 2023, § 113 Rn. 36).
Rz. 24
(1) Gemessen hieran dürfte die negative Staatenbezeichnung von der Androhung der Abschiebung unter Bestimmung einer Frist und der Bezeichnung eines Zielstaates gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG generell, jedenfalls aber im vorliegenden Fall nicht trennbar sein, sodass sie nur das Schicksal der genannten übrigen Bestandteile der Abschiebungsandrohung teilen kann.
Rz. 25
Bereits nach dem Wortlaut der - gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG auch für den Erlass der vorliegenden asylrechtlichen Abschiebungsandrohung maßgeblichen - § 60 Abs. 10 Satz 2 und § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann die negative Staatenbezeichnung nur "in der Androhung" erfolgen. Sie schränkt die Abschiebungsandrohung lediglich dahingehend ein, dass die Abschiebung in den negativ bezeichneten Staat nicht erfolgen darf. Kann aber im Fall der Aufhebung der Abschiebungsandrohung schon nicht in den bezeichneten Zielstaat abgeschoben werden, hat eine Regelung zur Einschränkung der Abschiebung keinen Anknüpfungspunkt und keinen sinnvollen Regelungsgehalt mehr.
Rz. 26
Dabei lässt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in den Urteilen vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - (BVerwGE 150, 29) und vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - (BVerwGE 164, 179) nicht den von der Revision gezogenen Schluss zu, es handele sich bei der negativen Staatenbezeichnung generell um eine von der Abschiebungsandrohung im Übrigen abtrennbare und selbstständig existenzfähige Teilregelung. In den beiden genannten Entscheidungen war den Klägern - anders als der Klägerin im vorliegenden Fall - jeweils in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union Flüchtlingsschutz zuerkannt worden, so dass eine negative Staatenbezeichnung nach § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG zu ergehen hatte. Sollten einzelne Formulierungen in diesen Urteilen (vgl. namentlich BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2019 - 1 C 15.18 - BVerwGE 164, 179 Rn. 7) im Sinne einer Bejahung der selbstständigen Existenzfähigkeit der negativen Staatenbezeichnung zu verstehen sein, hält der Senat hieran nicht fest.
Rz. 27
(2) Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass die Voraussetzungen für den Erlass einer gesetzlich vorgesehenen negativen Staatenbezeichnung auch unabhängig von der Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung von Anfang an nicht vorlagen. Das gilt im Hinblick auf § 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG deswegen, weil für die Klägerin kein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt wurde. Da der Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, ist über die - mit dem Flüchtlingsschutz übereinstimmenden - Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG keine inhaltliche Entscheidung ergangen. Eine ausländische Zuerkennung internationalen Schutzes im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG liegt in Bezug auf die Klägerin ebenfalls nicht vor. Das gälte auch dann, wenn der Auffassung der Klägerin zu folgen wäre, das Bundesamt habe mit seinem ausdrücklich auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützten Bescheid "der Sache nach" eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erlassen. Die Staatenbezeichnung konnte auch nicht auf § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG gestützt werden, weil sie sich nur auf Staaten beziehen kann, hinsichtlich derer ein Abschiebungsverbot festgestellt wurde. Dies war nicht der Fall; das Bundesamt hat in dem Bescheid vielmehr ausdrücklich ausgeführt, dass es über Abschiebungsverbote bezüglich des Herkunftsstaates Irak nicht zu entscheiden brauche.
Rz. 28
Mit der Aufnahme der negativen Staatenbezeichnung in den Bescheid wollte das Bundesamt daher keinem rechtlichen Gebot Rechnung tragen, sondern nur - als Vorsichtsmaßnahme - darauf hinweisen, dass es Abschiebungsverbote hinsichtlich des Herkunftsstaats nicht geprüft habe und die Klägerin deshalb dorthin nach dem damaligen Verfahrensstand nicht abgeschoben werden durfte. Der isolierte Fortbestand der negativen Staatenbezeichnung könnte dazu Anlass geben, sie im Sinne eines eigenständigen Abschiebungsverbots in den darin genannten Staat zu verstehen. Dies würde ihr einen geänderten Bedeutungsgehalt verleihen, den ihr das Bundesamt bei deren Erlass nicht beimessen wollte und auch nicht beigemessen hat.
Rz. 29
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Neben den der Beklagten bereits durch das Verwaltungsgericht auferlegten Kosten der ersten Instanz hat sie auch die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu tragen. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.
Fundstellen
Haufe-Index 16193338 |
NVwZ-RR 2024, 478 |
NVwZ-RR 2024, 5 |
DÖV 2024, 499 |
InfAuslR 2024, 167 |
JZ 2024, 146 |
VR 2024, 216 |
ZAR 2024, 213 |